# taz.de -- Nahostkonflikt in Großbritannien: Die Gaza-Nachwahl
       
       > Im nordenglischen Rochdale wird ein neuer Parlamentsabgeordneter gewählt.
       > Linkspopulist George Galloway punktet mit einem Anti-Israel-Wahlkampf.
       
 (IMG) Bild: „Vote George Galloway“: Straße in Rochdale
       
       ROCHDALE taz | Abdul Choudhury rührt Teig in heißes Öl. Am Fenster der
       geschäftigen Bäckerei, in welcher der 42-Jährige arbeitet, klebt ein
       Wahlplakat. „Vote George Galloway for Rochdale“ steht da in großen
       Buchstaben vor dem Hintergrund einer palästinensischen Fahne, auf der auch
       ein Mann mit Hut und gekreuzten Armen abgebildet ist: [1][George Galloway],
       ein ehemaliger Labour-Politiker, der nun mit seiner „[2][Workers Party]“
       den nordenglischen Wahlkreis Rochdale holen will.
       
       In der Kleinstadt nahe Manchester wird am 29. Februar ein neuer
       Abgeordneter gewählt, weil der bisherige Labour-Abgeordnete Tony Lloyd mit
       73 Jahren an Krebs verstorben ist.
       
       „Ich bin für Galloway, weil er unerschrocken für Palästina ist und weil
       Labour hier über viele Jahre nichts erreicht hat“, ruft Choudhury hinter
       seiner Ölpfanne. Früher habe er immer Labour gewählt. Jetzt nicht mehr.
       
       Gegenüber in der Straße hat auch Metzger Waquas Bashir ein Galloway-Poster
       im Fenster und bezeichnet ihn als „meinen Politiker“. Gleiches beim
       Herrenfrisör Imran Rada ein bisschen weiter – er zeigt einen Post mit
       Galloway, wo dieser verkündet, er habe hier gerade bei Imran die beste
       Kopfmassage erhalten. „Das wird mir Kunden bringen“, freut er sich.
       
       Rochdale zählt eine große muslimische Gemeinschaft, und auf der Straße
       befragt, wollen sie alle Galloway wählen. Sie preisen seine Menschlichkeit
       und nennen ihn einen Mann, der ausspricht, was sie nur denken, aber nicht
       laut sagen dürfen: die „Macht der Zionisten“ etwa, oder das durch Israel
       „gestohlene Land“.
       
       Nicht sagen dürfe so etwas beispielsweise [3][Azhar Ali], bis vor zwei
       Wochen der Labour-Kandidat für Rochdale. Als die Zeitung Mail on Sunday
       herausfand, dass Ali den israelischen Staat beschuldigt hatte, für das
       Hamas-Massaker an 1.200 Israelis am 7. Oktober 2023 selbst verantwortlich
       zu sein, wurde er [4][von Labour fallengelassen]. Er steht aber weiter auf
       dem Wahlzettel, denn für eine Auswechslung war es zu spät.
       
       Nun geht Labour in einer Labour-Hochburg also ohne einen von Labour
       offiziell unterstützten Kandidaten ins Rennen. Das sorgt für Verwirrung.
       Eine auf der Straße angehaltene ältere Engländerin, die Labour wählen will,
       wusste von all dem nichts. Sie sagt, jetzt wisse sie gar nicht, wen sie
       wählen solle.
       
       George Galloway ist als Labour-Schreck kein Unbekannter. Er trat aus der
       Partei 2005 wegen Tony Blairs Irakkrieg aus und hat schon immer viel über
       Israel und den Zionismus zu schimpfen gehabt. Er gründete die Partei
       „Respect“, die sich vor allem an die britischen Muslime wandte. Zweimal
       gewann er damit Nachwahlen und saß kurzzeitig im Parlament.
       
       Auf Galloways Wahlkampfmaterial in Form einer vierseitigen Zeitung namens
       „Rochdale Post“ ist nachzulesen, dass seine Popularität wachse und dass er
       kandidiere, um den „Genozid in Palästina“ im Parlament anzusprechen. Ein
       Foto zeigt ihn mit dem ehemaligen PLO-Führer Yassir Arafat. Mit Galloways
       Wahl, heißt es, wird Rochdale international berühmt. Millioneninvestitionen
       würden in die Stadt fließen, neue soziale Einrichtungen könnten entstehen
       und der traditionsreiche lokale Fußballklub, derzeit Fünftligist, werde
       wieder aufsteigen.
       
