# taz.de -- Nazi-Vergangenheit: Verrätselte Erinnerung
       
       > Die Villa Schlikker in Osnabrück war Sitz der NSDAP. Mit der Geschichte
       > des „Braunen Hauses“ setzt sich die Ausstellung „Es wird gewesen sein“
       > auseinander.
       
 (IMG) Bild: Verstörender Anblick, der für die Traumata des Bombenkriegs steht: Dieses Mädchengesicht fand Heinz-Hoek in einem Familienfoto.
       
       Es gibt Orte, denen haftet das Grauen an, selbst nach Jahrzehnten noch. Das
       Kellergeschoss der Osnabrücker Villa Schlikker ist ein solcher Ort. Wer
       hier hinabsteigt, tut es „auf eigene Gefahr“, warnt ein Schild an der
       steilen, engen Treppe. Es riecht muffig hier unten, in den Luftschutzräumen
       des einstigen „Braunen Hauses“: Von 1932 bis 1945 war die Villa Sitz der
       Kreisleitung der NSDAP. Stahltüren, schmale Durchlässe, niedrige Decken,
       zerfressener Putz. Ein Ort, der abwehrt, der Beklemmung weckt.
       
       Und dann sind da diese beiden Fotos. Unscharf, wie von Brandblasen
       überzogen. Ein Mädchengesicht zeigen sie, deformiert, mit fragenden, vom
       Schreck geweiteten Augen. Ein harter, hypnotisierender Anblick, tief
       verstörend. Marikke Heinz-Hoek hat das Gesicht in einem Familienbild
       gefunden und vergrößert. Aufgenommen wurde das Foto in Berlin, vielleicht
       1944. „Für mich steht es für die Traumata des Bombenkriegs“, sagt sie.
       Dessen Sirenen hat sie selbst noch erlebt. „Meine Eltern haben mich im
       Wäschekorb in den Bunker getragen“, erzählt sie. Neben den Fotos klebt eine
       handgeschriebene Karte, wie aus der Kartei eines Archivs: Objekt 20 und
       21.
       
       Die beiden Gesichter sind Interventionen in die stadthistorische
       Dauerausstellung der Villa, an deren Balkon früher „Dank und Heil dem
       Führer!“ hing. Heute ist das Haus Teil des MQ4, des Osnabrücker
       „Museumsquartiers“ – neben dem Kulturgeschichtlichen Museum, dem Akzise-
       und dem Felix-Nussbaum-Haus. Dutzende dieser Eingriffe lässt Marikke
       Heinz-Hoek in ihrer Ausstellung „Es wird gewesen sein“ auf die „Aura des
       Hauses“ antworten, subtil, bewegend, Augen öffnend.
       
       Es sind Arbeiten aus 1990ern bis heute. Und die Bremer Künstlerin macht es
       dem Betrachter mit ihnen nicht leicht. Wer ihre Interventionen finden will,
       der braucht Spürsinn – in diesem verwinkelten, großbürgerlichen Bau von
       1900, mit seinen Holztreppen, Parkettböden, Kronleuchtern und hohen, mit
       Stuck und Farbmustern verzierten Decken, seinen Tausenden von Exponaten,
       vom Kinderspielzeug-Zimmer bis zum Kolonialwarenladen.
       
       ## Sammeln und Transformieren
       
       Die beiden Mixed-Media-Arbeiten „Do we learn from history“ zum Beispiel,
       Objekt 51 und 52, auch sie finden sich unten in den Luftschutzräumen:
       Frauen von heute, gezeichnet auf Fotos von Trümmerlandschaften. Eingerahmt
       von einer fleckigen Krankentrage, einem Feldbett und einem
       Arzneimittelschrank, sind sie auf den ersten Blick kaum auszumachen.
       
       Der Betrachter soll auf die Suche gehen. Was er findet, reicht vom Brief
       bis zum Video, von der Zeichnung bis zum Buch, vom Lyrikfragment bis zur
       Chinaporzellan-Tasse. Marikke Heinz-Hoek füllt Räume mit Sounds, zitiert
       Comics, verfremdet – und verfremdet Verfremdungen. Das Generalthema ihres
       multiassoziativen Gesamtkunstwerks: die Entstehung von Erinnerung.
       
       „Es geht um das Sammeln, Recherchieren, Transformieren“, fasst
       Museumsleiter Nils Arne Kässens zusammen, während er auf den kleinen Park
       blickt, der die Villa von draußen so irritierend idyllisch wirken lässt.
       „Es geht um die Erforschung von Geschichte, das Erzählen von Geschichten.“
       Realität mische sich dabei mit Fiktion.
       
