# taz.de -- Liraz ist aus Israel und singt auf Farsi: „Niemand will Krieg“
       
       > Liraz ist in Israel geboren. Weil sie auf Farsi singt, hat sie viele Fans
       > im Iran, die sich heute mit Israel solidarisch zeigen.
       
 (IMG) Bild: Auf Farsi zu singen empfindet Liraz als Heilung. Als Kind mochte sie iranische Musik nicht
       
       taz: Liraz, Sie sind in Israel aufgewachsen und Sie singen auf Farsi. Ihre
       Lieder kommen gut an im Iran. Wann sind Ihre Eltern von Iran nach Israel
       ausgewandert? 
       
       Liraz: Meine Eltern verließen den Iran 1964 und 1970 mit ihren Familien,
       also vor der Revolution. Sie hatten verstanden, dass sie als Juden keine
       Chance hatten, dort frei zu leben. In der Familie meiner Mutter gab eine
       Begebenheit den Ausschlag. Eines Tages sollte meine Mutter vor der Klasse
       eine Stelle aus dem Koran lesen. Sie konnte das nicht und schämte sich
       sehr. Zu Hause schrie sie ihre Eltern an, dass sie nie wieder zur Schule
       gehen würde. Ihre Eltern erklärten der Schule, dass sie Juden seien. Damit
       begannen die Probleme erst richtig.
       
       Bei Ihnen zu Hause wurde Farsi gesprochen? 
       
       Ja, aber wenn mich meine Eltern auf Farsi angesprochen haben, habe ich auf
       Hebräisch geantwortet. Mir war das peinlich, weil meine Freundinnen und
       unsere Nachbarn nichts verstanden haben. Meine Eltern waren sehr jung, als
       sie nach Israel kamen. Sie versuchten ihren starken persischen Akzent
       loszuwerden, aber sie waren doch sehr iranisch. Als Kind habe ich zwei
       Persönlichkeiten entwickelt. Draußen war ich ein wildes Kind, eine junge
       Künstlerin, die von Freiheit und Ruhm geträumt hat. Zu Hause sollte ich ein
       braves iranisches Mädchen sein. Als Teenager war ich mir sicher, dass ich
       mit 18 als Jungfrau verheiratet werde. Meine Tanten und meine Großmutter
       sind im Iran mit 11 und 13 verlobt worden. Das hat mich verstört.
       
       Wie präsent war die persische Musik? 
       
       Ich mochte als Kind die traditionelle Musik nicht. Das kam mir alles sehr
       repetitiv vor, immer dieselben Lieder, immer dieselben Sängerinnen. Eine
       meiner Großmütter sang zu Hause und auf Hochzeiten. Einmal hat mein
       Großvater ihr gesagt, sie solle sofort von der Bühne kommen, als sei es
       eine Schande, wenn eine Frau öffentlich singt. Mein Urgroßvater hat für den
       Schah gesungen, aber die Frauen in der Familie wurden zum Verstummen
       gebracht. Erst nach und nach sind sie alle ausgebrochen.
       
       Ihre Tante Rita wurde in den 1980ern in Israel zum Star. 
       
       Ihre Tochter singt inzwischen auch und meine Töchter haben damit
       angefangen. Die Musik liegt unserer Familie im Blut. Ich mochte die
       iranische Musik früher nicht, weil sie voller Trauer und Schmerz ist. Ich
       wollte ein freudvolles Leben haben.
       
       Wann hat sich Ihre Perspektive verändert? 
       
       Als ich angefangen habe, als Schauspielerin zu arbeiten, habe ich einige
       Jahre in Los Angeles verbracht, wo es eine große iranische Community gibt.
       Ich nenne es Tehrangeles. Ich habe das persische Essen genossen, mir Bücher
       und viele Schallplatten gekauft. Mir gefiel vor allem die psychedelische
       iranische Musik aus den 1970ern. Ich mochte die Stimmen der Sängerinnen,
       die anders als in den Dekaden zuvor etwas Wildes hatten. Sie waren frech
       und kannten weder Angst noch Beschränkungen. Dann habe ich eine Gruppe
       iranischer Frauen entdeckt, die ihre Schleier abnahmen und auf der Straße
       gesungen und getanzt haben. Ich habe gelernt, dass Frauen seit der
       Revolution von 1979 dort nicht mehr singen dürfen. Ich hatte plötzlich das
       Gefühl, eine Berufung zu haben. Das war vor ungefähr 15 Jahren.
       
       Sie haben den Ruf angenommen. 
       
