# taz.de -- Lenins 90. Todestag: Die Nase des Nachfahren
       
       > Der große Lenin war nicht nur im Herzen Internationalist, sondern auch im
       > Blute, sagt Günter Kruse, sein deutscher Verwandter.
       
 (IMG) Bild: Lenin ganz frisch: beim Dresdner Neujahrsschwimmen
       
       BAYREUTH taz | Die Gastgeber in Moskau haben Günter Kruses Nase bewundert.
       Die Nase, riefen sie, sei doch wie bei Lenin. Dann führten sie den
       Deutschen zu dem toten Revolutionsführer ins Mausoleum. Anschließend gab es
       einen Besuch bei Lenins betagter Nichte Olga Uljanowa. Diese empfing Kruse
       höflich, aber misstrauisch. An einen deutschen Verwandten glaubte sie
       nicht. In Russland gibt es schließlich immer noch Hochstapler, die sich als
       Lenins Nachkommen ausgeben. Doch Günter Kruse muss nicht hochstapeln. Er
       hat jede Menge Belege dafür, dass der Führer des Weltproletariats nicht nur
       im Herzen ein Internationalist war, sondern auch im Blute – und zu einem
       gut Teil ein Deutscher.
       
       Günter Kruse, Jahrgang 1932, schüttelt heute noch den Kopf über die Visite
       in Moskau, die der Fernsehsender NTW 2007 anlässlich der Serie „Russische
       Sensationen“ organisiert hatte. Wenn es Sensationen gibt, dann sind sie bei
       Kruse stiller Natur. Kruse wohnt in einem Reihenhaus in Bayreuth mit
       Vorgarten und Jägerzaun. Doch hinter der Haustür tut sich ein
       bemerkenswerter Kosmos auf. Leninbüsten und rote Fahnen sucht man
       vergebens. Kruses erstaunlich geräumiges Wohnzimmer verströmt vielmehr die
       Aura eines aristokratischen Salons. Stadtansichten von Stockholm und St.
       Peterburg, glänzende Buchrücken, Empirestühle und Ölgemälde.
       
       Kruse hat einen Stapel Unterlagen herbeigeschafft. Ahnentafeln, Listen von
       Nachkommen, Fachzeitschriften türmen sich auf, Lenin blickt, entschlossen
       wie immer, von einer Broschüre.
       
       Kruses Nase, so viel lässt sich sagen, ist schmaler und länger als die des
       Gründers des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates auf Erden. Die Gesichtszüge
       hat Lenin vom Vater geerbt. Der wohl berühmteste Russe ist über die
       mütterliche Linie mit Kruse verbunden.
       
       Doch was heißt Russe? Tief im Mecklenburgischen begann das, was Günter
       Kruse als „Deszendenz zu Lenin“ bezeichnet, als Generationenfolge von
       Wassermüllern bis hin zum „Führer, Theoretiker und Lehrer der
       internationalen Arbeiterklasse“ – und zu Günter Kruse.
       
       ## Hartherzige Grafen
       
       Lenins und Kruses Vorfahren lebten in einer langen Folge als Mühlenpächter
       in Dörfern und Landstädtchen zwischen Hamburg, Lübeck und Schwerin,
       heirateten Müllerstöchter, zeugten Kinder und starben. Kruse kennt in
       diesem Krähwinkel inzwischen jedes Vorwerk, jeden Bachlauf, jede Mühle. Das
       Los der Pachtmüller war ein unstetes. Die Verträge währten nur wenige
       Jahre, bald wurde die Mühle vom Grundherrn neu verpachtet. Wer nicht
       mithalten konnte, musste weichen. Lenins Vorfahren – gebeutelte Müller, die
       von hartherzigen Grafen gepeinigt wurden? Das hätte dem Revolutionär sicher
       gefallen. Kruse winkt ab. „Lenin selbst war kein bisschen an seinen Ahnen
       interessiert. Er hat nur in die Zukunft geschaut.“
       
       Es hätte ihn daher auch nicht gejuckt, dass einer der Müller endlich
       sesshaft wird und die Tochter eines Küsters freit. Für Günter Kruse ist das
       der Moment, in dem einer den Kreislauf aufbricht. Bis zu Lenin dauert es
       noch 150 Jahre.
       
