# taz.de -- Regierungskrise in Großbritannien: Ein Problem namens Boris
       
       > Einst feierten britische Konservative Boris Johnson als unschlagbar. Nach
       > diversen Party-Skandalen gilt er vielen als unhaltbar.
       
 (IMG) Bild: Kann er sich noch raus beziehungsweise rein mogeln? Boris Johnson im Unterhaus am 12. Januar
       
       LONDON taz | Zwar hatte sich 10 Downing Street gerade bei Queen Elizabeth
       II entschuldigt, nach der neuesten Enthüllung über eine Abschiedsfeier für
       zwei Mitarbeiter im Amtssitz des britischen Premierministers im vergangenen
       Juni bis in die frühen Morgenstunden, während sich die Queen in sozialer
       Isolierung auf die Bestattung ihres Gemahlen Prinz Philip vorbereitete und
       die Fahnen auf Halbmast wehten. Doch Andrea Thorpe vom konservativen
       Ortsverband Maidstone in Kent sagte ihr Interview mit dem Mittagsmagazin
       der BBC nicht ab.
       
       Vor Ort, berichtete sie, erzählten ihr die Leute, dass diese [1][Feiern
       unter Boris Johnsons Führung] geschahen. „Deshalb, im Interesse der
       Konservativen Partei und wegen der Kommunalwahlen, die im Mai bevorstehen,
       sollten wir es hinter uns bringen“, suggerierte sie: „Der einzige Weg ist
       mit einen neuen Parteiführer!“
       
       Einzelheiten von mindestens 13 Feiern in 10 Downing Street [2][mitten im
       Coronalockdown] oder unter Bruch von Kontaktbeschränkungen sind inzwischen
       an die Öffentlichkeit geraten. Eine hohe Beamtin, Sue Gray, führt eine
       Untersuchung. Ihre Ergebnisse werden frühesten Ende kommender Woche
       erwartet. Man solle diese abwarten, hatte Boris Johnson in seiner
       Entschuldigung im Unterhaus letzten Mittwoch betont. Doch Gray wird nur den
       Sachverhalt aufzeichnen. Die Konsequenzen daraus – Strafen oder
       Entlassungen – sind Johnsons Sache.
       
       Johnson soll außer sich sein, berichten britische Medien. Doch viele, wie
       auch Thorpe, machen den Premierminister selbst für die Partyserie
       verantwortlich. Seine Zukunft liegt nun in der Hand der eigenen Partei.
       
       ## Forderung nach Misstrauensvotum
       
       Am Donnerstagabend stimmte der Vorstand des konservativen Ortsverbandes
       Sutton Coldfield nahe Birmingham als erster einstimmig gegen Johnson. 53
       Prozent aller befragten konservativen Parteimitglieder plädieren laut einer
       Umfrage der parteiinternen Webseite Conservative Home [3][für Johnsons
       Rücktritt]. Viele haben am Wochenende ihren Abgeordneten entsprechende
       Briefe geschrieben. Andrew Bridgen, Abgeordneter für
       Nordwest-Leicestershire, gab an, er habe über 1.000 E-Mails an einem Tag
       erhalten, zumeist Forderungen nach dem Rücktritt des Premiers.
       
       Nun ist Bridgen offenbar einer der laut Medienberichten bis zu 35
       Abgeordneten, die beim Vorsitzenden des Hinterbänklerausschusses der
       Partei, Graham Brady, ein Misstrauensvotum gegen Johnson gefordert haben.
       Wenn bei Brady mindestens 15 Prozent der Fraktion, das wären 54
       Abgeordnete, schriftlich Johnsons Rücktritt fordern, muss eine Neuwahl des
       Parteichefs stattfinden und das heißt dann für Johnson wohl: Game Over.
       
       Wie viel Post tatsächlich bei Brady eingegangen ist, ist Spekulation, aber
       Unzufriedenheit mit Johnson äußern nicht nur die, die ihn ohnehin mit
       Skepsis beobachten – etwa Anhänger von Theresa May oder David Cameron –
       sondern auch Neuzugänge, die bei den Wahlen 2019 dank Johnson
       Labour-Wahlkreise eroberten. Sie bangen nun um ihre Sitze.
       
