# taz.de -- Primo Levi warnte vor neuem Faschismus: Kämpfen, um Mensch zu bleiben
       
       > Vor hundert Jahren wurde Primo Levi geboren. Sein Buch „Ist das ein
       > Mensch?“ hat 1947 das Wesen der NS-Vernichtungsmaschinerie beschrieben.
       
 (IMG) Bild: Primo Levi. Das Foto entstand Ende der 1940er Jahre. 1947 erschien sein Buch „Ist das ein Mensch?“
       
       Vor hundert Jahren, am 31. Juli 1919, wurde Primo Levi in Turin geboren. Er
       überlebte ein Jahr in Auschwitz und schrieb eines der ersten Bücher über
       die Realität der Vernichtungslager. „Ist das ein Mensch?“ erschien im
       Oktober 1947 in einer Auflage von 2.000 Stück in Italien und näherte sich
       unerschrocken der Wahrheit.
       
       Denn nach dem Krieg wurde über die Existenz der Vernichtungslager
       geschwiegen. Die Ursache dieses Schweigens sah Levi aber nicht in der
       Feigheit oder der Müdigkeit der Menschen, sondern in ihrer Scham. Scham
       über das jedes Vorstellungsvermögen sprengende Verbrechen. Scham darüber,
       was das Lager auch aus seinen Opfern gemacht hatte.
       
       „Auch Brüderlichkeit und Solidarität, die letzte Kraft und Hoffnung der
       Unterdrückten, schwinden im Lager. Es ist der Kampf aller gegen alle: Dein
       erster Feind ist dein Nachbar, der es auf dein Brot und deine Schuhe
       abgesehen hat“, schrieb Levi später. „Du selbst musst kämpfen, um nicht
       Wolf zu werden, um Mensch zu bleiben.“
       
       Einer der Albträume, die Levi und viele andere in den Lagern heimsuchten,
       handelte davon, dass niemand ihren Bericht hören wollte: „Der
       Gesprächspartner hört uns nicht zu, er versteht nicht, ist zerstreut, er
       geht und lässt uns allein.“
       
       ## Eine fundamentale Erfahrung
       
       Schon im Lager haben die Menschen Angst, dass niemand sie verstehen wird,
       falls sie gegen jede Wahrscheinlichkeit überleben sollten. „Doch erzählen
       müssen wir: das ist eine Pflicht gegenüber den Gefährten, die nicht
       heimgekehrt sind, und eine Aufgabe, die unserem Überleben Sinn verleiht.
       Wir haben (nicht durch unser Verdienst) eine fundamentale Erfahrung gemacht
       und einige Dinge über den Menschen gelernt, die zu verbreiten wir für
       notwendig erachten“, schrieb Levi 1975 in einem Leitartikel für La Stampa.
       
       Primo Levi rekonstruierte in „Ist das ein Mensch?“ seinen Aufenthalt im
       Lager. Er erinnerte sich an seine Gedanken, an seine Träume und an die
       Gespräche, die er führte. Er beschrieb die Ökonomie des Vernichtungslagers.
       
       Vor allem aber befasste er sich mit der alles überdeckenden
       Gleichgültigkeit, die sich in den meisten Menschen einstellt, wenn ihre
       Lebensumstände so brutal und hoffnungslos sind, dass es ihnen nur noch
       darum geht, diesen Tag, die augenblickliche Situation des Hungers, der
       Entkräftung, der Arbeit in Lumpen in der Eiseskälte des polnischen Winters
       zu überleben. Selbst unglücklich zu sein „in der Weise der freien Menschen“
       ist ihnen nur noch in seltenen Momenten möglich.
       
       ## Hier ist kein Warum
       
       Der Ich-Erzähler von „Ist das ein Mensch?“ berichtet aber nicht nur. Er ist
       nicht bloßer Zeuge. Der Autor Levi recherchierte wie ein Historiker und er
       analysierte sowohl die chemische Zusammensetzung von Zyklon B als auch das
       Lagersystem als solches. Er stellte Überlegungen dazu an, was die Existenz
       der Lager in der Geschichte bedeutet. Für Levi waren sie ein Angriff auf
       die Menschlichkeit.
       
