# taz.de -- Neuer Roman von Christoph Hein: Kein Klugscheißer, Mnemotechniker
       
       > Wenn das Erinnern gefährlich wird: Christoph Heins Jahrhundertroman
       > „Trutz“ ist ein literarisches Bollwerk wider das historische Vergessen.
       
 (IMG) Bild: Jedes seiner Bücher stellt sich gegen die Vernichtung des Humanen: Christoph Hein
       
       Der erste Satz in „Trutz“ wird in die Literaturgeschichte eingehen. So wie
       viele andere Sätze im neuen Werk von Christoph Hein. „In diesen Roman
       geriet ich aus Versehen oder durch eine Bequemlichkeit.“ Sehr bescheiden
       lässt der Icherzähler die fast 500 Seiten beginnen, aber bescheiden oder
       bequem ist nichts an diesem Buch. Allein die Erzählperspektive und der
       sachliche Chronistentonfall sind höchst artifiziell.
       
       Nein, hier ist kein Autor am Werk, der in den Archiven auf eine spannende
       Geschichte gestoßen ist und der sich nun freut, die Lebensgeschichte einer
       außergewöhnlichen Familie zwischen zwei Buchdeckel zu pressen.
       
       Die für Christoph Hein typische Sachlichkeit ist keineswegs sprachliches
       Unvermögen, wie manche Kritiker irrtümlich meinen. Der trockene Tonfall ist
       seine ureigene Erfindung, sie ist Einsicht in die literarische
       Notwendigkeit. Anders als im Duktus des Chronisten wären die Dramen, von
       denen Hein erzählt, auch nicht auszuhalten.
       
       Auf einer Veranstaltung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der
       SED-Diktatur meldet sich ein Mann und moniert einige Fehler im Vortrag der
       Referentin. Das Interesse des neugierigen Erzählers ist geweckt. Der Mann
       heißt Maykl Trutz und ist kein Klugscheißer, wie die pikierte Referentin
       meint. Trutz hat vielmehr eine erstaunliche Ausbildung hinter sich, ein
       Gehirntraining der Sonderklasse. Er wurde nämlich in Moskau von Waldemar
       Gejm, einem Professor für Mathematik und Sprachwissenschaft, in der Kunst
       der Mnemonik unterwiesen.
       
       Die Mnemotechnik ist ein ausgeklügeltes Gedächtnistraining. Wer sie
       beherrscht, ist beim Erinnern klar im Vorteil. In Zeiten von Faschismus und
       Stalinismus, in denen nicht die Wahrheit zählt, sondern der blinde
       Gehorsam, können allerdings genaue Erinnerungen und der Wunsch, sie auch zu
       formulieren, lebensgefährlich werden. „Das Vergessen wird belohnt, nicht
       das Gedächtnis“, sagt Maykl Trutz, und er weiß, wovon er redet.
       
       Die Eltern von Trutz sind vor den Nazis von Berlin nach Moskau geflüchtet,
       sie versuchen mehr schlecht als recht im stupiden Arbeitssystem der
       Stalinisten zu überleben, und sie werden schließlich, genau wie die
       befreundeten Gejms, vom sowjetischen Terror in den Tod getrieben. Mit einer
       fast schon bürokratischen Präzision beschreibt Christoph Hein, wie Maykls
       Vater, der eigentlich Schrifsteller hätte werden wollen, im Gulag
       malträtiert wird – weil er nach dem Angriff Hitlers auf die Sowjetunion als
       Deutscher unter Generalverdacht steht und weil er noch zu seinen Berliner
       Zeiten eine sowjetische Propagandaschrift in der legendären Weltbühne
       kritisiert hatte.
       
       ## Literarische Rache
       
       Die Ohnmacht der Deportierten ist mit den Händen zu greifen, aber Hein ist
       so klug, dass er es in seinem Text nicht menscheln lässt. Vielmehr wird die
       sprachliche Klarheit zur literarischen Rache an den ideologisch verdrehten
       Folterknechten.
       
       Immerhin, Maykl Trutz entkommt dem stalinistischen Terror, siedelt in die
       DDR über, aber auch dort wiederholt sich das bekannte Drama: Wer nicht
       vergessen kann und die Herrschenden an Widersprüche und Lügen erinnert,
       wird kaltgestellt. Es gibt in diesem Roman oft den Moment, an dem man sich
       fragt, ob sich Christoph Hein diese Geschichte wirklich ausgedacht hat, so
       detailversessen ist der Text und so kunstvoll sind die Schauplätze und
       Erzählebenen miteinander verknüpft.
       
