# taz.de -- Präsidentschaftswahl in Kolumbien: Tanzen und singen an ihrer Seite
       
       > Francia Márquez könnte Kolumbiens erste schwarze Vizepräsidentin werden.
       > Für viele Arme ist sie eine Hoffnungsträgerin.
       
 (IMG) Bild: Francia Márquez (Mitte) feiert bei der Kundgebung mit lokalen Bands und Unterstützer:innen
       
       Die Frau, auf die viele Kolumbianer*innen ihre Hoffnungen setzen,
       wartet geduldig mit vor dem Bauch verschränkten Händen, bis der Senator
       seine lange Rede beendet hat. Fast schüchtern wirkt sie auf der Bühne, als
       sie dem Publikum winkt. Bis sie mit fester Stimme ansetzt: „Guten Abend,
       Cali! Seid ihr bereit, köstlich zu leben?“ Die Menge vor ihr antwortet mit
       Jubel.
       
       Es ist ein Sonntagabend Mitte Mai. Seit zwei Uhr nachmittags haben Hunderte
       Menschen hier auf dem großen Platz vor der Schule Colegio Compartir in der
       prallen Tropensonne gefeiert, getanzt, Parolen gerufen – und auf Francia
       Márquez gewartet. Sie könnte Kolumbiens erste Schwarze Vizepräsidentin
       werden, sollte der linke Präsidentschaftskandidat Gustavo Petro die Wahl am
       Sonntag gewinnen.
       
       Zum ersten Mal überhaupt könnte Kolumbien einen linken Präsidenten
       bekommen. Gustavo Petro könnte sogar ohne Stichwahl gewinnen. Er liegt in
       allen Umfragen vorn. Bereits bei den Parlamentswahlen im März hat das linke
       Parteienspektrum deutlich zugelegt.
       
       Die kolumbianische Gesellschaft ist im Umbruch. Die Pandemie hat
       Ungleichheit und Not verstärkt. Etwa [1][40 Prozent der
       Kolumbianer*innen sind arm]. Vor allem die Jungen sind verzweifelt,
       weil sie keine Zukunft sehen und ein neues Kolumbien wollen.
       
       ## Gescheiterte Sicherheitspolitik
       
       Präsident Iván Duque wird deshalb immer unbeliebter. Der Ultrarechte hat
       alles getan, um das Friedensabkommen zwischen dem Staat und der ehemaligen
       Farc-Guerilla zu torpedieren. Dessen Umsetzung würde große Verbesserungen
       für die Landbevölkerung bringen und die Ursachen des mehr als 50 Jahre
       währenden Konflikts angehen. Doch wo die Farc-Guerilla das Terrain räumte,
       hat der Staat keine Präsenz aufgebaut – dagegen andere bewaffnete Gruppen,
       die um die Vorherrschaft kämpfen.
       
       Duques Sicherheitspolitik ist gescheitert. Zum Leid der Menschen auf dem
       Land. Fast täglich wird ein*e Aktivist*in oder ein*e frühere
       Farc-Kämper*in ermordet. Die Massaker und Massenvertreibungen nehmen zu.
       Kolumbien droht, wieder in die Gewaltspirale zurückzufallen. Niemand
       spricht das so klar aus wie Francia Márquez. Denn sie hat die Gewalt am
       eigenen Leib erlebt.
       
       Francia Márquez ist Feministin, Umweltschützerin, Aktivistin, Anwältin. Und
       sie ist Vertriebene, Schwarz, arm, alleinerziehend. Sie hat viel gemein mit
       den Menschen, die da vor ihr im armen Osten der Großstadt Cali stehen.
       
       Es sind Eltern mit ihren Kindern, die Kleinsten sitzen auf ihren Schultern.
       Gekommen sind auch Frauen-Kollektive, Anhänger*innen der Partei
       Comunes, die Partei der ehemaligen Farc-Guerilla, außerdem sieht man
       Indigene in traditionellen Gewändern – und sehr viele Junge. Darunter viele
       Menschen, denen man ansieht, dass ihnen nichts in den Schoß fiel. Ihre
       Hände sind abgearbeitet, manchen fehlen Zähne, ihre Kleidung ist billig und
       gepflegt. Viele von ihnen sind Schwarz. Cali ist die Stadt mit dem höchsten
       Afro-Anteil in Kolumbien.
       