       Doch weltgeschichtlich gesehen ist es nur noch ein Wimpernschlag. Der Sohn
       geht nach Lübeck und macht sein Glück als Kaufmann. Der Enkel aber, Johann
       Gottlieb Grosschopff sein Name, steigt, kaum dass er zwanzig Jahre alt ist,
       auf ein Schiff, reist nach St. Petersburg und heiratet – nein, keine
       Russin, sondern Anna Beata Östedt, eine Schwedin, deren Vater an der
       Kunstakademie lehrt.
       
       Ein Deutscher und eine Schwedin in Russland – „das war eine Blutzufuhr!“,
       frohlockt der bisher so sachliche Kruse. Doch er bremst gleich wieder.
       „Nicht im genetischen, eher im soziokulturellen Sinn.“ Kruse redet von
       „Fähigkeitsreserven“ der Familie Grosschopff und den Möglichkeiten in einer
       aufstrebenden Residenz. Diese Reserven werden schnell mit schwedischer
       Begabung verschmolzen. Das Paar bekommt drei Söhne und eine Tochter.
       
       Günter Kruse hat sich erhoben, referiert weiter von der „Kumulierung von
       soziokulturellen Einflüssen“ und vergisst nicht, die genealogischen
       Beiträge der jeweiligen Mütter, der Küster-, Pfarrers- und
       Kaufmannstöchter, zu würdigen. Langsam geht er zu dem Porträt, das mit
       seinem schweren vergoldeten Rahmen den gesamten Raum beherrscht. Ein
       kaiserlicher Staatsrat blickt so feierlich herab, als hätte er die ganze
       Zeit mitgehört.
       
       ## 
       
       ## Sein Urgroßvater war Lenins Großonkel
       
       „Gustav Adolph von Grosschopff, geboren 1797“, sagt Kruse. Sein Urgroßvater
       und Lenins Großonkel. Dessen Schwester Anna wird Alexander Blank heiraten,
       geboren als Srul Blank, Sohn eines jüdischen Schankwirts aus der Region der
       heutigen Westukraine und auf den Namen Alexander russisch-orthodox getauft.
       
       80 Jahre nachdem der Enkel eines mecklenburgischen Müllers ins Russische
       Reich aufgebrochen ist, wird ihre Tochter Marija Alexandrowna 1870 in
       Simbirsk an der Wolga als drittes Kind Wladimir Uljanow gebären. Der Stern
       ist aufgegangen, Günter Kruse mit seiner Lenin-„Deszendenz“ am Ziel.
       
       Mit Lenins Tod vor 90 Jahren war die Arbeit der Genealogen beendet, von
       Lenin sind keine Kinder bekannt. Umso mannigfaltiger ist das geistige Erbe
       des Führers der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917, der das
       Zarenreich auslöschte. Die Zahl der Jünger Lenins ging bald in die
       Millionen. Revolutionäre, Ideologen, Terroristen, Kosmonauten und
       Kolchosbauern – sie alle fühlten sich als Kinder und Enkel des Mannes aus
       Simbirsk, der eine weltumspannende Sowjetunion schaffen, Elektrizität ins
       kleinste Dorf bringen und den letzten Kuli befreien wollte.
       
       „Der tausendjährige Lenin – ein Baum, der durch alle Zeiten und
       Geschlechter wächst, fort und fort, und dessen Wurzeln unter der Erde nach
       allen Richtungen hin reichen“, pries das Neue Deutschland Lenin zum 100.
       Geburtstag 1970.
       
       ## Kruse forscht nach
       
       Etwa zur selben Zeit begann in Bayreuth der Psychologe Günter Kruse mit
       seiner Arbeit. Kurz zuvor hatte der Spiegel einen vagen Hinweis auf
       deutsche Vorfahren Lenins mit Namen Grosschopff gegeben. Kruse leitete in
       Oberfranken für das Arbeitsamt die psychologische Beratung. Leninforscher
       war er nach Dienstschluss, an Wochenenden und im Jahresurlaub. Kruse hat
       unzählige Stunden in Archiven verbracht, in Kirchenbüchern und Steuerlisten
       gesucht, reiste in die DDR, fotografierte im Grenzgebiet heimlich
       Wassermühlen, besuchte die Lenin-Museen in Moskau und Leningrad – kurzum:
       er hat sein halbes Leben drangegeben. Die Familie war bald nur noch wenig
       erbaut von seiner Leidenschaft, lässt er durchblicken.
       