       In der Fußgängerzone bezeichnet der 72-jährige Malcolm Greenwood Galloway
       zwar als „echten Mann“, intelligent und gerissen. Doch habe Rochdale einen
       besseren Kandidaten: [5][David Tully]. Der 49-Jährige, dessen Familie seit
       drei Generationen in Rochdale Autos repariert, will sich in Rochdale als
       Unabhängiger behaupten.
       
       „Ich besitze keine politischen Ansichten“, erläutert Tully im Gespräch mit
       der taz. Man wisse doch, was die Parteien bringen. Er hingegen setze auf
       den gesunden Menschenverstand. „Leute, die Gutes tun, die verarmten
       Familien oder Obdachlosen helfen, sollten im Mittelpunkt stehen!“ sagt er
       und verkündet, als Abgeordneter vor Parlamentsabstimmungen die
       Bürger:innen Rochdales um ihre Meinung zu fragen.
       
       Auch Leoni Winnie, 26, und ihrem derzeit arbeitslosen Lebenspartner Leroy
       Terry, 24, fällt nach anfänglichen Zögern kein Besserer als Tully ein. „Der
       ist kein Karrierepolitiker und er weiß, was wir hier brauchen“, findet
       Terry.
       
       Tully ist nicht der einzige Unabhängige. Einer der drei anderen ist Michael
       Howarth, der seit Jahrzehnten in Rochdale für Gerechtigkeit für die
       Überlebenden schwerster Sexualverbrechen an Kindern kämpft – ein großes
       Thema in dieser verarmten Stadt, wo einst die Labour-Stadtverwaltung
       bezichtigt wurde, die Täterschaft pakistanischstämmiger Jugendlicher beim
       organisierten Missbrauch minderjähriger Engländerinnen unter den Teppich
       gekehrt zu haben, um nicht des Rassismus bezichtigt zu werden. Von neun im
       Jahr 2012 unter anderem wegen Menschenhandel und Vergewaltigung
       Verurteilten waren acht pakistanischstämmig, es folgten weitere Prozesse.
       
       Howarths Bruder war selbst ein Opfer und brachte sich um. „Ich bin von hier
       und ich weiß, was hier gebraucht wird“, sagt er in seinem Hoodie vor dem
       Trödelladen, der die Dienste seiner Einrichtung mitfinanziert. Zum Beispiel
       mehr Hausärzte und Zahnärzte. Auf seinem Flyer fordert er außerdem, dass
       Einwander:innen im Land gleichmäßig verteilt werden müssten.
       
       ## Der Schatten vergangener Sexualverbrechen
       
       Howarth ist der Einzige, der einen weiteren Kandidaten nennt, der einst ein
       Labour-Abgeordneter war: [6][Simon Danczuk], der Rochdale von 2010 und 2017
       im Parlament vertrat. Er profilierte sich im Einsatz für eine Untersuchung
       der Sexualverbrechen an Kindern, wofür ihm auch Howarth Anerkennung zollt.
       Doch nachdem aufflog, dass Danczuk selbst mit einer 17-Jährigen sexuell
       explizite Nachrichten ausgetauscht hatte, wurde er 2015 von Labour – damals
       unter Parteichef Jeremy Corbyn – suspendiert.
       
       Inzwischen mit seiner dritten Ehefrau verheiratet, sie stammt aus Ruanda,
       will es Danczuk in Rochdale noch einmal versuchen – für die derzeit
       aufstrebende rechtspopulistische Kraft „Reform UK“, gegründet von Nigel
       Farage. Das macht Danczuk zum dritten ehemaligen Labour-Politiker im Rennen
       um Rochdale.
       
       Manche nennen die Liberalen die wahre Traditionspartei Rochdales, denn aus
       diesen ging im 19. Jahrhundert Englands genossenschaftliche Bewegung
       hervor, die in Rochdale entstand und später in Labour aufging. Von 1972 bis
       1992 vertrat der Liberale [7][Cyril Smith] Rochdale im Parlament. Danach
       wurden auch gegen ihn Anschuldigungen wegen pädophiler Sexualverbrechen
       laut. Gegen Smith haben über die Jahre zahlreiche Opfer ausgesagt. Er
       starb, bevor er zur Rechenschaft gezogen werden konnte, und es wird
       angenommen, dass er von seiner Partei gedeckt wurde.
       