       Ich hatte keine Lust mehr, als Schauspielerin darauf zu warten, dass mich
       jemand gut findet. Wenn ich zu Castings ging, saßen da viele schöne,
       talentierte Frauen, die alle aussahen wie ich. Dunkle Haut, lange Haare,
       Stöckelschuhe, lange Augenbrauen. Ich bin nach Israel zurückgekehrt und
       habe mich scheiden lassen. Während ich versucht habe, zu wachsen, hat mein
       Mann mich gebremst. Ich hatte das Gefühl, ich bin mit meinem Großvater
       verheiratet. Dann habe ich meinem Management gesagt, dass ich auf Farsi
       singen will. Aber sie haben nein gesagt: Sorry, da machen wir nicht mit.
       
       Bis dahin hatten Sie auf Hebräisch gesungen? 
       
       Ja. Es hat eine Weile gedauert, bis ich einen neuen Manager und einen
       Produzenten gefunden habe. Nachdem mein erstes Album auf Farsi erschienen
       war, habe ich irgendwann gemerkt, dass es sehr populär im Iran war. Das war
       vor sieben Jahren. Ich befreundete mich online mit Musikerinnen im Iran,
       die neugierig auf mich waren: Warum singt eine israelische Sängerin auf
       Farsi? Sie fanden mich wohl auch deshalb interessant, weil ich nicht
       versucht habe, so zu tun, als sei ich eine iranische Sängerin. Das kann man
       hören, was mir auch wichtig ist: Meine Geschichte hat verschiedene Ebenen.
       Außerdem habe ich elektronische Beats benutzt und keine traditionellen
       Instrumente.
       
       Ihr zweites Album heißt „Zan“, das ist das persische Wort für Frau. Der
       Titelsong heißt „Zan Bezan“, auf Deutsch: „Frau en, singt “. 
       
       Bei „Zan“ habe ich zum ersten Mal mit Musikerinnen im Iran
       zusammengearbeitet. Sie haben zum Teil in einem Studio in Teheran
       aufgenommen, ich in Tel Aviv. Es war riskant. Die Musikerinnen haben ihre
       Onlineprofile gewechselt, wir haben via Telegram und andere Kanäle
       kommuniziert. Viele Leute haben im Geheimen an diesem Projekt gearbeitet.
       Danach hatte ich das Gefühl, dass ich meine Schwestern physisch treffen und
       sie umarmen muss. Es war wie die Sehnsucht nach einem Geliebten, über den
       man alles weiß, den man aber nie getroffen hat. Für das nächste Album,
       „Roya“, haben wir gemeinsame Aufnahmen in einem Studio in Istanbul
       organisiert. Wir mussten Sicherheitsvorkehrungen treffen. Wir hatten
       schlaflose Nächte, es war ein Jahr voller Angst.
       
       „Roya“ ist im vergangenen Herbst erschienen, als die Revolte der Frauen im
       Iran ausbrach.
       
       Während die Frauen, die mit uns in Istanbul das Album aufgenommen hatten,
       auf den Straßen Teherans ihre Hidschabs verbrannten, ihre Haare abschnitten
       und um ihr Leben kämpften, erschien ihre Musik in England, Frankreich und
       Deutschland.
       
       Aber ihre Namen standen nicht auf dem Album. 
       
       Sie mussten anonym bleiben. Aber sie fanden es gut, weil ihnen bewusst war,
       dass die Musik eine Brücke ist, um unsere Geschichte zu erzählen.
       Inzwischen sind die beiden Musikerinnen, die nur anonym auf dem Album zu
       hören sind, aus der Anonymität herausgetreten. Wir konnten ihnen
       Arbeitsvisa in Europa besorgen, und diese mutigen Frauen haben sich
       entschieden, nicht mehr in den Iran zurückzukehren. Bevor wir sie in
       Istanbul getroffen haben, hatten wir Klischees über iranische Frauen im
       Kopf. Wir dachten, sie tragen Hidschab, und wir können im Studio kein Bier
       mehr trinken. Sie kamen mit Tanktops, blondierten Haaren und Piercings.
       
       In Deutschland gibt es viele Leute mit einem iranischen Background. Kommen
       die zu Ihren Konzerten?
       
       Es kommen immer mehr Iraner, egal wo wir spielen. Manche bringen iranische
       Flaggen mit. Und inzwischen gibt es ein neues Phänomen. In Roskilde und
       beim Womad Festival in England kamen Leute mit grünen, weißen und anderen
       selbst gemachten Fahnen. Das finde ich sehr schön.
       
       Fahnen für imaginäre Staaten? 
       
       Ja, am Anfang hab ich es gar nicht verstanden, es hat einen Moment
       gedauert.
       