       Die Leute schwenken Fahnen, haben Plakate gebastelt, Collagen erstellt. Da
       schwebt die Taube vom Kirchenkalender zwischen zwei Bildern der Kandidatin,
       auf T-Shirts ist Francia Márquez zur Zeichentrickfigur aus dem Disney-Film
       „Encanto“ geworden. „Entzücken“ oder „Verzauberung“ heißt das wörtlich. Aus
       der Menge ruft immer wieder jemand: „Ich liebe dich, Francia!“
       
       Für Márquez ist der Abschluss des Wahlkampfs im Osten von Cali ein
       Heimspiel. Es sei der Ort, „der uns aufnimmt, wenn der Krieg uns aus
       unserem Zuhause vertreibt“, sagt sie. So hat sie es selbst erlebt. 2014
       musste sie mit ihren beiden Kindern aus der Konfliktregion Cauca nach Cali
       fliehen und kam hier unter.
       
       Francia Elena Márquez Mina, 40 Jahre alt, stammt aus der
       afrokolumbianischen Gemeinschaft La Toma in den Bergen nahe der
       Pazifikküste, wo bewaffnete Gruppen aktiv sind. Diese alten Gemeinschaften,
       die von Sklav*innen abstammen, stehen theoretisch wie indigene
       Gemeinschaften in Kolumbien unter besonderem Schutz. Der Kampf um ihre
       Rechte wurde zu Márquez’ Lebensaufgabe.
       
       Als Kind steht sie dort mit einer Schüssel im Ovejas-Fluss und schürft
       Gold, um Geld zu verdienen. Wie so viele. Als Teenagerin beginnt sie, sich
       im Umweltschutz zu engagieren – in Kolumbien ist das bis heute
       lebensgefährlich. Eine Bergbaugesellschaft will den Ovejas-Fluss, von dem
       die Existenz ihrer Gemeinschaft abhängt, zu einem Stausee umleiten. Es
       gelingt, das zu stoppen. Doch die Regierung hat Lizenzen an Bergbaukonzerne
       vergeben, ohne die Gemeinschaften vor Ort zu konsultieren. Das ist illegal.
       
       Bergleute kommen in Scharen in die Gegend, fällen Bäume, wühlen die Erde um
       und vergiften den Fluss mit Quecksilber. [2][Tausende Menschen werden
       vertrieben.] [3][Ein Video dazu] ging vor Kurzem viral. Die junge Márquez
       spricht darin davon, dass die Konzerne Wohlstand versprachen und Elend
       brachten.
       
       Mit 16 wird sie zum ersten Mal schwanger, weil sie keine Sexualerziehung
       hatte. So erzählt sie es Tausenden Menschen in diesem Wahlkampf, als
       mahnendes Beispiel. Nur dank der Unterstützung ihrer Familie kann sie
       weiter die Schule besuchen. Später studiert sie Jura, um die Rechte ihrer
       Gemeinschaft besser durchsetzen zu können.
       
       Denn der Fluss und das Leben der Menschen werden weiter angegriffen. 2014
       trommelt Márquez rund 80 Afrofrauen aus ihrer Gemeinschaft zusammen. Sie
       gehen zu Fuß bis in die Hauptstadt Bogotá, über 600 Kilometer weit, und
       protestieren dort 20 Tage lang für ihre Rechte. Der „Marsch der Turbane“,
       benannt nach den Kopfbedeckungen der Frauen, hat Erfolg: Die illegalen
       Bergleute werden vertrieben, ihre Maschinen zerstört. 2018 erhält Francia
       Márquez für ihr Engagement [4][den Goldman-Preis], der als
       Umwelt-Nobelpreis gilt.
       
