# taz.de -- Margaret Atwoods „Die Zeuginnen“: Die Töchter der Magd
       
       > 34 Jahre nach dem Bestseller „Der Report der Magd“ erscheint die
       > Fortsetzung. Parallel dazu gibt's die gehypte TV-Serie „The Handmaid’s
       > Tale“.
       
 (IMG) Bild: „Die Zeuginnen“ setzt fünfzehn Jahre nach der Handlung des ersten Romans ein
       
       Als Feministin will sie nicht bezeichnet werden. Nicht, weil Frauenrechte
       ihr nicht wichtig wären, sondern weil der Begriff mit so irritierend
       verschiedenen Zuschreibungen belegt worden sei. Und doch hat Margaret
       Atwood mit „Der Report der Magd“ (im Original: „The Handmaid’s Tale“,
       erschienen 1985) ein Buch geschrieben, das zu einem feministischen
       Klassiker avancierte.
       
       Es gebe nichts darin, das nicht schon irgendwo auf der Welt passiert sei,
       hat die Autorin wiederholt erklärt. Auch das zentrale Thema des Buches, der
       Gebär- und Fruchtbarkeitszwang für Frauen sei keineswegs frei erfunden. Im
       Rumänien Ceaușescus etwa habe man von Frauen gefordert, mindestens fünf
       Kinder zu gebären, Verhütung verboten und jährliche Fruchtbarkeitstests
       durchgeführt.
       
       Margaret Atwood schrieb den Roman in Westberlin, wo sie in den 1980er
       Jahren zeitweise als Stipendiatin des DAAD lebte. Auf den Veranstaltungen,
       die sie besuchte, wurde endlos über die Berliner Mauer diskutiert, und die
       DDR-Luftwaffe pflegte in Grenznähe Überschallfliegen zu üben. Das Erlebnis
       der Mauerstadt, verstärkt durch Reisen in realsozialistische Nachbarländer,
       hinterließ einen tiefen Eindruck bei der Kanadierin und ihrer Familie.
       
       Aus diesem Kontext wurde „Der Report der Magd“ geboren: die Geschichte
       eines totalitären Staats, in dem auch das Privatleben strengster Kontrolle
       unterworfen ist, Frauen keinerlei Rechte besitzen und missliebige weibliche
       Individuen zu Sex- und Gebärsklavinnen degradiert werden. Erstmals verfilmt
       wurde der Stoff 1990 von Volker Schlöndorff unter dem Titel „Die Geschichte
       der Dienerin“.
       
       Die derzeit so [1][gehypte Serie „The Handmaid’s Tale“] ist also bereits
       die zweite filmische Umsetzung – diesmal, so darf man annehmen, mit dem
       Wohlwollen und der Zustimmung der Autorin (die mit Schlöndorffs Version
       nicht hundertprozentig glücklich gewesen ist). In der ersten Staffel tritt
       Atwood höchstselbst in einem kurzen, aber heftigen Cameo-Auftritt in
       Erscheinung: Sie muss der Hauptdarstellerin Elizabeth Moss ins Gesicht
       schlagen.
       
       Die Serie, ausgezeichnet mit acht Emmys und zwei Golden Globes, bezieht
       einen Großteil ihrer Wirkung aus ihrer überragenden visuellen Umsetzung.
       Eine sehr dominante Lichtregie malt Bilder, die wirken wie Zitate alter
       holländischer Meister. Sorgfältig arrangierte Interieurs und streng
       einfarbige, symbolhafte Kostüme (diese sind keine Erfindung der
       Serienleute, sondern entstammen dem Roman) vermitteln schon visuell den
       Eindruck einer in sich abgeschlossenen, unnatürlich geordneten Welt.
       
       ## Dystopie rückt in Nähe der Realität
       
       Das DarstellerInnenensemble ist großartig. Der wichtigste Erfolgsfaktor für
       den sensationellen Serienerfolg in den USA allerdings dürfte im Politischen
       liegen. In der vergifteten gesellschaftlichen Atmosphäre von Trump-Amerika
       haben AntifeministInnen, Ultrarechte und militante AbtreibungsgegnerInnen
       in vielen Staaten wieder Oberwasser.
       
       Was eben noch ferne Dystopie war, rückt da wieder in beängstigende Nähe zur
       Realität. Und so ist denn auch das augenfälligste Requisit der Serie
       tatsächlich bereits in unsere Wirklichkeit eingedrungen: Nicht nur in den
       USA tragen DemonstrantInnen neuerdings zur optischen Lautverstärkung ihres
       politischen Protests die roten Gewänder und weißen Hauben der Serien-Mägde.
       In Irland sowie in Argentinien wird damit [2][gegen restriktive
       Abtreibungsgesetze demonstriert]. Und auch als Donald Trump Großbritannien
       besuchte, gingen in London rotgewandete Handmaid-Lookalikes auf die Straße.
       
       Während in Deutschland die dritte Staffel von „The Handmaid’s Tale“
       angelaufen ist, wird jenseits des Atlantiks bereits an der vierten
       gewerkelt. Nur die erste Staffel allerdings verarbeitet Atwoods Roman;
       bereits die zweite ist eine freie Fortspinnung. Das mag seine
       handlungsbedingte Berechtigung haben: der Roman hat ein offenes Ende. Man
       kann sich alles Mögliche vorstellen, das noch passiert.
       
