# taz.de -- Schienenpartisanen in Belarus: Wenn der Krieg entgleist
       
       > In Belarus werden Bahnstrecken lahmgelegt, um den Nachschub für russische
       > Truppen zu behindern. Wer erwischt wird, riskiert drakonische Strafen.
       
 (IMG) Bild: Russischer Truppenzug mit militärischer Ausrüstung für das russisch-belarussische Manöver, 24.1.2022
       
       Über den Schienenkrieg lesen belarussische Schulkinder normalerweise etwas
       in ihren Geschichtsbüchern. Dort steht geschrieben, dass diese Aktion zur
       massenhaften Zerstörung von Bahnstrecken ein Teil des belarussischen
       Partisanenkampfes war, um so den Nachschubtransport der deutschen Wehrmacht
       zu behindern. 80 Jahre später kann man den Ausdruck „Schienenkrieg“ nicht
       nur im Geschichtsunterricht hören, sondern auch in den Nachrichten.
       
       Bericht von der Front: mindestens 48 Festnahmen (viele wurden später wieder
       freigelassen. Sie waren festgenommen worden, weil sie den Telegram-Kanal
       der Eisenbahner abonniert hatten), zwei Schwerverletzte, vier deaktivierte
       Automatisierungs- und Telemechanikgeräte, neun ausgebrannte Relaisschränke
       an Bahnstrecken, sechs demontierte Signaltransformatoren, zwei
       Cyberattacken auf das Intranet der Belarussischen Eisenbahngesellschaft.
       Aber das ist nur eine kleine Auswahl. Wie viele Sabotageakte bislang
       wirklich verübt wurden, weiß man nicht.
       
       Im belarussischen Innenministerium spricht man auf jeden Fall von mehr als
       80 Terrorakten: Als solche bezeichnen belarussische Sicherheitskräfte die
       Deaktivierung von Signalanlagen und Relaisschränken, über Einzelheiten
       wurde bislang nichts bekannt.
       
       Die Kampfhandlungen begannen am 26. Februar. An diesem Tag wurde auf der
       Bahnstrecke Talka–Vereitsi die Automatisierungs- und Telemechanikanlage des
       Signal- und Sicherheitssystems außer Kraft gesetzt.
       
       Gleich am nächsten Tag folgte eine heftige Cyberattacke auf das Intranet
       der Belarussischen Eisenbahngesellschaft. Zur Erinnerung: An diesem Tag
       fand in Belarus [1][das Referendum über eine Verfassungsänderung zugunsten
       von Präsident Alexander Lukaschenko statt].
       
       ## Cyberpartisanen bekennen sich zum Anschlag
       
       Aber da schon wenige Tage zuvor der russische Angriff auf die Ukraine
       begonnen hatte, interessierte sich niemand mehr besonders für dieses
       Referendum – [2][außer den „Cyberpartisanen“], die sich zu diesem Anschlag
       bekannten. Sie hatten ihn extra zum Referendum geplant. Aber das fiel
       plötzlich mit dem Krieg zusammen, so dass diese Attacken Teil des
       Schienenkriegs wurden und nicht mehr eine Anti-Referendum-Aktion.
       
       Die erste Cyberattacke auf das Netz der Belarussischen Bahn hatten die
       digitalen Partisanen bereits am 24. Januar verübt. Als Grund dafür gaben
       sie an, dass das Lukaschenko-Regime zu jener Zeit „Besatzungstruppen in
       unser Land gelassen hatte“. Es war sozusagen ein Probeangriff: Weder
       Sicherheits- noch Automatisierungssysteme wurden angegriffen, nur ein
       Großteil von Servern und Datenbanken verschlüsselt. Die Attacke vom Februar
       war hingegen deutlich größer.
       
       Die Cyberpartisanen schalteten das Intranet der Bahngesellschaft aus und
       deaktivierten den Hard- und Software-Komplex „Neman“ zur Steuerung des
       Fahrbetriebs.
       
       Jetzt kann man ihn nur noch per Hand steuern. Auch Bahnfahrkarten können
       nur noch händisch ausgestellt werden – schon am 28. Februar bildeten sich
       an den Ticketschaltern lange Schlangen, weil der Onlineverkauf nicht mehr
       funktionierte. (Die Wiederherstellung des Systems hat übrigens zwei Wochen
       gedauert.)
       
       In der Nacht auf den 1. März wurden die Relaisschränke auf den Gomeler und
       Baranowitschier Streckenabschnitten der Belarussischen Bahn in Brand
       gesetzt. Das sind genau die Routen, auf denen die russischen Militärzüge
       unterwegs waren. Und wenn Relaisschränke ausfallen, funktionieren die
       elektronischen Signalanlagen nicht mehr. Die Abschnitte stellten auf
       „Handbetrieb“ um, so dass die Züge nicht schneller als 20 Kilometer pro
       Stunde fahren können. Solche Möglichkeiten hatten die Schienenpartisanen im
       Zweiten Weltkrieg noch nicht.
       
