# taz.de -- Roman von Richard Ford: Nach dem Hurrikan des Lebens
       
       > Komisch, kunstvoll, philosophisch, tröstlich: Richard Ford schließt seine
       > Bücher über Frank Bascombe mit „Let Me Be Frank With You“ ab.
       
 (IMG) Bild: Der Autor im Jahr 2013 bei einer Preisvereihung in Barcelona.
       
       Wie in aller wirklich komischen Literatur geht es in „Let Me Be Frank With
       You“, dem letzten Teil der Frank-Bascombe-Tetralogie Richard Fords, um
       todtraurige Tatsachen. Fords Südstaaten-Jedermann Bascombe, dessen
       Abenteuer wir schon aus drei Romanen kennen, ist in dieser neuen, noch
       nicht ins Deutsche übersetzten Sammlung von vier novellenkranzartig
       miteinander verwobenen Stücken – sie wird in Amerika und Großbritannien
       schon allseits als großes Meisterwerk rezensiert – in einer besonders
       traurigen Lage: nämlich 68 Jahre alt, Pensionär und survivor einer
       Prostatakrebsoperation.
       
       Seine jüngere Frau ist wieder zu ihm zurückgekehrt und die beiden wohnen in
       der Allerweltskleinstadt Haddam im Bundesstaat Connecticut, über den gerade
       – in der erzählten Zeit schreiben wir 2013 – der Hurrikan „Sandy“
       hinweggegangen ist, mit den bekannt verheerenden Folgen.
       
       Die vier Erzählungen des Bandes berichten von vier verstörenden, peinlichen
       und unheimlichen Begegnungen. In der ersten Geschichte trifft Bascombe
       einen Freund, dem er ein Haus am Strand verkauft hat, auf dessen vom
       Hurrikan verwüsteten und halb überschwemmten Grundstück. In der Ruine des
       Hauses, das früher Bascombe selber gehört hat, ereignet sich eine
       ungeschickte, irgendwie unangemessene und ein bisschen unheimliche Umarmung
       zwischen den beiden alten Männern.
       
       In der zweiten Erzählung möchte eine attraktive schwarze Dame das Innere
       des Hauses sehen, in dem Bascombe heute lebt und wo sie ihre Kindheit
       verbracht hat. Im Gespräch stellt sich heraus, dass ihr Vater in diesem
       Haus die ganze Familie und dann sich selbst umgebracht hat (sie entging dem
       Massaker, weil sie zu spät nach Hause kam).
       
       ## Peinlicher Todeskandidat
       
       In der dritten, besonders komischen, traurigen und philosophisch
       gehaltvollen Erzählung trifft er seine an Parkinson erkrankte Exfrau Ann in
       einem luxuriösen Sanatorium, wo es wie auf einem teuren Kreuzfahrtdampfer
       zugeht. Ann wirft ihrem Exmann auf eine hinterhältig implizite Weise vor,
       einen schlechten Charakter zu haben (die beiden haben die entsprechenden
       Verletzungen, Rechtfertigungen und Anwürfe schon bis zum Überdruss
       ausgetauscht; man kennt das).
       
       Und in der vierten besucht er einen sterbenden Bekannten – eine
       bemitleidenswerte und eklige Ruine seines früheren Selbst –, der ihm
       angesichts des Todes beichtet, dass dieselbe Exfrau, die Bascombe noch im
       letzten Kapitel ihre essentialistisch-selbstgerechten Illusionen über sich
       selbst und die gemeinsame Ehe um die Ohren gehauen hat, ihn, als die Ehe
       noch bestand, mit ihm, dem damals sehr entfernten Bekannten und jetzt eher
       unangenehmen und peinlichen Todeskandidaten, monatelang betrogen hat.
       
       Klingt alles ziemlich deprimierend. Und trotzdem ist „Let Me Be Frank With
       You“ ein künstlerisch inspirierendes, komisches und letzten Endes sehr
       tröstliches Buch. Beträchtlichen Lesegenuss verschafft es zunächst durch
       die lakonisch-elegante Sprachkunst Richard Fords.
       