       Vor allem eine Autorin wie Margaret Atwood selbst kann das natürlich. Mit
       „Die Zeuginnen“ hat sie nun, 34 Jahre nach Erscheinen des Vorgängerromans,
       eine Fortsetzung von „Der Report der Magd“ geschrieben, die gleichzeitig
       auch eine Art Fortsetzung der Serie ist. An deren Drehbüchern war die
       Autorin selbst nicht beteiligt. Um so bemerkenswerter ist diese Art der
       crossmedialen Koordination, wenngleich Atwoods Roman kein „Buch zur Serie“
       ist.
       
       „Die Zeuginnen“ setzt fünfzehn Jahre nach der Handlung des ersten Romans
       ein. Und somit auch weit nach der bisherigen Serienhandlung, nimmt
       allerdings indirekt durchaus auf die Verfilmungen Bezug. „The Handmaid’s
       Tale“ verfolgt durch alle Staffeln das Leben und Wirken der Hauptfigur
       Offred/June, die sich von der Gebärsklavin zur Widerstandskämpferin
       emanzipiert, und ihrer MitstreiterInnen. In der zweiten Staffel – deren
       Stoff bereits vom Roman unabhängig ist – wird Junes zweite Tochter geboren.
       Dieses kleine Mädchen macht Margaret Atwood nun zu einer Hauptfigur im
       Roman „Die Zeuginnen“.
       
       Als Säugling aus Gilead herausgeschmuggelt und aufgewachsen im sicheren
       Nachbarland Kanada (denn der Unrechtsstaat Gilead ist jenes Land, das einst
       die Vereinigten Staaten von Amerika waren) ist Daisy ein ganz normaler
       Teenager, in dessen Leben höchstens ein paar Dinge komisch sind. Etwa, dass
       ihre Eltern nie Fotos machen und es von daher auch keine Alben mit
       Babybildern von ihr gibt wie bei den anderen Kindern.
       
       In der Schule muss Daisy eines Tages ein Referat über das Baby Nicole
       halten – ein politisch äußerst wichtiges Baby, da Gilead nicht müde wird,
       die Herausgabe des Kindes, Tochter eines sehr hohen Funktionärs und seiner
       „Magd“, von Kanada zu fordern, wohin es im Säuglingsalter entführt worden
       sein soll. Dass sie selbst in Wirklichkeit Nicole ist und ihre Eltern gar
       nicht ihre Eltern sind, erfährt Daisy schockartig, als auf eben diese
       Eltern ein Anschlag verübt wird. An ein normales Teenagerleben ist danach
       nicht mehr zu denken.
       
       ## Abenteuerroman mit weiblichen Heldinnen
       
       Daisy/Nicole ist eine von drei Ich-Erzählerinnen – den „Zeuginnen“ – des
       Romans. Die weiteren sind zum einen ihre ältere Halbschwester, die ihrer
       Mutter bei deren gescheiterter Flucht aus Gilead weggenommen worden war.
       Sie ist bei fremden Eltern aufgewachsen. Des Weiteren eine Person aus dem
       Inneren der Diktatur, von der man vorher nicht gedacht hätte, dass sie in
       der Lage wäre, ein derart ausgefuchstes Doppelspiel zu spielen. Dass der
       totalitäre Staat Gilead irgendwann zu einem Ende kommen muss, hatte bereits
       „Der Report der Magd“ im Epilog offenbart. Es blieb nur offen, auf welche
       Weise.
       
       „Die Zeuginnen“, am Ende listig an den Epilog des ersten Romans
       anschließend, liefert diese Geschichte nun nach. Im Zuge dessen baut
       Margaret Atwood durchaus noch ein bisschen weiter am großen dystopischen
       Gilead-Gebäude. In den Erzählungen der älteren Halbschwester Agnes zum
       Beispiel wird der Roman um wichtige Informationen zum gileadischen
       Bildungswesen ergänzt. Die Mädchen werden in der Schule mit Handarbeiten
       und Floristik beschäftigt, Lesen ist bei Strafe verboten und allein den
       zölibatär lebenden „Tanten“ vorbehalten.
       
       Wirklich neue Dimensionen aber erschließen sich mit dem späten
       Fortsetzungsroman der 1939 geborenen Autorin nicht.
       
       Während „Der Report der Magd“ zu Recht als politisch anklagendes,
       kraftvolles Gedankenexperiment gelesen wurde, ist „Die Zeuginnen“ eine
       flott geschriebene Abenteuergeschichte. Nicht mehr, aber immerhin auch
       nicht weniger. Man denke nur: ein Abenteuerroman mit ausschließlich
       weiblichen Heldinnen!
       
       [3][Margaret Atwood, die Fabuliererin vor dem Herrn], falls frau das so
       sagen darf, versteht es zudem, Dinge schreibend so zu drehen und zu wenden,
       dass sie sich am Ende vielleicht ein wenig arg gezwirbelt, aber doch
       elegant zum erwünschten Erzählausgang zurechtlegen.
       
       Und wer die TV-Serie zwar genossen, aber den originalen, Atwoodschen touch
       of humor vermisst hat, wird sich freuen, diesen im Roman wiederzufinden.
       Und übrigens: Das Buch enthält wirklich fast gar keine Serienspoiler.
       
       21 Sep 2019
       
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