# taz.de -- Queer gelesene US-Musikgeschichte: Arbeit an der Katharsis
       
       > Taylor Mac, Sänger und Dragqueen aus Kalifornien, erzählt und performt in
       > Berlin eine kritische Geschichte der US-amerikanischen
       > Unterhaltungsmusik.
       
 (IMG) Bild: Taylor Mac inmitten des Publikums im Saal der Berliner Festspiele
       
       Stephen Foster, das arme Schwein. Da ist er nicht nur verarmt gestorben,
       obwohl er als größter Songwriter der USA galt, zu einer Zeit, als
       Songwriter noch gar kein richtiger Beruf war. Und nun muss er sich, auf der
       Bühne des Hauses der Berliner Festspiele, einen schlüpfrigen Lapdance von
       einem übergeschnappten Wrestler gefallen lassen. Denn Foster hat schon
       wieder eine Runde verloren: gegen Walt Whitman, seinen Kontrahenten des
       Abends.
       
       Die Rollenverteilung ist klar: Foster, Erfinder des so genialen wie
       nervtötenden Songs „Camptown Races“ (Sie wissen schon, der mit dem
       „Doo-dah“), ist der Melodiengeber für Minstrel-Shows, in denen schwarze
       Amerikaner der Lächerlichkeit preisgegeben wurden; Whitman hingegen der
       Großintellektuelle, der in seinen frei flottierenden Versen immer wieder
       tiefen Respekt für die Indigenen des Landes bekundete. Das inszenierte
       Duell beschreibt, wenn man so will, einen Urkonflikt des Geschmacks und der
       Mentalität der Populärkultur, hier dargeboten als Farce zum Mitfiebern (und
       Mitlärmen, man hat ja schließlich Partytröten ausgehändigt bekommen).
       
       Zum Rrrrumble geladen hat der Gastgeber und Fixstern des Abends: Taylor
       Mac, Performer, Spitzensänger und Dragqueen aus Kalifornien. Favorisiertes
       Pronomen: weder er noch sie, sondern „judy“. In judys Performance „A
       24-Decade History of Popular Music“ möchte Mac nicht weniger als in
       insgesamt 24 Stunden die Geschichte der US-amerikanischen
       Unterhaltungsmusik erzählen. Nachdem im ersten Teil die Jahre zwischen 1776
       und 1836 dran waren, geht es in einer weiteren sechsstündigen Performance
       um die Dekaden bis 1896. Sprengstoffreiche Themen wie Kolonialismus, die
       wachsenden Unruhen zwischen schwarz und weiß sowie der US-Bürgerkrieg
       werden dabei Teil einer maßlosen Revue.
       
       Die (herrlich lauten) Gäste sehen eine gigantische Feier queerer Körper,
       sehen Seilakrobatinnen und Ausdruckstänzerinnen, Nummerngirls, die auch
       Nummernboys sein könnten, eine Raummission in „Mars Attacks!“-Ästhetik und
       ein irres Reenactment der viktorianischen Operette „The Mikado“ als
       Dinnerszene.
       
       Es herrscht bei aller Verschwendungssucht eine gewisse formale Strenge: In
       24 Stunden, aufgeteilt auf vier Abende, gibt es 246 Songs zu hören. Jede
       Stunde behandelt ein Jahrzehnt, nach jeder Stunde verlässt einer der 24
       Orchestermusiker*innen die Bühne. Und immer wieder ist das Publikum dran:
       Mac animiert die Zuschauer*innen, sich mit Tischtennisbällen zu bewerfen,
       in einen Boxring zu steigen oder sich am Ausdruckstanz zu versuchen.
       
       Als am Ende einer der Gäste eine Schramme davonträgt, ist Mac stolz: Das
       sei das erste Mal, dass in judys Show wirklich jemand verletzt wurde („Fuck
       yeah, Berlin!“). Wenn übereinander gelacht wird, dann schrill, aber auf die
       allerwärmste Art. Zum Mitmachen genötigt sieht, anders als so oft, niemand
       aus.
       
       ## Saalkampf mit Peaches
       
       Mac gibt die spitzzüngige Diva, erbittet sich Respekt während der sechs
       Stunden Performance. Trotzdem darf man seinen Platz wechseln oder zu einer
       Pause nach draußen verschwinden; so kann es schon mal passieren, dass man
       plötzlich [1][neben der Musikerin Peaches] sitzt, angekündigt als Special
       Guest, und sich mit ihr in einem inszenierten Saalkampf in Slow Motion
       prügelt, ihren Auftritt aber verpasst. Oder sollte etwa sie, eine der
       schillerndsten Gender-Benderinnen im Pop, schlichtweg nicht aufgefallen
       sein? In diesem Gewusel von Performer*innen, die das Vexierspiel zwischen
       queerem Glamour und Schlüpfrigkeit, überhaupt das Spiel mit
       geschlechtlicher Uneindeutigkeit so gut beherrschen, dass einem schwindelig
       werden kann?
       
       Man könnte annehmen, dass die Performance eine Art Geheimgeschichte der
       US-Kultur erzählt. Aber es geht tatsächlich um Mainstream und
       Alltagskultur, um Songs, die jedes Kind kennt – aber die eben noch nicht
       von jedem gesungen wurden, von queeren und schwarzen Menschen zum Beispiel.
       Mac und judys Performer*innen nehmen die Songs mal sehr ernst und tragen
       sie werkgetreu vor, mal deuten sie Stücke in ihrem Sinne um: Die
       Konföderiertenhymne „I Wish I Was in Dixie“ unterbricht Mac immer wieder
       mit giftigen Kommentaren über Rassismus und Patriotismus.
       
       Macs Mischung aus Humor und Debattenbewusstsein sorgt dafür, dass die
       Performance mehr ist als ein Dragmusical mit historisch-didaktischem
       Überbau, nämlich die seltene Art von Spektakel, die so prächtig unterhält,
       dass man erst nach und nach zu fassen bekommt, was Mac mit den Worten
       meint: „I work in catharsis. That’s my job“.
       
       17 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julia Lorenz
       
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