       ## Hochliteratur des Alltagsamerikanischen
       
       Dessen berühmter Stil ist eine Art hochliterarische Version des
       Alltagsamerikanischen, das von der Periodenkultur des klassischen
       englischen Prosastils ebenso beeinflusst ist, wie es den Slang und
       überhaupt die verschiedenen ethnischen Einflüsse in sich aufgenommen hat,
       die sich in Amerika in vielfältiger und kulturell kreativer Weise
       miteinander verbinden.
       
       Die Mischung aus kultivierter stilistischer Elaboration und
       gossensprachlicher Prägnanz in Frank Bascombes Ich-Erzählung (die auf fast
       jeder Seite in einen inneren Monolog umschlägt) ist deshalb im Original
       vollkommen plausibel. Diese Mischung aus high and low im Deutschen
       einigermaßen zu rekonstruieren, wird (oder ist vielleicht jetzt schon) die
       eigentliche Herausforderung an den (künftigen) Übersetzer.
       
       Komisch ist Richard Fords neues Buch vor allem dadurch, wie kunstvoll es
       mit dem erwähnten Wechsel aus Ich-Erzählung und innerem Monolog spielt
       („Bauformen des Erzählens“ ist eine instruktive Studie des Germanisten
       Eberhard Lämmert betitelt, auf die man im Studium der Literaturwissenschaft
       stoßen kann; Ford hat mit den Bascombe-Romanen eine ganz neue „Bauform des
       Erzählens“ erfunden, wie es mir scheint).
       
       Dadurch dass wir Leser, anders als die erzählten Figuren, in jedem Moment
       wissen, was Frank über sie denkt und was er von ihnen hält (meistens
       nämlich nicht besonders viel), entstehen sehr komische Möglichkeiten, die
       Ford dann auch ingeniös nutzt: „Fike’s morning devotionals“, heißt es zum
       Beispiel über die Sendungen eines Radioevangelisten, dem Bascombe auf der
       Schwelle des Todkranken in der letzten Erzählung die Klinke in die Hand
       gibt, „all have this tickle-your-funny-bone, cloyingly Christian
       pseudo-irreverence calculated to paint God Almighty as just one of the
       boys“: ein Zitat, mit dem man auch die für Fords Komik wie für die Eleganz
       seines Stils typische Stilmontage aus hochkulturellen und
       umgangssprachlichen Sprachelementen belegen kann.
       
       ## Philosophischer Anspruch
       
       Bliebe zu erläutern, wieso dieses zwar traurige, aber auch genussreich zu
       lesende und sehr komische Buch den Leser zugleich trösten, ja ihn
       richtiggehend glücklich machen kann. Dazu muss man ein bisschen ausholen.
       Wie John Updikes „Rabbit“-Tetralogie sind die vier Bascombe-Bücher von
       Richard Ford angelegt als US-amerikanische Alltags- und
       Mentalitätsgeschichtsschreibung. Viel deutlicher als das Updike’sche
       Parallelunternehmen erhebt Richard Fords Schreiben jedoch auch einen
       philosophischen Anspruch.
       
       Es sind die mutmachenden Denkmöglichkeiten, Maximen und
       Argumentationsmethoden der New England Transzendentalists und der
       einflussreichen Denkrichtung des amerikanischen Pragmatismus, die Richard
       Ford schon in die Vorgeschichte Bascombes, dessen erzählte Lebenszeit in
       die achtziger Jahre zurückreicht, vielfältig hineinmontiert hatte.
       
       So spielt der zweite Roman der Serie, „Independence Day“, an jenem 4. Juli,
       mit dem Amerika sich jährlich an die Unabhängigkeitserklärung der
       britischen Kolonien erinnert. Und die ist bekanntlich nicht nur ein
       politisch-juristischer Text, sondern auch ein philosophischer Traktat im
       Geist John Lockes, Samuel Pufendorfs und der schottischen Aufklärung.
       