       Schon während der Deportation beginnt Levi zu verstehen, dass er einem
       Phänomen gegenübersteht, das nur schwer zu begreifen ist: „Wie kann man
       einen Menschen ohne Zorn schlagen?“ Als Levi im Lager ankommt, bricht er
       einen Eiszapfen ab, weil er durstig ist. Er wird ihm sofort weggenommen.
       Sein „Warum?“ wird so beantwortet: „Hier ist kein Warum.“ Sein Kamerad Iss
       Clausner hat einen Satz in den Boden seines Essnapfs geritzt. Er sieht ihn
       jedes Mal, wenn er den Napf leergekratzt hat: „Ne pas chercher à
       comprendre.“
       
       ## Ihr Deutschen habt das fertiggebracht
       
       Die Sinnlosigkeit der Existenz der Sklaven im Lager gehört wesentlich zu
       dessen perfider Maschinerie. Levi erklärte seinen Leserinnen und Lesern,
       dass der Vernichtungsapparat der Nationalsozialisten darauf abzielte, die
       Menschen schon vor ihrer Ermordung zu entmenschlichen. Ihnen und allen
       anderen sollte gezeigt werden, dass es sich bei ihnen nicht um Menschen,
       sondern um Dinge handelte.
       
       „Den Menschen zu vernichten ist fast ebenso schwer, wie ihn zu schaffen: Es
       war nicht leicht, es ging auch nicht schnell, aber ihr Deutschen habt das
       fertiggebracht. Da sind wir nun, willfährig unter euren Augen. Von uns habt
       ihr nichts mehr zu fürchten. Keinen Akt der Auflehnung, kein Wort der
       Herausforderung, nicht einmal einen richtigen Blick.“
       
       Levi formuliert diese Sätze fast am Ende von „Ist das ein Mensch?“. Sie
       sollen zeigen, was das Lager aus seinen Insassen gemacht hat, während sie
       der Hinrichtung eines Mannes beiwohnen müssen, der Widerstand geleistet
       hat. [1][Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau hatte eines der
       Krematorien in die Luft gesprengt.] Bevor der Mann stirbt, ruft er, in
       einem letzten Akt der Selbstbehauptung und der Verteidigung der
       Menschlichkeit: „Kameraden, ich bin der Letzte!“
       
       ## Außerhalb der Welt der Verneinung
       
       Die Mehrheit der jüdischen Häftlinge überlebte in Auschwitz maximal drei
       Monate. NS-Propagandaminister Joseph Goebbels beschrieb das Verfahren in
       einem Gespräch mit SS-Chef Heinrich Himmler als „Vernichtung durch Arbeit“.
       Viele Juden wurden bereits direkt nach der Ankunft selektiert und ermordet.
       
       Dass Levi überlebte, verdankte er glücklichen Zufällen und der Hilfe
       anderer. Sechs Monate lang versorgte ihn der italienische Zwangsarbeiter
       Lorenzo Perrone täglich mit einer Zusatzration Suppe und Brot, ohne eine
       Gegenleistung zu erwarten. „Lorenzo aber war ein Mensch. Seine
       Menschlichkeit war rein und unangetastet, er stand außerhalb dieser Welt
       der Verneinung. Lorenzo zu Dank war es mir vergönnt, dass auch ich nicht
       vergaß, selbst noch ein Mensch zu sein“, schrieb Levi über ihn.
       
       Als sein Kapo ihn schon als „halb kaputt“ bezeichnete, konnte Levi in Buna,
       dem Werk der IG Farben in Auschwitz-Monowitz, als Chemiker im Labor zu
       arbeiten beginnen. Kurz bevor die Deutschen Auschwitz-Birkenau im Januar
       1945 verließen, erkrankte er an Scharlach. Als die SS die Häftlinge zum
       Todesmarsch trieb, die anrückende Rote Armee sollte sie nicht befreien
       können, lag Levi im Krankenblock.
       
       ## Geschichten aus einer neuen Bibel
       
       Die Geschichten, die sich die Menschen im Lager über ihr Schicksal
       erzählten, seien so „einfach und unfasslich wie die Geschichten aus der
       Bibel“, schrieb Levi. Und er fragte: „Doch sind sie nicht auch Geschichten
       aus einer neuen Bibel?“ Man kann Levis Buch „Ist das ein Mensch?“ als eines
       der Bücher dieser neuen Bibel lesen, die Zeugnis ablegen über die
       gewalttätige Natur des Menschen, die anklagen und einen Auftrag
       formulieren.
       
       Prophetisch beschrieb Levi diesen Auftrag in seinem Leitartikel für La
       Stampa im Jahr 1975: „Der Faschismus ist ein Krebsgeschwür, das sich rasch
       ausbreitet, und eine Wiederkehr bedroht uns. Daher ist es vielleicht nicht
       unbillig zu fordern: Wehret den Anfängen!“
       
       Primo Levi starb 1987 nach einem Sturz aus dem dritten Stock im Treppenhaus
       seiner Wohnung.
       
       31 Jul 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.kiga-berlin.org/Dokumentationen/auschwitz/Pages/hi17.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Gutmair
       
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