       Hein ist selbst ein großer Gedächtniskünstler, in dessen Werk die
       Unwahrheiten und Verbrechen seiner Epoche eingeschrieben sind. Mit einem
       unermesslichen Arbeitseifer scheint der Schriftsteller jener Musenmutter
       Mnemosyne zu huldigen, der griechischen Göttin der Erinnerung. Erst im
       vergangenen Jahr erschien „Glückskind mit Vater“, ein ebenso gewaltiger wie
       historisch versierter Roman. Nun hat Christoph Hein abermals ein Werk
       vorgelegt, das in seiner Analyse und Vielschichtigkeit beeindruckt. Selbst
       in dunkelsten Konstellationen weiß er helle Szenen einzurichten, kleine
       Familienanekdoten zu erzählen, groteske Geschichten aus der Verlagswelt der
       Weimarer Republik.
       
       Der Autor geht mit diesen Hoffnungsschimmern sehr geschickt um; er ist ein
       kluger Dramaturg seines sperrigen Stoffs. So entsteht schon auf den ersten
       Seiten eine Spannung, die man bei der Anlage und beim Thema dieses Romans
       zunächst nicht für möglich hält. Immer, wenn der Leser glaubt, die Figuren
       hätten das Schlimmste überlebt, schlagen die Schergen wieder zu, die im
       Auftrag einer Diktatur einsperren, Angst verbreiten und morden.
       
       ## Schriftsteller von Weltrang
       
       Am Ende dieses in seiner Trostlosigkeit wiederum tröstenden Textes stehen
       der Wodka auf dem Tisch und der verzweifelte Wunsch des traurigen Maykl
       Trutz im Raum, endlich zu vergessen, was nicht zu ändern ist. Aber weder
       Schnaps noch Resignation werden verhindern, dass die Geschichte seiner
       Gedächtnisrebellion erzählt wird. Dafür sorgt schon der bescheidene
       Chronist Hein, der aber viel mehr ist, nämlich ein Schriftsteller von – in
       der DDR hätte man wohl gesagt – Weltrang.
       
       Der 1944 im niederschlesischen Heinzendorf geborene Autor ist einer der
       wichtigsten literarischen Stimmen im deutschsprachigen Raum. Das sieht man
       nicht zuletzt, wenn man sich die Liste seiner zahlreichen Auszeichnungen
       anschaut. Darauf stehen der Heinrich-Mann-Preis und der Lessing-Preis,
       beide in der DDR vergeben. Aus Westdeutschland kamen bislang unter anderem
       der Peter-Weiss-Preis, der Eichendorff-Literaturpreis und der
       Uwe-Johnson-Preis. In der Schweiz wurde er mit dem Solothurner
       Literaturpreis geehrt. In Wien erhielt er den Erich-Fried-Preis und den
       Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.
       
       Christoph Hein ist ein europäischer Autor deutscher Sprache, und wenn man
       sich die Themen seiner Theaterstücke und Prosawerke anschaut, stellt man
       fest: Hier werden die großen historischen Katastrophen und politischen
       Brüche in Europa erzählt, dieser Autor lässt sich durch keine Ideologie
       oder Weltanschauung vereinnahmen, er seziert die Ungerechtigkeit, unter der
       seine Figuren zu leiden haben.
       
       ## Flaschenpost der Aufklärung
       
       Dass man ihm aber immer noch nicht den Büchner-Preis bzw. den Friedenspreis
       des deutschen Buchhandels verliehen hat, halte ich für einen kleinen
       Skandal. Hein hat nicht im Mief der Bundesrepublik wohlfeil gegen Zensur
       geredet, er hat schon in der DDR für Meinungsfreiheit gestritten – und
       damit nicht nur seine berufliche Zukunft aufs Spiel gesetzt.
       
       Hein hat es sich nie leicht gemacht. Als er die DDR verlassen konnte, ist
       er trotzdem geblieben, wo man ihn nicht haben wollte. Im Westen hat man ihn
       als Autor gefeiert, solange er in einem anderen Staat lebte. In der
       Berliner Republik dann bekam er es mit einer westdeutschen
       Theater-Journaille zu tun, die ihn als Intendanten im Deutschen Theater
       verhinderte. Weil sie ihm vorwarfen, er wolle in dem Haus einen Hort für
       Ostalgiker einrichten. Ausgerechnet Christoph Hein! Was für ein
       tragikomischer Witz, welche Lehrstunde für die manipulative Rezeption von
       Geschichte.
       
       Immerhin, der Autor hatte mehr Zeit zu schreiben, und wie gut er das kann,
       hat er nun mit „Trutz“ erneut bewiesen. Dieser Roman ist ein literarisches
       Bollwerk wider das Vergessen, ein brillant aufgefächertes historisches
       Panorama, das die Widerwärtigkeiten der diktatorischen Systeme im Europa
       des 20. Jahrhunderts mit nahezu juristisch-präziser Erzählkunst anklagt. Im
       literarischen Raum der Erinnerung gibt es zum Glück keine Verjährung.
       Dieser Roman sollte Pflichtlektüre in Schulen und so zu einer Flaschenpost
       der Aufklärung werden, die umso nötiger erscheint, da wir noch immer unter
       den Folgen von Faschismus und Stalinismus zu leiden haben und deren
       skrupellose Erben auch weiterhin an der Vernichtung des Humanen arbeiten.
       
       29 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Carsten Otte
       
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