       Auch versucht Bascombe an jenem erzählten 4. Juli 1986 seinen von der
       Pubertät gebeutelten Sohn über sein Lebensalter, die Scheidung seiner
       Eltern und den Tod seines Bruders dadurch zu trösten, dass er ihm Ralph
       Waldo Emersons in den USA sehr berühmten Essay „Self-Reliance“ zu lesen
       gibt, in dem es um die Dialektik des „eigenen Lebens“, der Authentizität
       und der Selbstverwirklichung geht – eine rührende, und wie vorauszusehen
       dann natürlich vergebliche Geste väterlicher Fürsorge und Hilflosigkeit.
       
       ## Ein innerer Monolog
       
       Auch in „Let Me Be Frank With You“ kommt der Weltweise Emerson vor, und
       zwar in den Gesprächen Bascombes mit seiner Exfrau Ann. Hier weiten sich
       Dialog und innerer Monolog unvermutet zu einem Traktat über die
       philosophische Grundkonstellation Essentialismus versus Konstruktivismus.
       
       „Being an essentialist, Ann believes we all have selves, characters we
       can’t do anything about (but lie). Old Emerson believed the same (…). But I
       believe nothing of the sort. Character, to me, is one more lie of history
       and the dramatic arts. In my view, we have only what we did yesterday, what
       we do today, and what we might still do. Plus, whatever we think about all
       of that. But nothing else – nothing hard or kernel-like. I’ve never seen
       evidence of anything resembling it. In fact I’ve seen the opposite: life as
       teeming and befuddling, followed by the end.“
       
       Es existiert kein festes Selbst und kein unabhängiger Charakter – diese
       Erkenntnis (oder Intuition) Bascombes, die uns bei der Lektüre noch
       deprimierter machen könnte, als wir sowieso schon sind, verwandelt sich in
       eine Quelle des Trosts durch eine Art konstruktivistischen Trick, den
       Bascombe für sich erfunden hat, das „Default Self“. Es besteht eigentlich
       nur daraus, dass er so tut, als sei er ein guter Mensch und sich so verhält
       – und voilà: Er ist es. „Trying to cobble up the appearence of a basic self
       that makes you seem better than someone significant suspects you are – that
       can count.“
       
       ## Das bessere Selbst
       
       Das „Default Self“ ist eine existentialistische Setzung, die genau deshalb
       funktioniert, weil es keine essentialistischen Festgelegtheiten des
       Charakters gibt und wir deshalb das „Recht, ein anderer zu werden“,
       erfolgreich in Anspruch nehmen können. Dieses Konstrukt eines besseren
       Selbst ist „not that different from a bedrock self, except it’s our
       creation, rather than us being its“.
       
       Ich kann mir nicht helfen, aber solche Tricks, die uns Konstruktivismus und
       amerikanischer Pragmatismus im vergangenen Jahrhundert gelehrt haben,
       tragen zumindest zu meinem Glück wirklich bei. Es ist in der letzten Zeit
       in den geisteswissenschaftlichen Debatten, vor allem in Abgrenzung zum
       französischen Dekonstruktivismus, zu Recht darauf hingewiesen worden, dass
       es erstens die Realität wirklich gibt und dass der postmoderne
       Konstruktivismus zweitens sehr oft – am deutlichsten durch Wladimir Putins
       derzeitige Propaganda – dazu missbraucht wird, politisch zu lügen und zu
       manipulieren.
       
       Richard Fords zugleich soziologische und philosophische Geschichte des
       vergangenen Jahrhunderts, die er mit diesem Buch abschließt, demonstriert –
       als ob er uns in unserem 21. Jahrhundert an das gute Erbe des 20. erinnern
       wollte – auf lustige und tröstliche Weise den humanistischen und
       befreienden Gebrauch dieser Denkmöglichkeiten. – Sein Romanwerk ist ein
       Klassiker der Postmoderne und gehört zu den großen Büchern unserer Zeit.
       
       8 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stephan Wackwitz
       
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