       Das Private ist politisch, das gilt auch bei Francia Márquez. Ihre
       Lebensgeschichte gleicht der von Millionen Kolumbianer*innen. Sie macht
       ihnen Hoffnung. Zumindest darauf, dass sie endlich jemand versteht. Manche
       in der Menge an diesem Abend haben zwischen den Begeisterungsrufen Tränen
       in den Augen.
       
       Auf der Bühne sind den ganzen Nachmittag Bands aus der Nachbarschaft
       aufgetreten, wo Armut, Gangs und Gewalt Alltag sind. „Sie haben Kunst statt
       Gewalt gewählt“, sagt Márquez, als sie ihnen in ihrer Rede dankt.
       
       Dann fordert sie kostenlose und gute Bildung. Sie erzählt, dass sie sieben
       Jahre brauchte für den Abschluss als Anwältin. „Nicht, weil es mir an
       Fähigkeiten fehlte, sondern weil ich den Lebensunterhalt für mich und meine
       Kinder verdienen musste.“ Sie weiß, wie es ist, wenn man zwischen dem Geld
       für den Bus zur Uni und einer Mahlzeit entscheiden muss. Damit spricht sie
       vielen Jungen aus der Seele, die 2021 auf die Straßen gingen und unter
       anderem für mehr Bildung protestierten.
       
       Márquez hat wie so viele Generationen vor ihr als Hausangestellte geputzt
       und auf fremde Kinder aufgepasst, um die eigenen durchzubringen. Sie sei
       stolz darauf, sagt sie. Und dass sie mehr vom Leben wolle.
       
       „Sie haben sich über sie lustig gemacht, weil sie Schwarz und eine Frau
       ist. Sie sagten, dass Petro jetzt eine Köchin hat“, sagt die
       Afrokolumbianerin Elizabeth Cáracaz, die mit ihrer feministischen Garde bei
       allen Veranstaltungen in Cali das Sicherheitskonzept unterstützt hat.
       „Francia will, dass wir Frauen endlich Teil der Politik werden“, fügt sie
       hinzu.
       
       Sie habe nicht darum gebeten, in die Politik zu gehen, sagt Márquez auf der
       Bühne. „Aber die Politik hat sich mit mir angelegt. Und jetzt legen wir uns
       mit der Politik an. Weil sie uns immer gesagt haben, dass die Politik
       nichts für uns Frauen ist. Dass wir Schwarze Frauen als Hausangestellte bei
       einer Familie arbeiten sollen. Wir müssen diese Ketten der Unterdrückung
       durchbrechen.“
       
       Im Viertel Llano Verde am Rand der Großstadt, wo die Armen gestrandet sind
       und bewaffnete Banden um ihre Kinder werben, wurden am 11. August 2020 fünf
       Jungen ermordet in einem Zuckerrohrfeld gefunden. Kein Einzelfall in dieser
       Gegend. Für Francia Márquez war Llano Verde der Wendepunkt. Vier Tage nach
       dem Mord an den Jungen [5][verkündete sie], dass sie Präsidentin von
       Kolumbien werden wolle. Ein Grund: „Ich will, dass unsere Kinder keine
       Angst haben müssen, ermordet zu werden.“ Damals dachten wohl viele, sie
       habe mit ihrer Kandidatur den Verstand verloren.
       
       Anderthalb Jahre später denkt das niemand mehr. Am 23. März wählten die
       Kolumbianer*innen den Kongress und bestimmten zugleich die
       Präsidentschaftskandidaten der aussichtsreichsten Wahlbündnisse. Francia
       Márquez holte überraschend 783.000 Stimmen für den Pacto Histórico
       (Historischer Pakt), [6][die drittmeisten insgesamt]. In einem anderen
       Bündnis wäre sie damit Präsidentschaftskandidatin. Ohne aus einer der
       einflussreichen politischen Familien zu stammen, ohne Geld für teuren
       Wahlkampf. Der linke Kandidat Gustavo Petro machte sie zu seiner Vize.
       
