# taz.de -- Neues Album von Deichkind: Inkontinente Kapitalismuskritik
       
       > Rap is over. Deichkind sind nun eine Saufband mit CEO, der die Themen des
       > neuen Albums, „Wer Sagt Denn Das?“ per Marktanalyse ermittelte.
       
 (IMG) Bild: Schön skurril – Deichkind regen nicht nur zum Lachen, sondern auch zum Nachdenken an, ohne Moralin
       
       Die Gruppe Deichkind spricht in fremden Zungen. „Ich möchte an dieser
       Stelle deutlich sagen: Mir ist es wichtig, dass Deichkind als Saufband
       wahrgenommen werden“, sagt Sebastian Dürre im Sonntagsredentonfall. Auf dem
       Tisch, an dem er mit seinen Bandkollegen Platz genommen hat, stapeln sich
       Bücher und Kram. Damit sich niemand langweilt, während JournalistInnen die
       immer gleichen Fragen stellen, lassen die Hanseaten ihre
       GesprächspartnerInnen zur Begrüßung eine Actionkarte ziehen. Die
       entscheidet über die Art der Konversation: Zur Auswahl stehen zum Beispiel
       das „kulinarische Interview“ und das „Mode-Interview“.
       
       Die Karte mit dem „politischen Interview“ ist vergeben, bleibt „das
       Schauspielinterview“. [1][Sebastian Dürre alias „Porky“], Philipp „Kryptik
       Joe“ Grütering und Henning Besser, der bei Deichkind als „La Perla“
       firmiert, werden in spontan erdachte Rollen schlüpfen: Regisseur La Perla
       gibt den abgebrühten Geschäftemacher, eine Art CEO, der aus seinem getunten
       Mercedes „Öko-Freaks“ auslacht. MC Porky wird zum desillusionierten
       No-Bullshit-Typen. Und Kryptik Joe, MC, Beatbastler und einziges
       verbliebenes Gründungsmitglied, nimmt den Part des Gefühlsbetonten mit Hang
       zu krummen Metaphern ein: „Für mich ist das Thema Deichkind sehr
       emotional“, sagt er ernst. „Ein Ozean des Seins, an den permanent die
       Wellen der Gefühle platschen.“ Alle fallen bald aus der Rolle.
       
       Ein Interview zum Happening zu machen, das auch die Künstler unterhält, ist
       ein bewährtes Konzept. Die Ärzte brachten damit schon ReporterInnen an die
       Grenzen ihrer Möglichkeiten, US-Sängerin St. Vincent empfing die Presse
       zuletzt in einem pinkfarbenen Holzwürfel. Im Falle von Deichkind ist das
       Rollenspiel-Gespräch vielleicht die aufrichtigste Art des Dialogs. Zum
       einen, weil Deichkind zu dadaistisch für Geradeaus-Antworten ist. Und zum
       anderen, weil das Spiel mit Sprecherpositionen die Grundfrage ihres neuen,
       siebten Albums aufgreift: „Wer Sagt Denn Das?“
       
       Im Titelsong stellen Deichkind alles infrage, angebliche Fakten, Binsen und
       sogar sich selbst: „Wer sagt, dass impulsive Menschen keine Grenzen
       kennen?“, zitieren sie ihren Hit „Remmidemmi“. Im Video reißen sich der
       Youtuber Rezo und „Tagesschau“-Sprecherin Linda Zervakis ihr eigenes
       Gesicht als Maske herunter. Zum Vorschein kommt: Kryptik Joe. Der Song
       umkreist, bei aller Party-Brachialität, knifflige Themen wie Fake News,
       Urheberschaft und Wahrheitsanspruch. Dabei kommen Deichkind zwar ohne auch
       nur ein Debatten-Buzzword aus, bringen uns aber trotzdem zur Frage: Kann es
       auch eine Chance sein, dass eine Gesellschaft alte Gewissheiten neu
       aushandeln muss – oder macht das Kommunikation unmöglich?
       
       ## Massenkompatibler Sägezahn-Elektrosound
       
       Begonnen haben Deichkind ihre Karriere vor mehr als 20 Jahren, damals noch
       als linientreue HipHop-Crew. Mit Alben wie „Befehl von ganz unten“ wendeten
       sie ihren Sound Mitte der nuller Jahre gen Electropunk. Durch Konzerte
       zwischen Kunstperformance, Mummenschanz-Revue und Saufspektakel festigten
       sie ihren Legendenstatus als vielköpfiges Eskapismuskommando, entwickelten
       zugleich etwas, das sich als politisches Sendungsbewusstsein deuten lässt.
       
       In der deutschen Popszene sind Deichkind die Ausnahme. Mit ihrem massen-
       wie chartskompatiblen Sägezahn-Elektrosound passen sie auf jede Abifahrt
       nach Lloret de Mar, bewegen sich aber trotzdem im Umfeld der
       Ballermann-unverdächtigen Hamburger Humorboheme: Beim Gespräch mit
       Deichkind ist auch Gereon Klug anwesend, Autor, DJ, Werbetexter aus dem
       Zirkel von Studio Braun und Gründer des Hamburger Plattenladens
       „Hans-E-Platte.“ Er hatte einst die Songidee zum Hit „Leider geil“.
       Überhaupt sind Deichkind eher Kollektiv als verschworene Mini-Einheit: Auf
       „Wer Sagt Denn Das?“ schaut etwa Bela B. vorbei. Als Komponist war unter
       anderem Maurice Summen beteiligt, Chef des Berliner Labels Staatsakt.
       Ausgeschieden ist dagegen Sascha „Ferris MC“ Reimann, der bis 2018 zehn
       Jahre lang für Deichkind rappte.
       