       Wenig angetan war auch die Sowjetunion. Ihre Botschaft in Bonn, von Kruse
       nach Lenins Herkunft befragt, schickte Propagandabroschüren. Literatur im
       Westen war rar, der Osten schwieg sich aus. Überhaupt gab es in der
       Sowjetunion offiziell keine Familienforschung, die über Lenins Großeltern
       hinausging. Ein erstes Buch von 1938, ein Tatsachenroman über die Familie
       Uljanow, das – so weit bekannt – deutsche und schwedische Vorfahren
       erwähnte, wurde bald wieder eingezogen. „Lenin war der große Russe“, sagt
       Kruse. „Schwedische, jüdische oder deutsche Vorfahren durfte es nicht
       geben.“
       
       Das Tabu ist vergangen. Die nichtrussischen Vorfahren sind heute Teil des
       Lenin’schen Stammbaums und werden in den Lenin-Gedenkstätten von Uljanowsk,
       700 Kilometer östlich von Moskau, gewürdigt. Kruse selbst war seit 2002
       dreimal in Lenins Geburtsort und wird inzwischen empfangen wie ein
       Staatsgast.
       
       ## Das Feuer der Revolution
       
       Ausländischen Beistand hat Lenin auch bitter nötig. Das Feuer für den
       Revolutionär brennt zwar noch, doch längst nicht mehr so hell wie einst,
       und in allen anderen Orten ist es bereits völlig erloschen. Selbst in
       Moskau und Sankt Petersburg sind die großen Lenin-Museen geschlossen. Und
       auch in Uljanowsk hatte die Kulturverwaltung der Region schon vor Jahren
       angekündigt, die Finanzierung der dortigen Gedenkstätten, mehrerer alter
       Holzhäuser und eines sowjetischen Monumentalbaus, komplett zu streichen.
       
       Immerhin findet Kruse in Uljanowsk noch ernsthafte Gesprächspartner, mit
       denen er korrespondiert. Uljanowsk sei das Zentrum der Lenin-Forschung,
       auch wenn das dortige Personal den nötigen Eifer gelegentlich vermissen
       lässt, wie Kruse bemängelt. Vielleicht ist das politisch gewollt. Während
       Stalin als Staatsmann auflebt, werden Lenins Affäre mit der Französin Ines
       Armand und seine vermutete Syphilis thematisiert – und auch seine illustre
       Vorfahren – dank Kruse.
       
       Was bedeutet ihm Lenin nach all den Jahren Familienforschung? „Ich bin
       inhaltlich nicht mit ihm einverstanden“, sagt Günter Kruse. Doch dass ein
       Mann unter denkbar schwersten Bedingungen das Zarenreich aus den Angeln
       gehoben hat, sei eine politische Leistung. Alle „Fähigkeitsreserven“, alle
       Einflüsse, die in Lenin angelegt waren, haben sich geradezu beispielhaft
       entfaltet, so formuliert Kruse seine Fazit. „Und wir wollen nicht
       vergessen, dass alle Geschwister Lenins Revolutionäre waren.“
       
       Das revolutionäre Feuer wird in Uljanowsk weiterlodern. Dort soll ein
       Museum der Sowjetunion entstehen. Der Arbeiter-und-Bauern-Staat, den Lenin
       1922 geschaffen hatte, soll mit Ausstellungen zur Politik und Ökonomie, zur
       Kultur und zum Alltagsleben wieder aufleben. Auch alle Lenin-Gedenkstätten
       werden in dem „kulturell-touristischen Cluster“ aufgehen. Kruses Ahnentafel
       mit den Fotos von der weitläufigen Familie mütterlicherseits bleibt
       erhalten. Sie belegt ganz unaufdringlich, dass der Deutsche zur Familie
       gehört. Günter Kruse scheint Marija Alexandrowna, Lenins Mutter, wie aus
       dem Gesicht geschnitten.
       
       21 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Gerlach
       
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 (DIR) Schwerpunkt Christian Semler
       
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