# taz.de -- Israel nach dem 7. Oktober: Im Haus der Geiselfamilien
       
       > In Israel haben die Angehörigen von Hamas-Geiseln neue Aufnahmen von
       > verschleppten Frauen veröffentlicht – ein Besuch des „Geiselforums“ in
       > Tel Aviv.
       
 (IMG) Bild: Hanita Ramon bastelt, um die Geiseln freizubekommen
       
       TEL AVIV taz | Die Aufnahmen zeigen die letzten Momente, bevor die Hamas
       die fünf 19-jährigen israelischen Frauen entführt: Ihre Pyjamas sind mit
       Blut durchtränkt, ihre Hände gebunden. Die islamistischen Terroristen
       nennen sie Hunde, einer sagt: „Du bist so schön.“ Dann verschleppen sie die
       jungen Wehrpflichtigen an jenem 7. Oktober 2023 vom militärischen
       Außenposten Nahal Oz in Pick-up-Trucks über die Grenze in den Gazastreifen.
       
       230 Tage sind diese Szenen mittlerweile her, die von Bodycams aufgenommen
       wurden. Viele der Terroristen trugen Kameras, einige gerieten in Hände der
       israelischen Armee. [1][Die bislang unveröffentlichten Aufnahmen wurden am
       Mittwochabend vom „Hostage and Missing Families Forum“ geteilt], einem
       Zusammenschluss von Angehörigen der Geiseln. Die Angehörigen wollen den
       Druck auf Regierungschef Benjamin Netanjahu erhöhen, einen Deal mit der
       Hamas zu erreichen, der unter anderem die Befreiung der Geiseln vorsieht.
       
       Schon am Tag nach dem Anschlag, dem tödlichsten in der Geschichte Israels,
       bei dem mehr als 1.100 Menschen ermordet und rund 250 verschleppt wurden,
       hatten sich Angehörige der Geiseln zusammengeschlossen und das Forum
       gegründet. Inzwischen werden sie von tausenden Freiwilligen unterstützt,
       darunter Ärzt*innen, PR-Profis, Expert*innen für psychische Gesundheit,
       auch zwölf ehemalige Botschafter*innen.
       
       Einer von ihnen ist Daniel Shek, bis 2010 Botschafter in Paris. „Wir haben
       eine Diplomatie-Abteilung initiiert, um uns um die internationalen Aspekte
       der Arbeit zu kümmern“, sagt der 68-Jährige. 250 Delegationen mit
       Geiselangehörigen habe das Forum bereits ins Ausland geschickt.
       
       Macbook, Cappuccino und Vermisstenfotos 
       
       An einem Tag Mitte April sitzt Shek im Haus des „Hostage and Missing
       Families Forum“ in Tel Aviv. Wie ein unscheinbarer Büroblock im Bauhausstil
       sieht das Gebäude aus, bis auf das lange Transparent, das eine Säule vom
       Dach bis zur Straße drapiert. „Bring them home now“, steht darauf, „Bringt
       sie sofort nach Hause“. Gemeint sind die Geiseln. 128 sind noch in
       Geiselhaft, mindestens 39 von ihnen gelten allerdings bereits als tot.
       
       Inzwischen dienen sechs Etagen des Hauses, die ein Cyberunternehmen dem
       Forum geschenkt hat, als Zentrale des Forums. Junge Menschen mit Macbook
       und Cappuccino in der Hand laufen hin und her. Plakate an den Wänden mit
       Namen und Fotos der Vermissten erinnern aber daran, dass dies kein junges
       Start-up-Unternehmen ist.
       
       Nach Angaben des Forums gehen täglich bis zu eintausend Freiwillige ein und
       aus, um Soli-Bändchen zu basteln, Presseanfragen zu beantworten und
       Social-Media-Kanäle zu bespielen – alles, damit die Geiseln freikommen.
       „Vor sechs Monaten dachte keiner von uns, dass wir heute noch in dieser
       Situation stecken würden“, sagt Shek.
       
       Neben ihm sitzt Sharon Sharabi, 48 Jahre alt. Am 7. Oktober entführte die
       Hamas seine zwei Brüder Eli und Yossi. Sharabi ergänzt: „Wir haben keine
       Ahnung, wann das ein Ende haben wird.“ Shek und Sharabi sind ein
       ungewöhnliches Duo. Sie sind Freunde geworden, verbunden durch ihr
       Engagement. Sie sprechen mit einer Gruppe internationaler
       Medienschaffender, die ausgerechnet vom israelischen Außenministerium ins
       Haus des Forums eingeladen wurde. Immer wieder kritisiert das Forum die
       Kriegsführung der Regierung in Gaza, vor allem dafür, dass sie die
       Befreiung der Geiseln nicht priorisiert. Allein die Existenz des Forums
       deutet auf ein Versagen der Politik hin.
       