       ## Sie hat das Land bereits verändert
       
       Márquez zielt in ihrem Wahlkampf auf Frauen, Junge und Erstwähler*innen
       sowie Indigene und Afrokolumbianer*innen. Es ist ihr sogar gelungen, die
       sozialen Bewegungen hinter sich zu versammeln. „Der Moment ist gekommen, um
       Politik von unten zu machen. Denn so können wir das Land wirklich
       verändern. Last uns gemeinsam diesen Wandel bewirken!“, ruft sie in Cali
       über den Platz.
       
       Egal, wie es am Sonntag für sie ausgeht: Sie hat das Land bereits
       verändert. Nach ihrem Erfolg bei den Vorwahlen haben plötzlich auch andere
       Präsidentschaftskandidaten Schwarze Vizekandida*innen nominiert.
       
       Ihre Kandidatur macht einige nervös in Kolumbien. Noch immer gehört Gewalt
       zum politischen Geschäft. In ihre Herkunftsregion kann Márquez nicht
       zurück. Zu viele bewaffnete Gruppen kämpfen in Cauca mittlerweile um die
       Vorherrschaft. 2019 überlebte Márquez dort ein Attentat unverletzt. Sie
       hatte sich mit anderen Führungspersönlichkeiten der Region versammelt, um
       die Verhandlungen mit der Regierung wegen der indigenen Minga
       vorzubereiten. Bewaffnete Männer erschienen, beschossen die Gruppe und
       warfen eine Granate. Zwei Leibwächter [7][wurden verletzt]. Erst vor Kurzem
       wurde ein Anführer ihres Wahlbündnisses im Cauca ermordet.
       
       Im Wahlkampf erhielt sie mehrere Morddrohungen. Ein Trupp von Leibwächtern
       weicht nicht von ihrer Seite. Während ihrer öffentlichen Reden flankieren
       sie zwei dieser Männer mit schweren Metallschildern, sollte jemand aus dem
       Publikum etwas werfen oder sie – wie zuletzt in Bogotá – mit einem
       Laserpointer attackieren.
       
       Niemand betont die afrokolumbianischen Wurzeln so wie sie – und niemand
       wird deshalb so angefeindet. Der Senatspräsident sagte ohne Beweise, dass
       sie mit Unterstützung der ELN-Guerilla nominiert wurde – eine
       Unterstellung, die die arme Landbevölkerung und alle, die in Kolumbien für
       ihre Rechte auf die Straße gehen, nur zu gut kennen. Eine ultrarechte
       Senatorin legte ihr nahe, ihren Vornamen zu ändern, denn es sei unpassend
       für sie, wie eine ehemalige Kolonialmacht zu heißen. Eine bekannte Sängerin
       beleidigte Márquez als „King Kong“.
       
       Wenn man sich bei Menschen in Cali umhört, die sie von früher kennen, weil
       sie sich dort jahrelang in sozialen Bewegungen engagierte, sagen diese,
       dass sie nie gedacht hätten, dass Márquez in die Politik gehen würde. „Sie
       war genau wie wir anderen Frauen“, sagt eine, die sie von Arbeitstreffen
       kennt. Eine Anführerin an der Basis.
       
       Damals trug Márquez noch öfter Jeans und T-Shirt. Heute kleidet sie ein
       23-jähriger Designer von der Pazifikküste ein, der sich von Mustern aus
       Afrika inspirieren lässt – in leuchtenden Farben. Eines dieser jungen
       Talente, die eine Chance verdienen, wie es laut Márquez so viele in
       Kolumbien gibt.
       
       Beim Wahlkampfabschluss in Cali trägt sie eine hochgeschossene senffarbene
       Bluse mit geschlitzten Ärmeln und einen knallig bunt bedruckten Rock mit
       seitlichen Rüschen. Dazu wie immer Armbänder und große Ohrringe.
       
       Ihr krauses Haar hat sie nie geglättet. Allein das ist eine politische
       Botschaft in einem Land, wo eine Fernsehjournalistin einen Skandal
       verursachte, als sie auf einmal mit Afronaturlocken auf dem Bildschirm
       erschien – und wo eine der bekanntesten Anhänge*innen der rechten
       Regierungspartei mit Haarglättungs-Chemikalien ihr Geld verdient.
       
