# taz.de -- Prozess zu Anschlag in Halle: Das Fanal
       
       > Vor neun Monaten versuchte Stephan Balliet die Synagoge in Halle zu
       > stürmen und tötete zwei Menschen. Nun begann der Prozess.
       
 (IMG) Bild: Stephan Balliet im Landgericht Magdeburg
       
       MAGDEBURG taz | Es sind sechs Stuhlreihen, welche die Nebenkläger im Saal
       C24 des Landgerichts Magdeburg füllen. 43 Betroffene, die am Dienstagmittag
       nun auf Stephan Balliet schauen. Auf den Rechtsextremen, der sie vor neun
       Monaten töten wollte, am 9. Oktober 2019 in Halle.
       
       Stephan Balliet hatte in der Synagoge von Halle ein Massaker geplant.
       Einige der 52 Gläubigen, die in dem Gebetshaus beim Angriff gerade Jom
       Kippur feierten, den höchsten jüdischen Feiertag, sitzen im Gerichtssaal.
       Außerdem Menschen, auf die der Attentäter im nahegelegenen Kiezdöner oder
       auf der Straße schoss, die teils schwer verletzt wurden und denen nur
       Ladehemmungen der Waffen das Leben retteten. Und Familienmitglieder von
       Jana L. und Kevin S., die Balliet tatsächlich erschoss.
       
       Einige tragen Kippa, sitzen eng beieinander, geben sich Kraft. Andere haben
       sich neben ihre Anwälte gesetzt, 21 Opferanwälte sind vor Ort. Und einige
       besuchten vor dem Prozessauftakt noch eine Kundgebung einer linken
       Initiative vor dem Gericht. Christina Feist, eine junge
       Philosophidoktorandin, die beim Anschlag in der Synagoge war, geißelt dort
       den Antisemitismus in diesem Land. Seit Jahrzehnten werde dieser nicht
       angegangen. Aus dem „Nie wieder“ seien „leere Worte“ geworden.
       
       Und nun starren sie alle auf Stephan Balliet, der von vermummten Polizisten
       mit Hand- und Fußfesseln in den Saal geführt wird. Der ansetzt, seinen Hass
       noch einmal auszubreiten. „Die Juden sind die Hauptursache am weißen
       Genozid“, ätzt er auch vor Gericht. Teilt gegen Muslime aus, die
       Deutschland „erobern“ würden. Beklagt, dass man sich in Deutschland nicht
       mehr frei äußern könne. Für die Nebenkläger ist es kaum erträglich, sie
       verfolgen es konsterniert.
       
       Balliets Tat hatte einen stundenlangen Ausnahmezustand in Halle ausgelöst.
       Und sie zielte auch auf Nachahmer: Balliet übertrug sein Attentat live im
       Internet. Am Dienstag nun begann der Prozess gegen Balliet im Landgericht
       Magdeburg, im größten Gerichtssaal von Sachsen-Anhalt. Ein Prozess, auf den
       sich international die Blicke richten.
       
       ## Ein Einzelgänger, der bei seiner Mutter wohnte
       
       Das wird schon im Morgengrauen sichtbar. Bereits da sammeln sich
       BesucherInnen und JournalistInnen vor dem Gericht. Sie müssen gleich
       mehrere Sicherheitskontrollen passieren, um in den streng bewachten Saal
       C24 zu gelangen. Einige warten stundenlang in der Sonne. Erst mit knapp
       zweistündiger Verspätung beginnt mittags der Prozess. Eine
       Organisationsschlappe für das Gericht.
       
       Nachdem zunächst die NebenklägerInnen im Saal Platz genommen haben, wird
       Stephan Balliet hereingeführt, der Angeklagte. Zuvor wurde er mit dem
       Hubschrauber aus der JVA Burg eingeflogen. Ein 28-jähriger Arbeitsloser,
       ein Einzelgänger, der die letzten sieben Jahre bei seiner Mutter in
       Benndorf wohnte, 40 Kilometer vor Halle.
       