       Weit muss Heinz-Hoek in ihrem „Hinein-Imaginieren“, in ihren „Strategien
       der Legendenbildung“ oft gar nicht gehen – ihre Nähe zum „Braunen Haus“ ist
       groß. „Mein Vater war in der Osnabrücker NSDAP Propagandaleiter“, erzählt
       ihr Mann Wolfgang Heinz, ohne den es manch technischen Part von „Es wird
       gewesen sein“ nicht gäbe. „Er hat also genau hier gearbeitet. Und das aus
       starker Überzeugung; seine Parteimitgliedsnummer lag unter 100.000. Als er
       erkannte, was geschah, war es zum Aussteigen zu spät. So blieb ihm nur,
       sich als Soldat zu melden. Das hat er dann auch getan, 1939.“
       
       Mit der Ausstellung von Marikke Heinz-Hoek, deren Arbeiten schon von Seoul
       bis New York zu sehen waren, in Venedig oder Riga, sendet Kässens ein
       Signal. Das Haus, in dem oft kaum Leben herrschte, bevor er 2016 nach
       Osnabrück kam, braucht einen neuen Aufbruch – und Heinz-Hoeks
       Verrätselungs-Experiment zeigt, wohin er führen kann.
       
       Ungewöhnlich ist schon dessen Entstehung. „Ich bin durchs Haus gegangen und
       habe es von oben bis unten abgefilmt“, sagt Kässens. Und Heinz-Hoek
       ergänzt: „In diese Virtualität hinein habe ich dann geplant. War perfekt.“
       Der Effekt: Die Grenzen zwischen den Exponaten der Dauerausstellung und „Es
       wird gewesen sein“ verschwimmen. Das löst Authentizitätszweifel aus – und
       dadurch genaueres Hinsehen.
       
       Bei einigen Installationen ist die Sache einfach: Sie sind eindeutig neu
       hier im Haus. Diese fünf Videos zum Beispiel, die im Loop laufen, vor altem
       Kinogestühl, gegenüber ein Fritz-Lang-Plakat: Eine Gruppe junger
       Sowjetsoldaten auf dem Leipziger Bahnhof, vor der Perestroika-Abfahrt nach
       Hause, halb unscharf, zur Zeitlupe verlangsamt, verdeckt aus der Ferne
       gefilmt; der Zoom auf die Zwangsarbeiter-Gedenktafel am halb gesprengten
       Bremer U-Boot-Bunker Hornisse; das zur Ausstellung erschienene
       Künstlerbuch, behutsam Seite um Seite umgeblättert; oder der Schatten der
       Künstlerin auf einem Grabstein.
       
       Anderes ist nicht so leicht zu identifizieren: eine Wand voller Bilder,
       darunter eins von Heinz-Hoek? Leicht zu übersehen. Herausfordernd auch, zu
       entschlüsseln, ob das Fundstück nun aus Heinz-Hoeks eigenem Leben stammt
       oder vom Flohmarkt, ob es wirklich alt ist oder nur alt wirkt.
       
       Die Briefe, die Alfred Jodl 1946 während des Nürnberger
       Kriegsverbrecherprozesses schrieb, auf einem Schreibtisch Weiß auf Schwarz
       unter Plexiglas. Direkt daneben, wie weggeworfen, ein kleiner Haufen
       Hitlerbüsten, mit Hakenkreuzflagge? Ja, es sind Jodls Briefe. Und, ja, sie
       sind optisch verfremdet. Die Briefe von Willi Schuver, der im Ersten
       Weltkrieg fiel? Nein, alles echt. Schuver ist Heinz-Hoeks Verwandter, 1914
       war er in Osnabrück stationiert.
       
       „Es wird gewesen sein“ ist eine Kooperation mit dem Syker Vorwerk bei
       Bremen. Kässens kennt auch dieses Haus gut, er war dort künstlerischer
       Leiter. Eine gute Synergie. Das Thema ist dasselbe, die Exponate sind
       andere. Eines davon, in Osnabrück: Karl Krolows Gedicht „Lesen“. „Ohne
       Vorwurf vergeht die Zeit, sie ist eine vollkommene Geschichte ohne
       Fluchtpunkt, auf den man zugehen könnte, um etwas zu finden.“ Besser lässt
       sich diese stille, nachdenkliche, emotionale und fordernde Schau nicht
       bündeln.
       
       21 Sep 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Harff-Peter Schönherr
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Nationalsozialismus
 (DIR) Osnabrück
 (DIR) Schwerpunkt Nationalsozialismus
 (DIR) Kunstmarkt
 (DIR) NS-Verfolgte
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Umstrittener Kunst-Verkauf: Nussbaum-Haus bangt um Bilder
       
       Die Industrie- und Handelskammer Osnabrück will ihre drei Bilder von Felix
       Nussbaum verkaufen – und zwar zu marktüblichen Preisen. Warum? Weil es
       geht.
       
 (DIR) NS-Film über Familiengeschichte: Über die Grenze
       
       In „Flucht 1937“ erzählt die 14-jährige Abigail Mathew die Geschichte ihres
       Uropas, der sich in Osnabrück gegen den NS-Terror auflehnte.