       In Israel hat die Fahne jüngst eine neue Bedeutung bekommen. Die Leute, die
       gegen die ultrarechte Regierung demonstriert haben, gingen mit israelischen
       Fahnen auf die Demos, um zu sagen: Das ist unser Land und es ist
       demokratisch. 
       
       Ich sage schon seit vielen Jahren auf Hebräisch: Iran, se kan. Iran, das
       ist hier. Unglücklicherweise wird das immer realer. Ich bin in Israel oft
       gecancelt worden, weil ich als Frau nicht mit religiösen Musikern auf einer
       Bühne stehen sollte. Nach und nach habe ich verstanden, dass es nicht nur
       mich trifft, sondern auch andere Frauen. Vor einiger Zeit sollte eine junge
       Frau bei einer Schulfeier auftreten, durfte dann aber nicht, weil ein
       Rabbiner im Publikum saß.
       
       In Israel werden Sie von Ultrareligiösen gecancelt, in Europa macht die
       antiisraelische Boykottbewegung BDS Stress.
       
       Ja, immer wieder. Im vergangenen Jahr haben wir auf dem Belmundo Festival
       in Brügge gespielt. Das Konzert war ausverkauft und eine feministische
       [1][BDS-Aktivistin] hatte angekündigt, sie würde das Konzert stören. Alles
       lief gut, bis eine Frau zwei Taschen auf die Bühne stellte, in ihnen kramte
       und mich böse anschaute. Ich bekam Angst und fragte mich, was sie vorhat.
       Als ich beim letzten Stück mit der iranischen Flagge tanzte, zog sie eine
       palästinensische Flagge aus einer der Taschen und tanzte mit ihr. Es war
       eine schöne Fahne, selbst genäht, und sie tanzte sehr schön mit ihr. Ich
       habe zu ihr gesagt: „Niemand sucht sich aus, wo er oder sie geboren wird.
       Ich spreche über Frauenrechte, über Liebe, über Frieden zwischen zwei
       Ländern, Iran und Israel. Ich habe palästinensische Freunde, ich lebe mit
       arabischen Menschen in einer Nachbarschaft, meine Tochter geht in eine
       Schule, in der auch ihre arabischen Freunde gehen. Ich bin, glaube ich,
       keine Person, auf die Sie wütend sein müssen.“ Ich habe sie gefragt, ob ich
       sie umarmen darf und ob sie mir ihre Fahne schenkt. Dann habe ich sie
       umarmt und sie hat mich ebenfalls gedrückt. Sie hatte einen Schmerz in
       ihrem Herzen, mit dem ich mich identifizieren konnte.
       
       Sie drücken diesen Schmerz mit Ihrer Musik aus. 
       
       Als ich mein erstes Album auf Farsi aufgenommen habe, habe ich gemerkt,
       dass ich zum ersten Mal etwas tue, um meine Seele zu heilen. Meine Wunde
       war offen. Ich wusste bis dahin nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich
       war bei vielen Psychologen, und sie haben mir immer geantwortet: „Ihnen
       geht es gut, sie führen ein normales Leben.“ Ja, richtig, aber ich war
       traurig und ich wollte wissen, wie ich diese Traurigkeit vertreiben kann.
       Wenn ich heute erlebe, wie viel Freude mir die Musik und die Konzerte
       machen, wenn ich sehe, wie Leute zu Texten tanzen, die sie meist gar nicht
       verstehen, und zu Rhythmen, die sie nicht kennen, habe ich das Gefühl,
       gesund zu werden.
       
       Haben Ihre Fans im Iran nach dem 7. Oktober Solidarität gezeigt? 
       
       Ich habe viel Unterstützung erfahren von Freunden und Fans aus aller Welt,
       aber besonders aus dem Iran. Die Welt kann sehen, wie viel Liebe es
       zwischen unseren Ländern gibt. Ich war vor kurzem auf mehreren
       Demonstrationen in London und auch dort waren viele Leute aus dem Iran. Sie
       denken, dass es an der Zeit ist, für uns und damit auch für sich
       aufzustehen, [2][weil wir einen gemeinsamen Feind haben]. Es gibt aber auch
       Fans, die mir schreiben, dass sie gegen Israel sind. Ich versuche ihnen zu
       erklären, dass niemand Krieg will. Niemand will siegen, wir haben am 7.
       Oktober schon verloren. Ich bin mit meinen Gedanken bei den Frauen, die
       vergewaltigt und in den Gazastreifen verschleppt wurden. Ich fordere alle
       Frauenorganisationen auf, sich für diese Frauen einzusetzen.
       
       11 Dec 2023
       
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