# taz.de -- Putins irrationales Auftreten: Strategisch irre
       
       > Ist Putin verrückt geworden? Viel spricht dafür, dass er es nicht ist –
       > und sich einer Strategie bedient, die schon Nixon und Trump genutzt
       > haben.
       
 (IMG) Bild: Kalkuliert bei aller Irrationalität kühl: Wladimir Putin
       
       Wütend, paranoid, völlig geisteskrank oder doch kalt und berechnend: Über
       die Frage nach [1][Putins Motiven] für seinen Angriffskrieg wird heftig
       spekuliert. Doch wie es im Kopf des Kreml-Chefs aussieht, lässt sich nicht
       sagen. Mit Therapiesitzungen aus der Ferne, noch dazu von Laien, können
       keine seriösen klinischen Diagnosen erstellt werden. Die American
       Psychiatric Association etwa hat sich deshalb selbst die sogenannte
       „Goldwater Rule“ auferlegt, die Ferndiagnosen bei Politikern und
       Regierungschefs als unverantwortlich und unwissenschaftlich missbilligt.
       Keiner, der Putin nicht selbst auf die Couch gelegt und behandelt hätte,
       könnte Auskunft geben.
       
       Objektive Anhaltspunkte für eine Persönlichkeitsstörung gibt es auch dem
       Bundesnachrichtendienst zufolge nicht. Wie aber dann sind Putins
       Eskalation, seine wirren Reden über den angeblich drogenabhängigen
       [2][„Nazijuden“ Selenski] und die überdrehten Drohungen bis zum Atomkrieg
       zu erklären? So unterschiedliche Leute wie der französische Staatschef
       Macron, der auch jetzt noch auf den Russen einredet und die ehemalige
       amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice, die mit ihm seit gut zwei
       Jahrzehnten regelmäßig verhandelt hat, sprechen übereinstimmend von
       seltsamen Veränderungen.
       
       Möglicherweise sind Putins schrille Töne jedoch strategisch kalkuliert.
       Dies deutete beispielsweise der finnische Präsident Sauli Niinistö nach
       einem Telefonat mit Putin an. „Das könnte auch Absicht sein – nämlich um
       Verwirrung zu stiften“, sagte er gegenüber CNN. Putin wäre nicht der erste
       Politiker in der Geschichte, der nur verrückt spielt, um seine Gegner
       einzuschüchtern.
       
       Ursprünglich stammt die Theorie des verrückten Mannes („Madman-Theorie“)
       von Henry Kissinger, dem Strategen hinter Nixons Außenpolitik. Bei der
       Taktik soll dem Gegner vorgespielt werden, dass man ungeachtet der Opfer zu
       allem fähig ist. Nixon und Kissinger wendeten die Taktik erstmals im
       Vietnamkrieg 1969 an. Mit einem rücksichtslosen Flächenbombardement und der
       Ankündigung, nötigenfalls Atombomben einzusetzen, sollten die
       Nordvietnamesen verunsichert und so zu Verhandlungen bewegt werden.
       
       ## Putin lässt keine Verhandlungsoptionen
       
       Trump, der übrigens persönlich mit Nixon befreundet war, ging mit Nordkorea
       rein verbal ähnlich um: Erst drohte er mit Atombomben, dann verhandelte er.
       Und auch gegenüber dem Iran passt Trumps Vorgehen zur Theorie. Unmittelbar
       nach der gezielten Tötung des iranischen Generals Soleimani 2020 kündigte
       er an, dass „keine Option vom Tisch ist“, er für Gespräche offen sei und
       „einen besseren Deal für alle“ wolle, der auch den „Iran wieder großartig
       machen kann“, wie Trump damals sagte.
       
       Im Unterschied zu Nixon und Trump lässt Putin seinem Gegenüber offenbar
       keine Verhandlungsoption. Sollte er den verrückten Mann spielen, dann, um
       die USA und die Nato mit Maximal-Drohungen von weitreichenderer
       Unterstützung der Ukraine abzuhalten. Teilweise scheint er damit Erfolg zu
       haben. Das Angebot von Polen, Kampfjets an die Ukraine zu liefern, ist
       Washington zu riskant. [3][Putin] will, wie 2008 in Georgien, die
       politische Selbstbestimmung der Ukraine verhindern und ist dafür offenbar
       bereit, das Land in die Steinzeit zurückzubomben. Um seine Ziele zu
       erreichen, muss er nicht verhandeln. Er kann das Land so weit
       destabilisieren, dass politische Eigenständigkeit, geschweige denn ein
       Beitritt zur EU und Nato, faktisch unmöglich werden.
       
       Putin als Verursacher von Krieg und Verbrechen für verrückt zu erklären,
       ist emotional nachvollziehbar, greift aber zu kurz. Putin kalkuliert bei
       aller Irrationalität kühl – davon sollte sich niemand verwirren lassen. Die
       geostrategischen Interessen der russischen Regierung sind eindeutig: Die
       Annäherung der Ukraine an den Westen soll verhindert werden. Mit
       „berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands“, wie manche behaupten, hat
       das nichts zu tun. Eher mit „großrussischem Chauvinismus“ wie Lenin sagen
       würde – den Putin zum historischen Hauptfeind erklärt hat, weil dieser für
       die Rechte der vom Zarenreich unterdrückten Völker eintrat und die erste
       staatliche Eigenständigkeit der Ukraine ermöglichte.
       
       12 Mar 2022
       
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