# taz.de -- Linkspartei wählt neue Führungsspitze: Alles bleibt anders
       
       > Die Linke setzt bei der Vorsitzendenwahl auf Konsens. Die Westlinke
       > Janine Wissler und der Ostreformer Martin Schirdewan sind das neue
       > Führungsduo.
       
 (IMG) Bild: Werden sie die Partei aus der Existenskrise führen?
       
       ERFURT taz | Optisch setzen die Amtsinhaberin und ihre Herausforderin nur
       auf dezente Unterschiede. [1][Janine Wissler] trägt ein weißes Jackett und
       ein schwarzes T-Shirt, bei [2][Heidi Reichinnek] ist es genau umgekehrt.
       Reichinnek muss als erste von den beiden ans Redepult. „Ich bin eine
       leidenschaftliche Linke“, ruft die Landeschefin in Niedersachsen und
       Bundestagsabgeordnete. Sie habe kein Verständnis für Intrigen, sagt sie und
       mahnte Selbstkritik an.
       
       Reichinnek, geboren in Sachsen-Anhalt, gilt als Kandidatin der
       Bundestagsfraktionsvorsitzenden Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch, sie
       wird auch von Ex-Fraktionschefin Wagenknecht unterstützt. Aber sie passt
       nicht so recht in die inneren Ordnungsmuster der Partei. Sie hat in der
       Flüchtlingsarbeit gearbeitet. Manche, die sie aus der Fraktion kennen,
       loben ihre rhetorischen Fähigkeiten.
       
       Aber die sind an diesem Samstagnachmittag eher versteckt, ihre Rede ist
       typisch für Linksparteitage, eine formelhafte Aneinanderreihung von Zielen.
       Sie findet keine eigene Tonalität. Der Beifall ist übersichtlich.
       
       Wissler ist die Favoritin der Bewegungslinken, einer Parteiströmung, die
       stark auf die Verankerung der Partei in sozialen Bewegungen setzt. Am Abend
       vorher hat sie sich noch mit Vertrauten beraten, ob sie überhaupt noch eine
       Bewerbungsrede halten soll. Schließlich hatte die Parteivorsitzende ja
       bereit zum Auftakt am Freitag rund 40 Minuten gesprochen – und war dabei
       von den Delegierten gefeiert worden. Was soll sie jetzt noch sagen? Aber
       die 41-jährige Hessin entscheidet sich dann doch dafür, noch einmal acht
       Minuten in eigener Sache zu sprechen, um Reichinnek nicht alleine die Bühne
       zu überlassen. Dafür erscheinen die Mehrheitsverhältnisse zu unüberschaubar
       und volatil.
       
       ## Deutlicher Wahlsieg für Wissler
       
       Ob es um soziale Gerechtigkeit, Frieden oder um das Eintreten für eine
       solidarische innerparteiliche Kultur geht: Vordergründig ähnelt die Rede
       Wisslers der von Reichinnek. Aber ihre Akzente sind deutlich andere. „Nein,
       wir müssen uns nicht entscheiden, die Interessen der Beschäftigen zu
       vertreten oder für die Rechte von Minderheiten zu kämpfen“, ruft sie aus.
       „Der Kampf um soziale Rechte und um Menschenrechte gehört zusammen.“
       
       Dass ist eine schroffe Absage an den Politikansatz, den Sahra Wagenknecht
       und ihr Anhang vertritt. Auch ihr Hinweis, es bräuchte mehr Teams und
       weniger Ich-AG ist unschwer als Spitze gegen Wagenknecht zu deuten.
       
       Doch es sind nicht nur die inhaltlichen Akzente, die den Unterschied
       ausmachen, sondern auch die rhetorische Kapazitäten. Wissler trifft den
       Nerv vieler Delegierter. Die Wahlentscheidung ist eindeutig. Wissler
       gewinnt mit 319 gegen 199 Stimmen für Reichninnek. Für die frühere
       sächsische Landtagsabgeordnete Julia Bonk stimmen 14 Delegierte. 35,9
       Prozent sind ein Achtungserfolg für Reichninnek, aber eine Niederlage für
       Bartsch, Mohamed Ali und vor allem für Wagenknecht, die im Vorfeld für die
       Abwahl von Janine Wissler geworben hatte.
       
       ## Schirdewan wirkt pragmatisch und bedächtig
       
       Der Parteitag, so das Signal, will Kontinuität, Konsens, Ruhe. Die Zeiten
       für die Linkspartei sind ja schwer genug. Der Wunsch nach viel Mitte und
       wenig Stress entscheidet auch die Wahl von Wisslers Co-Chef. [3][Martin
       Schirdewan] ist Chef der Linksfraktion im Europaparlament. Die gilt als
       schwierig, weil politisch zerklüftet. Schirdewan hat sie störungsfrei
       gemanagt. Keine schlechte Qualifikation für den schwierigen Job eine
       Linksparteichefs.
       
