# taz.de -- Papst Pius IX. erfand die Kirche neu: Dogma und Tristesse
       
       > Eine neue Biografie zeigt, wie Papst Pius IX. im 19. Jahrhundert dem
       > Katholizismus eine neue Tradition erfand. Die Kirche prägt er bis heute.
       
 (IMG) Bild: Die unbefleckte Empfängnis Mariens machte er zum Dogma: Pius IX. Fotografiert wurde er 1877
       
       Er habe ein „Herz aus Stein“, kein Mensch nehme „es mit der Wahrheit
       weniger genau“, sagen Zeitzeugen von Rang. „Manche Teilnehmer an Audienzen
       berichten sogar davon, seine Reden hätten irr gewirkt. Auf andere Besucher
       machte er den Eindruck von Größenwahn. Einige hielten ihn schlicht für
       verrückt“, schreibt Hubert Wolf über den Gegenstand seiner neuen
       biografischen Forschung.
       
       Was klingt, als reihe sich die Veröffentlichung des Kirchenhistorikers
       nahtlos in die ausufernde Deutungsliteratur zum gegenwärtigen
       US-Präsidenten, sind Charakterzüge, die einer gewichtigeren weltpolitischen
       Größe zukommen. Eine schwache Persönlichkeit mit Papas Netzwerk und
       Allmachtfantasien an der Spitze einer sich auf unabänderliche Wahrheiten
       berufenden Institution, die es – im Gegensatz zu Donald Trump – aber
       schaffte, tatsächlich den Machtapparat komplett zu kontrollieren und das
       System, in dem sie aufstieg, zu ihren Gunsten umzubauen.
       
       Die unlautere Parallele zieht Wolf freilich nicht. „Der Unfehlbare“ heißt
       die biografische Studie zu Papst Pius IX., jenem Heiligen Vater, der das
       Bild, das innerhalb wie außerhalb der römisch-katholischen Kirche zum
       modernen Papsttum vorherrscht, entscheidend prägte: Ein Charismatiker, der
       sich den Bedrängnissen der Moderne nicht unterwirft: gebeugt von der Last
       der Welt, aber nicht gebrochen. Statt um den barocken Bombast fülliger
       Prälaten des 17. und 18. Jahrhunderts geht es hier also um die Tristesse
       der Neoromanik, um Marienerscheinungen als „kollektive Dramen“, um
       hagiografische Kitschikonografie: Um eine Kirche im Umbruch, am Beginn des
       Zeitalters der Massenmedien.
       
       Der künftige Papst wird 1792 in die Zeit der Französischen Revolution
       geboren, die auch die weit verzweigten ideologischen Fronten innerhalb des
       Katholizismus verhärtet, zwischen Liberalen und Zelanti, Eiferern, die um
       das kirchliche Verhältnis zur sich verändernden Welt ringen.
       
       ## Das Papsttum als absolute Herrschaft
       
       Auch als Gianmaria Mastai Ferreti im Jahr 1846 den Papstthron besteigt,
       sind diese Kämpfe noch nicht ausgefochten – sie werden sein beinahe 32
       Jahre währendes Pontifikat prägen. Unter Pius schwindet der
       politisch-weltliche Einfluss der Kirche, der Kirchenstaat löst sich in
       einem vereinigten Italien auf und im Erstarken des Konzepts
       republikanischer Nationalstaaten.
       
       Gleichzeitig setzt sich das Papsttum als absolute, zentralistische
       Herrschaft über die Gesamtheit der Katholik*innen der Welt durch, regieren
       die Päpste nach dem Papst, der das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit
       durchsetzte, noch in jede Landgemeinde hinein. Am Ende steht der
       Kulturkampf Bismarcks gegen die als ausländischen Agent*innen verstandenen
       Katholik*innen im Deutschen Reich.
       
       Auch auf theologischer Ebene spaltet Pius’ Vatikanisches Konzil im Jahr
       1871 die Gemeinschaft der Gläubigen: „Man hat eine neue Kirche gemacht“,
       zitiert Wolf den Theologen Ignaz von Döllinger, Vordenker der
       Altkatholischen Bewegung, die sich den zentralistischen Reformen verweigert
       und schließlich von Rom abspaltet.
       
       Als „Invented Tradition“ bezeichnet die Kulturwissenschaft Traditionen, die
       aus Gründen der Identitätsfindung einer Gruppe als solche erfunden werden.
       Geprägt von Eric Hobsbawm, versammelt der heute umstrittene Begriff –
       welche Tradition könne schon ‚authentisch‘ sein? – Phänomene vom Yoga bis
       zum Schottenrock. Der Katholizismus ist voll von solchen Momenten,
       behauptet Wolf, sei es Tridentinischer Ritus oder Unbefleckte Empfängnis.
       
       ## „Eine Kalte Dusche für alle“
       
       Das Argumentieren mit neu geschaffenen Traditionen zeichnet er als
       Strategie der Umgestaltung der Kirche durch Pius und sein Umfeld. So
       zitiert er einen Parteigänger der umstrittenen päpstlichen Unfehlbarkeit
       mit den bezeichnenden Worten: „Nicht die Historiker […] sind zu befragen,
       sondern das lebende Orakel der Kirche“ – es müsse eben das „Dogma die
       Geschichte besiegen“. Und Pius selbst sagt: „Ich bin die Tradition!“
       
       „Die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert“ heißt das Buch auch
       folgerichtig im Untertitel. Glücklicherweise verzichtet der
       Münsteraner Kirchenhistoriker diesmal auf den vulgär-aufklärerischen
       Habitus vieler seiner Werke, die im Untertitel gerne mit „Unterdrückten
       Traditionen“ und „Geheimnissen“ argumentieren.
       
       Der Verlag lässt es sich aber nicht nehmen, von einer „kalten Dusche für
       alle, die im Papst den Repräsentanten uralter Traditionen sehen“, zu
       sprechen – so als sei der Katholizismus noch immer der Endgegner statt ein
       sich selbst durch Schweigen verurteilendes Auslaufmodell, dem seit Jahren
       die Mitglieder in Scharen davonlaufen: das Karstadt der Christenheit.
       Dieses Buch spricht kritisch und parteiisch, aber ohne den Gestus einer
       Abrechnung.
       
       Statt kalter Dusche ist es eine nicht immer voraussetzungsfreie, aber doch
       gut lesbare Studie zu den Grundlagen der heutigen katholischen Lebens- und
       Glaubensrealität, in der die Verflechtungen von Glauben und Politik
       sichtbar werden, die Zeitlichkeit überzeitlicher Dogmen hervortritt. In
       seinem rasenden Antimodernismus ist Pius im Endeffekt eine überaus moderne
       Gestalt. Auch darum liest sich „Der Unfehlbare“ mithin als packender
       Politthriller – und ist so auch für Atheist*innen eine lohnende Lektüre.
       
       23 Sep 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Steffen Greiner
       
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