       Nun trägt Balliet Glatze, wie im Tatvideo, dazu eine schwarze Jacke und
       Jeans. Er starrt regungslos in den Saal, versteckt sein Gesicht nicht. Drei
       Beamte bleiben die ganze Zeit hinter ihm stehen. Auch auf der Anklagebank
       muss Balliet die Fußfesseln anlassen – weil er Ende Mai aus der JVA
       flüchten wollte, eine Mauer überkletterte, dann aber scheiterte. Nun macht
       er klar, dass er, wie mit seinem Tatvideo, auch den Gerichtssaal als Bühne
       nutzen will. „Ich würde eine Aussage machen“, kündigt er an, mit rauer
       Stimme.
       
       Zuvor wird noch die Anklage gegen den 28-Jährigen verlesen. Zweifacher Mord
       und 68-facher Mordversuch lautet der Vorwurf. Bundesanwalt Kai Lohse
       rekonstruiert, wie Balliet am 9. Oktober 2019 durch Halle zog, wie er
       möglichst viele Menschen töten wollte. Aus tiefem Hass auf Juden und
       Muslime. Balliet verfolgt es ohne Regung.
       
       Aber dann spricht er selbst, den ganzen Nachmittag lang, über Stunden. Er
       beantwortet frei Fragen von Richterin Ursula Mertens, ohne jede
       Intervention seiner zwei Verteidiger. Einige Fragen quittiert er nur mit
       einem hämischen Lachen. Und er sucht immer wieder die Provokation.
       
       Mertens hakt zunächst bei seiner Kindheit nach, zu der Balliet erst nichts
       sagen will. „Das hat mit der Tat nichts zu tun“, wiegelt er ab. Aber
       Mertens bleibt hartnäckig. Balliet erzählt daraufhin, dass sich seine
       Eltern trennten, als er Teenager war. Dass er in der Schule gehänselt
       wurde. Wie er Chemie studierte, dies aber wegen einer Erkrankung abbrach.
       Und die Pläne danach? „Hatte ich keine mehr.“
       
       Aber Balliet verweist auf das Jahr 2015, als Zehntausende Geflüchtete in
       Deutschland Schutz suchten. Für den Rechtsextremisten eine „Eroberung“.
       Schon da habe er sich ein Gewehr besorgt. Ob er von den Geflüchteten im
       kleinen Benndorf überhaupt etwas mitbekommen habe, fragt Mertens. Er sei
       wiederholt angemacht worden, behauptet er. Und zieht dann über Araber und
       Schwarze her. Wiederholt muss Mertens ihn unterbrechen: Sie dulde keine
       menschenverachtenden Äußerungen, sonst müsse sie ihn des Saals verweisen.
       
       Balliet nennt das Christchurch-Attentat in Neuseeland, bei dem ein
       Rechtsextremist 52 Menschen in zwei Moscheen tötete, als Initialzündung.
       Seine Bewunderung damals: „Da wehrt sich ein weißer Mann, er nimmt es
       selbst in die Hand.“ Daraufhin habe er mit dem Waffenbau begonnen, sieben
       Gewehre und Sprengstoff, habe die Synagoge in Halle ausgespäht. Warum keine
       Moschee, fragt Mertens? Weil es um die Ursachen, nicht um Symptome gehe,
       sagt Balliet.
       
       Mertens muss Balliets Hetze immer wieder ausbremsen. Dann schildert der
       Angeklagte seinen Angriff auf die Synagoge, wie er dort mit seinem
       Mietwagen vorfuhr und an der verschlossenen Tür und Mauer scheiterte. „Ich
       habe mich lächerlich gemacht.“ Warum habe er keine Leiter dabei gehabt,
       fragt Mertens. „Gute Frage“, antwortet Balliet. Aber wenn er mit seinen
       Waffen dort abgestürzt wäre, „wäre das noch lächerlicher geworden“.
       
       Und warum habe er Jana L. erschossen, die ihn zuvor passiert hatte und
       arglos fragte, was das hier solle? „Eine Kurzschlussreaktion.“ Ein Mord
       „zur Sicherheit“. Mertens reagiert verständnislos auf die kalte Antwort,
       fragt ihn nach Mitleid. Da stockt Balliet kurz. Er bedauere den Mord, sagt
       er. Weil Jana L. ja auch eine Weiße sei.
       
