# taz.de -- Linksparteitag in Augsburg: Ungewohnte Harmonie
       
       > Linken-Chef Schirdewan fordert zu Geschlossenheit auf. Mit Erfolg. Wirbel
       > gibt es nur um eine Äußerung von Carola Rackete – und beim Thema
       > Gazakrieg.
       
 (IMG) Bild: Linken-Chef Schirdewan macht seiner Partei Mut. Am ersten Kongresstag scheint das gelungen zu sein
       
       AUGSBURG taz | Am ersten Tag sorgt Carola Rackete für Wirbel. Zwar wird sie
       auf dem Parteitag erst an diesem Samstag reden, wenn die Linkspartei über
       ihre Liste für die Europawahl abstimmt. Am Freitag sieht man sie nur mit
       Freunden durch die Hallen streifen. Aber in einem Zeitungsinterview, das
       zum Parteitag erscheint, hat sie der Partei, die sie nominieren soll,
       lapidar vorgeschlagen, doch besser einen anderen Namen zu wählen und sich
       „konsequent von ihrer SED-Vergangenheit zu distanzieren“.
       
       Das war etwas ungeschickt, und so bemüht sich die 35-jährige
       Klimaaktivistin und Seenotretterin kurz darauf, den Schaden zu begrenzen.
       Auf X (ehemals Twitter) bedauert sie noch am Freitag ihre „unbedachte
       Äußerung“ und bekennt, zu wenig über die durch die Linkspartei schon
       erfolgte Aufarbeitung der SED-Vergangenheit gewusst zu haben.
       
       [1][Rackete ist parteilos], soll aber an diesem Wochenende in Augsburg auf
       Platz 2 [2][zu einer Spitzenkandidatin der Linken] für die Europawahl im
       Juni 2024 gekürt werden. Es ist der erste Parteitag, seit Sahra Wagenknecht
       und ihre Mitstreiter im Oktober die Partei verlassen haben. Und er findet
       statt, kurz nachdem die Linksfraktion im Bundestag deshalb beschlossen hat,
       sich wegen dieses Abgangs am [3][6. Dezember notgedrungen aufzulösen].
       
       Von außen wirkt es, als sei die Linke damit am Tiefpunkt angelangt. Doch
       der Parteitag soll ein Signal des Neustarts senden, daran haben die
       Verantwortlichen hart gearbeitet. Ab jetzt wird nach vorne geschaut, so die
       Botschaft, die von diesem Event ausgehen soll.
       
       Einige [4][namhafte Neumitglieder] und Mitstreiter werden sich auf dem
       Parteitag vorstellen – prominente Namen aus dem sozialen und künstlerischen
       Bereich. Doppelt so viele Menschen treten derzeit ein, wie austreten
       würden, rechnet die Parteivorsitzende Janine Wissler vor.
       
       ## Um Einigkeit bemüht
       
       Außerdem stellten sie und ihr Co-Chef Schirdewan zu Beginn des Parteitags
       ein neues Logo vor, dass das Erscheinungsbild der Partei erneuern soll. Das
       Kapitel Wagenknecht sei „abgeschlossen“, gibt Wissler als Losung aus, und
       das sagt auch Schirdewan. Ansonsten fällt der Name der einstigen
       Linksfraktionsvorsitzenden und Neuparteigründerin nur noch in Gesprächen am
       Rande.
       
       Die Atmosphäre ist insgesamt ungewohnt harmonisch für einen Parteitag der
       Linken. Schirdewans Rede am Freitagmittag markiert den Höhepunkt des ersten
       Tages. Tatsächlich schafft er es, so etwas wie Aufbruchstimmung zu
       verbreiten. Besonders viel Applaus erhält der 48-jährige Thüringer, als er
       an die Delegierten appelliert, Geschlossenheit zu demonstrieren und
       respektvoll im Umgang miteinander zu bleiben
       
       Viel Beifall erhält er auch für seine Forderung, Haltung zu zeigen und
       „zwischen allen Geschlechtern, zwischen Ost und West, mit Minderheiten und
       nicht zuletzt mit Menschen in Not“ solidarisch zu sein – ein kleiner
       Seitenhieb gegen Wagenknecht. Selbstkritisch räumt Schirdewan ein, man habe
       Fehler gemacht. Selbstbewusst proklamiert er, man bleibe „die Partei der
       Hoffnung“, und sagt: „Wenn alle nach rechts marschieren, dann bleiben wir
       links“.
       