       „Wir sind eine zivilgesellschaftliche Organisation, wir haben eine
       ergänzende Beziehung zur Regierung“, erklärt Shek diplomatisch, „aber wir
       tun einige Dinge, die die Regierung selbst tun sollte.“ Ob das Forum ein
       Ärgernis für die Regierung sei, fragt er sich laut. „Ich denke schon und
       ich hoffe das auch.“
       
       Im Bett, als die Hamas kam 
       
       An einigen Delegationen im Ausland, die Shek mitorganisiert hatte, nahm
       Sharon Sharabi teil. Er traf den US-Präsidenten und den britischen
       Premierminister. Seit dem 7. Oktober bestimmt sein Engagement sein Leben.
       Er habe sogar seinen Job gekündigt. „Das ist jetzt meine Lebensmission.“
       Sharabi trägt ein T-Shirt mit einem Foto seiner entführten Brüder Yossi und
       Eli. Die drei sehen sich sehr ähnlich.
       
       Als die Hamas am 7. Oktober den Grenzzaun zu Israel durchbricht, schlafen
       Yossi und Eli mit ihren Familien im Kibbuz Be’eri, nur fünf Kilometer vom
       Gazastreifen entfernt. „Elis Frau und die zwei Töchter wurden nicht
       ermordet, sie wurden regelrecht abgeschlachtet“, sagt Sharabi. Er zeigt ein
       Foto auf seinem Handy, das er noch nie gezeigt habe, und bittet die
       anwesenden Journalist*innen, keine Fotos davon zu machen. Auf dem Handy ist
       ein blutdurchtränktes Kinderzimmer zu sehen. Sharabi wirkt, als könne er
       nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. „Ihre Töchter Yahel und Noya waren
       erst 13 und 16 Jahre alt.“
       
       Die Frau und zwei Kinder von Sharabis Bruder Yossi überlebten den Angriff –
       „durch ein Wunder“, wie Sharabi sagt. Aber nach rund hundert Tagen
       Geiselhaft, im Januar 2024, erfährt Sharabi, dass Yossi nicht mehr lebt. Er
       sei wahrscheinlich durch einen israelischen Luftangriff versehentlich
       getötet worden, hieß es nach einer Untersuchung der Armee. „Wir haben schon
       vier Familienmitglieder verloren“, sagt Sharabi, „wir sind nicht bereit,
       einen fünften Sarg zu akzeptieren.“
       
       Am Ende des Flurs im Haus des Forums sitzt die Freiwillige Hanita Ramon,
       eine 59-Jährige mit müden Augen. Sie bastelt Anstecker mit gelben Bänden,
       ein Symbol für die Freilassung der Geiseln. Die Anstecker werden am
       benachbarten „Platz der Geisel“ verkauft. So nennen viele Israelis den
       Platz vor dem Tel Aviver Museum der Künste seit dem 7. Oktober. Inzwischen
       ist er zu einem Mahnmal geworden.
       
       Mal bastele sie Anstecker, erzählt Ramon, mal koche sie für die Familien
       der Geiseln, da viele von ihnen ihre Communitys nahe der Grenze zum
       Gazastreifen verlassen mussten. Zwei Tage pro Woche sei sie hier,
       mindestens, ansonsten arbeitete sie als Personaltrainerin.
       
       Ramon kennt eine der Geiseln persönlich, [2][die 39-jährige Carmel Gat],
       die wie die Brüder von Sharon Sharabi aus dem Kibbuz Be’eri entführt wurde.
       „Ich will einfach nur, dass sie alle nach Hause kommen“, sagt sie. Ihre
       Stimme ist betrübt, energielos. Sie bastelt weiter, als hätte das etwas
       Therapeutisches für sie.
       
       Netanjahu unter Druck von rechts 
       
       Dass die Geiseln bald wieder nach Hause kommen, ist jedoch alles andere als
       sicher. Die indirekten Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas wurden
       jüngst abgebrochen. Das israelische Kriegskabinett billigte am Donnerstag
       allerdings eine Wiederaufnahme der Gespräche. Netanjahu wird seit Monaten
       von seinen rechtsradikalen Koalitionspartnern unter Druck gesetzt, die
       Vernichtung der Hamas zu priorisieren und die israelische Armee noch weiter
       in Rafah im südlichen Gazastreifen einmarschieren zu lassen – um jeden
       Preis, auch zulasten der Geiseln. Die radikalislamistische Hamas wiederum
       zeigt sich immer wieder kompromisslos und realitätsfern.
       
       „Es ist sehr schwierig, rational zu verhandeln mit Menschen, die einfach
       nicht rational agieren“, erklärt Ex-Botschafter Shek. „Es geht aber gerade
       nicht darum, was wichtiger ist – die Freilassung der Geiseln oder ein Sieg
       gegen die Hamas –, sondern was dringlicher ist“, sagt er. „Um die Geiseln
       zu befreien, haben wir nicht noch einmal sechs Monate Zeit.“
       
       Ähnlich sieht es Sharon Sharabi. „Ich hoffe und bete jeden Tag, dass Eli
       und alle anderen Geiseln noch leben und zurückkommen. Wir werden nicht
       aufhören, bis alle wieder zu Hause sind.“ Doch die Uhr tickt, auch für die
       fünf Frauen im Video, das das „Hostage and Missing Families Forum“ am
       Mittwoch veröffentlichte. „Für meinen Bruder Yossi ist die Zeit schon
       abgelaufen.“
       
       24 May 2024
       
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