       Nicht nur wegen der bunten Kleidung sticht sie aus der politischen
       Landschaft heraus. Márquez spricht unangenehme Wahrheiten aus. Sie hat eine
       neue Sprache in den Wahlkampf gebracht – die der afrokolumbianischen und
       indigenen Gemeinschaften, der Menschen vom Land. An ihrer Seite tanzen und
       singen bei den Auftritten die Mayoras, die weisen alten Frauen, die in den
       Afrogemeinschaften so geschätzt werden.
       
       Ein politisches Amt hatte Francia Márquez noch nie. Ihre Unerfahrenheit
       wird am häufigsten an ihr kritisiert. Für die Menschen auf dem Platz spielt
       das keine Rolle. „Viele Leute, die jetzt an der Macht sind, hatten oft auch
       keine Erfahrung, sondern kamen auf ihre Posten, weil sie aus
       einflussreichen Familien stammen“, sagt Jorge Enrique Caicedo, 39 Jahre
       alt, ein afrokolumbianischer Anwalt, der früher Streifenpolizist war, es
       aber wegen Korruption, Machtmissbrauch und Rassismus bei der Polizei nicht
       mehr aushielt. Die seit Jahrzehnten regierende politische Klasse habe
       Kolumbiens Probleme nicht gelöst. Im Gegenteil.
       
       Für Präsidentschaftskandidat Gustavo Petro, der Márquez nur gegen
       Widerstand nominierte, wurde sie der große Trumpf – auch bei Frauen im
       bürgerlichen Milieu. „Ich denke wie meine Enkelin: Ich werde für Francia
       stimmen – und den Präsidenten, der mit ihr kommt“, sagt die 72-jährige
       Nancy Ruiz bei einer Wahlkampfveranstaltungen in Medellín. Die hellhäutige
       Dame mit dem sorgsam frisierten Haar, der dunklen Brille und dem
       Goldschmuck erinnert an einen Hollywoodstar.
       
       Tatsächlich war sie früher Geschäftsführerin und lange Jahre in der
       Gewerkschaft aktiv. Es freut sie, dass die jungen Frauen und Mädchen heute
       mehr für ihre Rechte eintreten. Im Lions Club und in ihrer Familie stehe
       sie ziemlich alleine mit ihren Ansichten da. „Sie leben in ihrer Blase, mit
       ihrer Finca und ihrer Pension, und denken, weil es ihnen gut geht, geht es
       allen so.“
       
       ## Nicht immer ganz glücklich
       
       Ruiz hat ihrer Enkelin die Studiengebühren und den Bus bezahlt und erzählt
       empört, dass die jungen Generation in Kolumbien trotz Qualifikation nur
       Dreimonatsverträge bekomme.
       
       Gustavo Petro gilt in Kolumbien als Linker. In Deutschland würde man ihn
       eher als Sozialdemokraten mit Hang zum Populismus einstufen. In seiner
       Jugend war er Mitglied der urbanen M-19-Guerilla, später Bürgermeister von
       Bogotá, zuletzt Senator. Als Bürgermeister kümmerte er sich verstärkt um
       die ärmeren Bevölkerungsschichten. Er ist seit Jahrzehnten Berufspolitiker
       – und kämpft gegen seinen Ruf als Macho. Nicht immer ganz glücklich.
       
       Im Wahlkampf veröffentlichte er einen sogenannten Dokumentarfilm: „Die
       Politik der Liebe“. In dem schildert er neben Monologen vor der heimischen
       Bücherwand auch ausgiebig seine Verführungstaktiken und lässt sich beim
       Engtanz mit seiner Frau filmen. Da hilft es wenig, dass Tochter Sofía ein
       flammendes Plädoyer für ihren Vater hält. Zumindest in seinen Ansprachen
       sind Frauen und Gleichberechtigung mittlerweile präsenter als früher.
       