       Heute tritt für die Liberaldemokraten der 59-jährige pensionierte
       Universitätsangestellte [8][Iain Donaldson] an. Auch er spricht in seinem
       Wahlkampfmaterial von Gaza und hebt hervor, dass sich seine Partei früh für
       eine Feuerpause eingesetzt hätte. Dazu ist ein Bild mit ihm und der
       liberaldemokratischen britisch-palästinensischen Abgeordneten Layla Moran
       zu sehen, die selbst Familie in Gaza hat.
       
       Aber Donaldsons Hauptthemen sind betont lokal: schmutziges Abwasser im
       Fluss, ungenügender Wohnungsbau, unaufgeklärte Einbrüche. Nachdem sowohl
       der Labour-Kandidat als auch der Kandidat der Grünen, von dem
       islamfeindliche Posts entdeckt wurden, nicht mehr als Kandidaten ihrer
       Parteien antreten, wittert Donaldson eine ungeahnte Chance für die Rückkehr
       der Liberaldemokraten in Rochdale.
       
       Wahlkampfhelfer der „LibDems“ strömen nun aus dem ganzen Land in die kleine
       Stadt. „Die meisten Menschen, mit denen ich spreche, erzählen von den
       Problemen hier. Ich verspreche nichts, was ich nicht halten kann, denn ich
       will nicht Abgeordneter werden und nichts erreichen“, sagt Donaldson.
       Anders als andere Kandidaten – es stehen in Rochdale ausschließlich Männer
       zur Wahl – trägt er Anzug mit Krawatte.
       
       Das Phänomen Galloway sieht Donaldson gelassen. „Der wird kommen und
       gehen.“
       
       Es bleibt ungewiss, wer das Rennen in Rochdale gewinnen wird, vor allem
       zwischen den drei ehemaligen Labour-Politikern. Viele Befragte haben die
       Politik ohnehin bereits begraben und wollen gar nicht mehr wählen.
       
       29 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://twitter.com/georgegalloway
 (DIR) [2] https://workerspartybritain.org/
 (DIR) [3] https://labourlist.org/2024/02/azhar-ali-who-is-labours-rochdale-by-election-candidate-what-did-he-say-and-whats-the-latest/
 (DIR) [4] /Grossbritanniens-Opposition-und-Israel/!5991677
 (DIR) [5] https://twitter.com/tully_david_
 (DIR) [6] https://twitter.com/Simon4Rochdale
 (DIR) [7] https://en.wikipedia.org/wiki/Cyril_Smith
 (DIR) [8] https://twitter.com/iaincdonaldson
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Großbritannien
 (DIR) Labour Party
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Ruanda
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Großbritannien
 (DIR) Schwerpunkt Brexit
 (DIR) England
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Großbritanniens Asylpolitik: Rückschlag bei Ruanda-Deal
       
       Der britische Premier möchte Asylbewerber nach Ruanda abschieben. Das
       Oberhaus fordert die Regierung nun auf, zu prüfen, ob das mit
       internationalem Recht vereinbar ist.
       
 (DIR) Nachwahl im Vereinigten Königreich: Gaza-Populist siegt
       
       George Galloway gewinnt bei einer Nachwahl den Parlamentssitz von Rochdale.
       Danach vergleicht er sich mit Winston Churchill.
       
 (DIR) Großbritanniens Opposition und Israel: Labour hat sich verknotet
       
       Labour entzieht einem Parlamentskandidaten die Unterstützung, weil er
       Israel die Schuld am Hamas-Massaker gab. Nun will ein linker Populist
       punkten.
       
 (DIR) Nordengland vor dem Brexit: Tristesse Royale im United Kingdom
       
       Die Labour-Hochburgen im Norden haben mehrheitlich für den Brexit votiert.
       Die britische Linke ist weiterhin gespalten, wie sie damit umgehen soll.
       
 (DIR) Im englischen Rochdale: Besuch im kooperativen Herzen
       
       Hier wurden die ersten Kooperativen gegründet. Sie sollten während der
       Industrialisierung Menschen vor Armut und unsicherer Arbeit schützen.