       Es wäre nicht ganz richtig, zu behaupten, Deichkind spielen sich im
       Gespräch die Bälle zu. Eher werfen alle drei den Ball unkontrolliert durch
       den Raum – aufgefangen wird er irgendwie trotzdem. In rascher Folge fallen
       also Sätze, die wenig Sinn, aber Riesenfreude machen: „Jeder Schmied ist
       seines Glückes Herd.“ – „Faulheit und Freiheit sind phonetisch nah
       beieinander.“ – „Die Kelly Family hat einen saumäßigen ökologischen
       Fußabdruck, schon wegen der ganzen Haare, die sie rumliegen lassen.“ Um
       Organhandel und E-Roller geht es auch.
       
       Im Videoclip zu ihrem Song „Richtig gutes Zeug“ turnen Deichkind in
       absurden Verkleidungen durch das Berliner KaDeWe. Schauspieler Lars
       Eidinger, aktuell Dauergast im Bandkosmos, lässt sich mit Stickern
       bekleben, füttert ein Babyschwein mit Essstäbchen und steckt sich Babymais
       in die Nase. Warum? Warum nicht. Ist ja auch nicht dümmer als die Begierde,
       die künstliche Verknappung erzeugt: „Richtig gutes Zeug, da musst du
       richtig lange suchen für“, raunt Kryptik Joe im Song. Welches Produkt
       gemeint ist, bleibt nebulös. Hauptsache, „mega schwer zu kriegen“.
       
       ## Mit Phrasensensor!
       
       Deichkind haben einen feinen Phrasensensor. Sie lauschen dem Alltag die
       dümmsten Plattitüden ab und spielen sie in konzentrierter Form in die Welt
       zurück. Dabei sind Deichkind selten wirklich ironisch, vielmehr stellen sie
       eine grell ausgeleuchtete Version der Gegenwart aus und ähneln in gewisser
       Weise einer anderen großen Eventgruppe des Landes: Rammstein, deren Sänger
       Till Lindemann einen Gastauftritt im Song „1000 Jahre Bier“ hat. Während
       man in der teutonischen Wurst- und Horrorshow von Rammstein in aller Ruhe
       das Verdorbene und Verbotene beglotzen kann, spiegelt sich im
       Deichkind-Panoptikum eher das Allzumenschliche: „Eigentlich lieb ich
       Theater, aber drei Stunden sind echt zu lang“, heißt es in „Quasi“,
       Deichkinds Hymne an die faulen Ausflüchte. Ob Inkonsequenz schlimm sei?
       „Inkontinenz find ich schlimmer“, sagt Porky.
       
       Der Vorschlag zur Güte nach der Gegenwartsdiagnose bleibt aus bei
       Deichkind. Statt den Zeigefinger zu heben, affirmieren sie den Wahnsinn.
       Man fühlt sich in ihren Songs von seiner eigenen Blödheit trefflich
       unterhalten, darf im Strobolicht des spätkapitalistischen Stumpfsinns baden
       und sich trotzdem erleuchtet fühlen. „Es hat keinen Sinn, dass wir uns mit
       gesellschaftspolitischen Ideen aufhalten“, sagt Porky in seiner Rolle als
       Realist. „Popmusik kann nicht die Welt verändern. Wir haben eine
       erfolgreiche Rezeptur, und die beinhaltet Party und saufen. Das sollten wir
       weiter durchziehen. Niemand interessiert sich dafür, ob es eine
       Wechselwirkung zwischen Publikum und Künstler gibt!“
       
       CEO La Perla beschreibt die Bandstrategie anders. „Wir haben vor der
       Aufnahme eine große Marketinganalyse in Auftrag gegeben, die genau gezeigt
       hat, wer unsere Fans sind und was sie hören wollen. Pseudolinke Parolen
       scheinen angesagt zu sein, gemischt mit ein bisschen Hedonismus. Das war
       klar aus den Werteclustern herauszulesen. Solange die Leute zu uns in die
       Mehrzweckhallen kommen, ist mir scheißegal, was wir da aufführen.“
       
       Die „echten“ Deichkind sind [2][nicht nihilistisch], kennen aber keine
       Moral. Das unterscheidet sie vom Gros der politischen Künstler in
       Deutschland, die alles furchtbar gut meinen, aber mit ihrem didaktischen
       Ansatz den Uneindeutigkeiten der Gegenwart nicht ganz gerecht werden. In
       ihren besten Momenten machen Deichkind Denkarbeit, indem sie Denkfaulheit
       performen. „Alter, war das anstrengend“, sagt Kryptik Joe am Ende des
       Interviews. Zum Abschied verschenkt Gereon Klug Merci-Pralinen.
       
       26 Sep 2019
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) Julia Lorenz
       
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