       Es ist Petros dritter Anlauf auf die Präsidentschaft, auch 2018 hatte er
       kandidiert. Damals zog er mit der bekannten Feministin und
       Sozialpolitikerin Angela María Robledo als Vize ins Rennen. Das ging nicht
       gut. Robledo attestierte Petro später Nachholbedarf in Sachen
       Gleichberechtigung. Mittlerweile hat sie sich wieder hinter ihn gestellt –
       vor allem wegen Francia Márquez.
       
       Tatsächlich ist Márquez in ihren Ansichten radikaler als Petro. Beide
       wollen nicht nur mit der ELN-Guerilla, sondern mit allen bewaffneten
       Gruppen Friedensgespräche führen. Dazu eine echte Reform der
       Sicherheitskräfte, die für Menschenrechtsverletzungen berüchtigt sind. Und
       sie wollen die heimische Landwirtschaft stärken.
       
       Márquez setzt sich anders als Petro bedingungslos für ein liberales
       Abtreibungsrecht ein. Wenn es nach ihr geht, soll die Legalisierung von
       Drogen auch deutlich weiter gehen, um dem Drogenhandel die
       Geschäftsgrundlage zu entziehen, der für viel Gewalt im Land verantwortlich
       ist. „Wir werden keine Entwicklung schaffen, wenn wir den Krieg in diesem
       Land nicht stoppen“, sagt Márquez, die in Havanna bei den
       Friedensverhandlungen zwischen Regierung und Farc-Guerilla dabei war.
       
       Petro unterlag vor vier Jahren dem jetzigen Amtsinhaber Iván Duque, dem
       politischen Ziehsohn des mächtigen Ex-Präsidenten Álvaro Uribe. Uribe ist
       immer noch mächtig, aber [8][zum ersten Mal einer Verurteilung
       nähergerückt]. In seine Amtszeit fallen mindestens 6.402 Morde an
       unschuldigen Zivilist*innen, die die Armee als Guerilla-Kämpfer*innen
       verkleidete (falsos positivos). Die Sonderjustiz für den Frieden und die
       Wahrheitskommission decken Stück für Stück auf, was der Grund der
       Gewaltspirale ist.
       
       Präsidentin will sie selber eines Tages immer noch werden, das hat Francia
       Márquez deutlich gesagt. Doch erst einmal strebt sie das Amt der
       Vizepräsidentin an. Deren Aufgaben hängen davon ab, wie der Präsident das
       Amt zuschneidet. Es ist nicht davon auszugehen, dass sich Francia Márquez
       mit Händeschütteln und symbolischen Ehrungen zufrieden geben wird. Petro
       hat angekündigt, dass Márquez im Falle eines Wahlsiegs auch an der Spitze
       eines neuen Gleichberechtigungsministeriums stehen werde.
       
       29 May 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.portafolio.co/economia/pobreza-en-colombia-aun-esta-lejos-de-volver-a-las-cifras-prepandemia-564454
 (DIR) [2] https://rutasdelconflicto.com/notas/cauca-el-mundo-la-lucha-francia-marquez-no-termina
 (DIR) [3] https://www.eltiempo.com/elecciones-2022/presidencia/francia-marquez-video-viral-de-cuando-era-joven-660791
 (DIR) [4] https://www.goldmanprize.org/recipient/francia-marquez/
 (DIR) [5] https://twitter.com/FranciaMarquezM/status/1294673550129889280?s=20&t=JwVpvY8F1niV4-WhaqqWaQ
 (DIR) [6] /Wahlen-in-Kolumbien/!5838480
 (DIR) [7] https://www.defensoria.gov.co/es/nube/enlosmedios/7877/Rechazan-atentado-contra-Francia-M%C3%A1rquez-y-otros-l%C3%83%C2%ADderes-en-Cauca.htm
 (DIR) [8] https://www.asuntoslegales.com.co/actualidad/la-corte-constitucional-ratifico-la-calidad-de-imputado-al-expresidente-alvaro-uribe-3342904
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina Wojczenko
       
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