       ## Kevin S. habe er für einen Muslim gehalten
       
       Am Tag der Tat aber stieg Balliet wieder in seinen Wagen, entdeckte den
       nahegelegenen Kiezdöner. Auch dort schoss er hinein und tötete Kevin S.,
       der gerade zu Mittag aß und sich noch hinter einem Kühlschrank versteckte.
       In Döner-Imbisse gingen nur Menschen, die mit Muslimen kein Problem hätten,
       zeigt sich Balliet auch hier kalt. Und gibt seinen Opfern unverfroren eine
       Mitschuld: Die Gäste hätten ihn ja „wegdeckeln“ können, als seine Waffen
       wieder stockten. Kevin S. habe er für einen Muslim gehalten, wegen der
       „schwarzen, krausen Haare“. Als er bei der Vernehmung erfahren habe, dass
       dem nicht so war, sei er „hart getroffen“ gewesen. Der Tod von Kevin S. sei
       bedauerlich, weil er ebenso „ein Weißer“ sei. Balliet floh damals noch
       weiter und wurde erst nach einem Unfall festgenommen, auf einer Landstraße
       vor Halle.
       
       Balliets Vortrag ist einer ohne Reue über seinen Anschlagsplan. Über die
       Opfer spricht er ohne jede Empathie. Länglich beklagt er nur, was alles bei
       seinem Attentat scheiterte. Die Nebenkläger verfolgen es mit teils vors
       Gesicht geschlagenen Händen, mit ungläubigem Raunen, andere verlassen
       zwischendrin den Saal.
       
       Schon in seinen Vernehmungen hatte sich Balliet ungeläutert gezeigt. Und er
       macht nun erneut klar, was er schon in einer Art Manifest vor der Tat
       schrieb: Dass er sich als Teil eines „weißen“ Kampfes gegen einen
       vermeintlichen Bevölkerungsaustausch durch Muslime und Migranten versteht.
       Es gebe keinen friedlichen Weg gegen einen multikulturellen Staat mehr,
       behauptet Balliet. Neben Christchurch bezeichnet er auch den
       Rechtsextremisten, der im August 2019 eine Moschee in Oslo angriff, als
       „weißen Krieger“. Deshalb, sagt Balliet, habe er die Tat auch gefilmt. „Um
       anderen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Dass sie auch bereit sind zu
       kämpfen.“
       
       Die Nebenkläger glauben nicht an einen isolierten Einzeltäter. Man wolle
       diesen „Mythos“ aufdecken, erklärten mehrere vor Prozessbeginn in einer
       Stellungnahme. „Wir müssen den Ideologien, die zu der Barbarei führen, die
       wir in Halle erlebt haben, und all denen, die solche Gewalt in Deutschland
       und im Ausland verherrlichen, furchtlos entgegentreten.“
       
       Hatte der 28-Jährige sich wirklich unbemerkt radikalisiert? Hinterließ
       Balliet im Internet keine Warnzeichen? Hätten die Sicherheitsbehörden ihn
       wirklich nicht stoppen können?
       
       Für die Ermittler hatte sich Balliet allein radikalisiert, auf Mitwisser
       stießen sie nicht, politische Veranstaltungen hat Balliet nach eigenen
       Auskünften nie besucht. Aber der Rechtsextremist war nicht allein: Er
       verbrachte seine Zeit auf Imageboards, anonymen Onlineforen. In einer
       Szene, die dort rechtsextreme Anschläge feiert.
       
       Handelte der 28-Jährige im Wahn? Die Ankläger verneinen dies, für sie ist
       Balliet voll schuldfähig. Ein Gutachter attestierte ihm zwar eine
       Persönlichkeitsstörung. Das Unrecht seiner Taten sei ihm aber bewusst
       gewesen. Und: Auch künftig sei es wahrscheinlich, dass Balliet schwerste
       Straftaten begehe. Damit kommt für den Angeklagten neben einer lebenslangen
       Haftstrafe auch eine Sicherungsverwahrung in Betracht.
       
       Ismet Tekin hätte nichts dagegen. Er ist der Betreiber des Kiezdöners, auch
       er sitzt am Dienstag im Gericht. Als Balliet in seinem Imbiss mordete, war
       Tekin vor der Tür, geriet in den Kugelhagel, mit dem der Attentäter auf die
       Polizei schoss. Seine Hoffnung sei, sagt Tekin, dass der Täter „so bestraft
       wird, dass keiner sich jemals wieder so etwas überlegt“.
       
       21 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Konrad Litschko
       
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