       Schirdewan gilt als Ostreformer. Sein Großvater war in den 1950er Jahren
       ein hoher SED-Funktionär, der später als Renegat in Ungnade fiel. In Erfurt
       wirbt der 46-Jährige, ganz in schwarz, für sich mit einer für seine
       Verhältnisse schwungvollen Catch-all-Rede.
       
       Man müsse Politik für Rentner:innen und die Alleineinziehende machen,
       die Angst hat, die Stromrechnung aufzumachen. Es gelte Gewerkschaften und
       Klimabewegung zu verbinden, soziale Kämpfe mit denen von Minderheiten.
       Russland müsse seine Truppen aus der Ukraine abziehen, aber
       Waffenlieferungen bedeuteten Eskalation. Zudem gelte es, [4][Konsequenzen
       aus #Metoo] zu ziehen, die Partei müsse ein „sicherer Ort für alle sein“.
       Für alle ist etwas dabei – für die „woke“ Jugendorganisation Solid und
       Friedenfans, Gewerkschafter:innen und FFF-Anhänger:innen.
       
       Schirdewan wirkt pragmatisch und bedächtig – und ist damit erfolgreich. Er
       bekommt 341 Stimmen – ein deutlicher Sieg. Im Duo mit Janine Wissler wird
       er eher der sein, der nach innen wirkt. Sein Sieg ist [5][Sören Pellmanns]
       Niederlage.
       
       ## Herbe Niederlage für Pellmanns
       
       Im vergangenen September hat der 45-jährige Leipziger die Linkspartei
       gerettet – sein Direktmandat in Leipzig war das überlebenswichtige dritte
       bei der Bundestagswahl, damit sie wieder als Fraktion in das Parlament
       einziehen konnte. Doch auch das nutzt ihm an diesem Samstag nicht viel.
       
       Pellmann tritt mit weißem Hemd ans Mikrofon. Ihm gefielen die
       Lagerzuschreibungen nicht und er wolle alle zusammenführen, sagt er: von
       Katja Kipping, Bodo Ramelow und Gregor Gysi über Amira Mohamed Ali und
       Dietmar Bartsch bis Sahra Wagenknecht. Es ist das Angebot einer großen
       Gemeinsamkeit, die so nicht mehr existiert. „Die Linke war und ist
       Kümmerer-Partei“, sagt er und bemüht ein altes Image aus PDS-Zeiten. Doch
       so richtig kommt er damit nicht mehr an, was auch an seinen begrenzen
       rhetorischen Fähigkeiten liegt. 176 Stimmen sind eine herbe Niederlage für
       ihn, der von Wagenknecht unterstützt wurde. Auf fünf weitere
       Kandidat:innen entfielen zusammen 33 Stimmen.
       
       Mit dem Votum für Wissler und Schirdewan, wie der Wiederwahl von
       Schatzmeister Harald Wolf bestätigen die rund 570 Delegierten den
       bisherigen zentristischen Kurs der Parteiführung. Ein Großteil von ihnen
       gibt sich alle Mühe, nicht das Bild eines zerstrittenen Haufens abzugeben.
       Sie folgen damit den eindringlichen Appellen der wenigen Aushängeschilder,
       die die Partei noch hat.
       
       ## Gysi will in Solidarität streiten und kämpfen
       
       Am Freitag hatte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow der Partei mit
       deutlichen Worten die Leviten gelesen. „Diese Linke hat nicht das Recht,
       sich mit sich selber zu beschäftigen und nur den ganzen Tag zu schauen, wie
       kann man dem anderen unter den Linken ein Bein stellen“, sagte Ramelow. Die
       Partei müsse vielmehr dem politischen Gegner „in den Arsch treten“. Am
       Samstagvormittag redet Gregor Gysi seinen Genoss:innen eindringlich ins
       Gewissen. „Hört auf mit dem ganzen kleinkarierten Mist in unserer Partei“,
       forderte der 74-jährige Ex-Bundestagsfraktionsvorsitzende. In der Partei
       herrsche „ein Klima der Denunziation“, das sie überwinden müsse.
       
       „Wir müssen entschlossen, entschieden, leidenschaftlich und in Solidarität
       miteinander ab heute streiten und kämpfen“, forderte Gysi. „Entweder wir
       retten unsere Partei oder wir versinken in Bedeutungslosigkeit.“ In Erfurt
       ist das Bedürfnis, die Partei zu retten, bei der übergroßen Mehrzahl der
       Anwesenden augenscheinlich groß. Das alleine wird nicht reichen, um sie aus
       ihrer Existenzkrise zu führen.
       
       25 Jun 2022
       
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