       Soziale Fragen stellt er dabei in den Mittelpunkt: Zwanzig Prozent der
       Bevölkerung seien von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht, während
       deutsche DAX-Konzerne Rekordgewinne machten. Es brauche eine
       Vermögensabgabe für Milliardäre, eine europäische Initiative für sozialen
       Wohnungsbau, eine gerechtere Gesundheitsversorgung und ein faires
       Steuersystem. Es gebe „kein Recht auf Profit“, sondern „auf Wohnen, auf
       Nahrung und auf Energie“, sagt Schirdewan und verspricht: „Wir legen uns
       mit den Reichen und Mächtigen an.“
       
       Der Ampelkoalition wirft er vor, sich an einem „Überbietungswettbewerb der
       Menschenfeindlichkeit“ zu beteiligen. Bei den Europawahlen, den
       Kommunalwahlen und den drei ostdeutschen Landtagswahlen in Thüringen,
       Sachsen und Brandenburg werde die Linke wieder „auf die Erfolgsspur
       kommen“, macht er Mut. Nach einer Reihe von Niederlagen, zuletzt in Hessen
       und Bayern, und Umfragewerten unter fünf Prozent bundesweit ist das Musik
       in den Ohren der rund 470 Delegierten im Saal, die es ihm mit Jubel
       dankten.
       
       ## Konfliktthema Gaza-Krieg
       
       Natürlich gebe es noch Konflikte und Streitereien, hatte Schirdewan in
       seiner Rede eingeräumt. Am späten Freitagabend, als der heikelste
       inhaltliche Tagesordnungspunkt aufgerufen wird, brechen sie noch einmal
       auf. Die Linke fordere einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza, die
       Freilassung aller Geiseln und die Ächtung von Antisemitismus und Rassismus
       – so steht es in einem Antrag, der auf dem Parteitag kurz vor Mitternacht
       von einer großen Mehrheit angenommen wird. Und unmissverständlich heißt es
       in dem Beschluss: „Wir verurteilen die Gräueltaten der Hamas vom 7.
       Oktober.“
       
       Das klingt konsensfähig, und ist es letztlich auch. Doch zuvor treten in
       einem kurzen, aber hoch emotionalen Schlagabtausch noch einmal die Fronten
       offen zu Tage. Klaus Lederer, ehemaliger Kultursenator in Berlin, spricht
       von einer „eliminatorischen Enthemmung“ und „genozidalen Gewaltorgie“ der
       Hamas und nennt den 7.Oktober eine „Zäsur“, die man als solche klar
       benennen müsse. Auf der anderen Seite spricht der Offenbacher
       Linken-Politiker Nick Papak Amoozegar von der „Hamas und anderen Gruppen
       des palästinensischen Widerstands“, deren Angriff „keinen Völkermord“
       rechtfertigen würde, den Israels Regierung im Gazastreifen begehe. „Das ist
       ein Genozid“, sagt er – und erntet empörte Pfui-Rufe.
       
       Der Konflikt lasse niemanden kalt, bemüht sich der Tagungsleiter, der
       Berliner Bundestagsabgeordnete Pascal Meiser, die Wogen zu glätten. Er
       bitte alle, die „Tonalität“ herunterzufahren und auf die eigene Wortwahl zu
       achten. „Sind wir in der Lage, diese Debatte sensibel zu führen?“, fragt er
       – und antwortet selbst: „Wir können das, aber wir müssen es auch wollen.“
       
       Eine große Mehrheit will das offenbar. Nach der Mahnung Meisers tritt Özlem
       Demirel ans Redepult. „Lasst uns deutlich feststellen, liebe Genossinnen
       und Genossen: In unserer Partei gibt es keinen Menschen, der Antisemitismus
       relativiert, es gibt keinen Menschen, der antimuslimischen Rassismus
       relativiert“, sagt die Kölner Europaabgeordnete unter starkem Beifall. „Es
       gibt keinen Menschen in unserer Partei, der die Toten in Israel nicht
       bedauert, und es gibt keinen Menschen in unserer Partei, der die Toten in
       Gaza nicht bedauert.“ Das sei der linke „Grundsatz, auf den wir uns bitte
       einigen“.
       
       Das eigentliche Hauptthema, die Europawahl, wird ab diesen Samstag in
       Augsburg im Fokus stehen. Am Samstagnachmittag beginnt die
       Kandidatenaufstellung. Parteichef Schirdewan, der auch der Linksfraktion im
       EU-Parlament vorsteht, und Carola Rackete sollen die Liste anführen. Auf
       Platz 3, so der Vorschlag der Parteiführung, soll Özlem Demirel folgen, die
       sich allerdings wohl einer Gegenkandidatin zu erwehren hat. Auch Gerhard
       Trabert, bekannt als „Arzt der Armen“ und einst Präsidentschaftskandidat
       der Linken, will als parteiloser Kandidat für die Partei ins
       Europaparlament. Er ist für Platz 4 nominiert. Schirdewan sprach von einer
       „Schicksalswahl“. Er meinte das Schicksal Europas. Es gilt aber auch für
       seine eigene Partei.
       
       18 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Bax
       
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