       Es scheint, als ob der alte Zauber Johnsons verpufft ist. Seine Magie war
       es, Brexit zu liefern und dabei Nigel Farage und Jeremy Corbyn zu verjagen.
       Braucht man ihn danach noch? James Forsyth, Politikchef des konservativen
       Wochenmagazins Spectator, das einst Boris Johnson als Chefredakteur hatte,
       bezeichnete vergangene Woche die Anhängerschaft Boris Johnsons als
       „Boris-Pragmatist“: Man wisse natürlich um Johnsons Nachteile, aber solange
       er Wahlsiege liefere, sei er akzeptiert – wenn nicht, dann jedoch nicht
       mehr.
       
       ## Versprechen und Visionen
       
       Schon lange ist Johnson für seine saloppe Art, für schräge Wortwahl und für
       Seitensprünge bekannt. Auch mit politischen Versprechen hat er es nicht
       immer ernst genommen. Seine Partei, ja das Land nahm 2019 all das in Kauf,
       denn Johnson, zu dessen Charakter ein mitreißender Positivismus des „Wir
       schaffen das“ gehört, versprach dem Land nach zehn Jahren Austerität die
       Vision einer neuen Blüte mit dem Brexit.
       
       Viele wollten es glauben, denn Johnson beteuerte, in das Gesundheitssystem
       zu investieren und das Land aufzubauen, und tatsächlich scheut er
       staatliche Investitionen sowie Steuererhöhungen zu diesem Zweck nicht.
       
       Aber dieser Tage hört niemand mehr zu, wenn die Regierung das baldige Ende
       der pandemiebedingten Maßnahmen verkündet oder, dass die Wirtschaft wieder
       den Vor-Corona-Stand erreicht hat. Stattdessen gibt es immer wieder
       Enthüllungen zu [4][Feiern während der Pandemie in 10 Downing Street].
       Diese Eskapaden ziehen die Konservativen nach unten. Am Sonntagmorgen wurde
       ein Foto von Boris Johnsons Gattin Carrie bekannt, auf dem sie am 17.
       September 2020, als noch Abstandsregeln galten, eine Bekannte eng umarmt.
       Sie entschuldigte sich inzwischen für ihre „kurzfristige Unaufmerksamkeit“.
       
       ## Durchmogeln mit Sofortmaßnahmen
       
       Die einzige Hoffnung der Konservativen ist, dass Johnson mit Hilfe seines
       spendablen Finanzministers Rishi Sunak vielleicht doch noch die Kurve
       kriegt. Die Sunday Times berichtet von einer ganzen Liste bevorstehender
       Sofortmaßnahmen: Steuervergünstigungen, Einfrieren der TV-Gebühren,
       schnellerer Abbau des pandemiebedingten Rückstaus bei
       Krankenhausbehandlungen, mehr Sozialausgaben, das Ende aller
       Covid-19-Regeln, vielleicht sogar die Küstenkontrolle durch das Militär, um
       Flüchtlinge aus Frankreich zu stoppen. Obendrein soll es einen gründlichen
       Kehraus in 10 Downing Street geben. Zudem wird das 70. Jubiläum der Queen
       vorbereitet.
       
       Sollte Johnson sich tatsächlich noch einmal durchmogeln können, ist der
       nächste Test bereits in Sichtweite. Es sind die Kommunalwahlen im Mai, und
       sollten die Konservativen da miserabel abschneiden, könnte die Partei doch
       noch entscheiden, sich für die Parlamentswahl 2024 neu aufzustellen –
       gehandelt als neue Chefs werden Finanzminister Rishi Sunak, Außenministerin
       Liz Truss, Aufbauminister Michael Gove oder Exgesundheitsminister Jeremy
       Hunt, der 2019 gegen Johnson bei der Wahl von Theresa Mays Nachfolger
       unterlag.
       
       Auch [5][Labourführer Keir Starmer], der derzeit ein seltenes Umfragehoch
       für seine Partei genießt, weiß, welche Werte nun gefragt sind. Auf der
       Jahrestagung des sozialdemokratischen Think Tanks Fabian Society
       bezeichnete Starmer am Samstag Johnson als einen Premierminister, der seine
       moralische Autorität verloren habe. „Boris Johnson vergiftet den Brunnen
       der Demokratie, indem er schamlos die Regeln bricht und zahlreiche Leute
       mit ihm in den Dreck zieht“, behauptete er. Die Konservativen müssten nun
       tun, was von ihnen erwartet werde – „im Interesse der Nation.“
       
       Je nachdem, was noch geschieht, werden konservative Abgeordnete genau das
       tun – sei es für Nation und Königin, oder aus Eigeninteresse am politischen
       Überleben.
       
       16 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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