       ## Festnahmen am 1. März
       
       Am 1. März wurde in der belarussischen Kleinstadt Stoubzy das Ehepaar
       Sergei und Ekaterina Glebko festgenommen. Sie hatten keine Relaisschränke
       in Brand gesetzt. Aber sie hatten Holzscheite auf die Gleise gelegt und
       diese angesteckt. Am Abend zeigte ein staatlich kontrollierter
       Telegram-Kanal ein Video, in dem Sergei Glebko, durch Schläge stark
       verletzt, sagte: „Ich habe zwei Holzscheite auf die Strecke gelegt, weil
       ich mich in Telegram-Kanälen informiert hatte und nicht einverstanden war
       mit dem, was da vor sich ging. Ich wollte irgendwie meine Unterstützung
       bekunden und deshalb habe ich diese Scheite angezündet.“ Die Eheleuten
       wurden nach Paragraf 289 des Strafgesetzbuches von Belarus angeklagt:
       „Terrorismus“.
       
       Es gab noch weitere Festnahmen: Alexei Schischkowez in Osipowitschi, Dmitri
       und Natalja Rawitsch sowie Denis Dikun und Alisa Malanowa in Swetlogorsk,
       in Witebsk Sergei Konowalow, in Bobruisk Ewgeni Minkewitsch, Wladimir
       Abramzew und Dmitri Klimow. Über Schischkowitsch konnte man im
       Telegram-Kanal des belarussischen Innenministeriums lesen, dass er „einer
       extremistischen Vereinigung beigetreten sei, nachdem er sich bei einem
       Mobilisierungs-Chatbot angemeldet hatte, um illegale Handlungen in Belarus
       zu begehen“, und dass er am 1. März angewiesen wurde, Eisenbahnstrecken zu
       blockieren und Molotowcocktails herzustellen.
       
       Da sich die Anklage darauf stützte, dass er angeblich „wollte, aber keine
       Zeit hatte“, geht es hier nicht um Terrorismus, sondern um Beteiligung an
       einer extremistischen Vereinigung. Das heißt, Schischkowez drohen drei bis
       sieben Jahre Gefängnis, dem Ehepaar Glebko acht bis zwanzig. Es sind teuer
       bezahlte Holzscheite.
       
       Denis Dikun aus Swetlogorsk war auch in dem Video zu sehen, das
       belarussische Sicherheitskräfte auf ihrem Telegram-Kanal gepostet hatten.
       Wie auch Sergei Glebko war er geschlagen worden. Das linke Auge war so
       geschwollen, dass es fast nicht mehr zu erkennen war. Die Methoden, mit
       denen diese demonstrative Reue vor der Kamera zustande kommt, sind
       offensichtlich: Man sieht sie auf den Gesichtern der Menschen, [3][zusammen
       mit den Hämatomen]. Aber Dikun war zumindest bei Bewusstsein und konnte
       sprechen. Andere Verhaftete wurden im belarussischen Fernsehen gezeigt, wie
       sie bewusstlos und blutüberströmt dalagen, nachdem man scharf auf sie
       geschossen hatte.
       
       Das war Ende März. Die staatlichen Fernsehsender weideten sich an den
       Bildern der Verwundeten. Journalisten hinter den Kulissen und
       Sicherheitskräfte vor der Kamera erklärten eifrig: „Das sind Einwohner von
       Bobruisk – ebendie, die am 28. März zwei Relaisschränke bei Osipowitschi in
       Brand gesetzt haben. Einige Tage später konnten wir sie festnehmen, als sie
       einen weiteren Terrorakt vorbereiteten, und Sondereinsatzkräfte haben ihnen
       diese Schussverletzungen zugefügt.“
       
       Nach den Worten des Vize-Innenministers Gennadi Kasakewitsch seien
       belarussische Sondereinsatzkräfte dermaßen professionell, dass sie sogar,
       wenn sie den Befehl erhielten, scharf zu schießen, filigran arbeiten
       könnten: zwei von drei der Festgenommen seien zwar noch auf der
       Intensivstation, würden aber wohl überleben. Man habe ihnen nur in die Knie
       geschossen, aber dank der Professionalität der Schützen seien die
       Schienenpartisanen auch nicht an Blutverlust gestorben.
       
       ## Triggerwarnung auf YouTube
       
       Übrigens wird YouTube, wo die staatlichen TV-Sender ihre Filme über die
       Festgenommenen und die Schießereien auch zeigen, gewarnt, dass „der Content
       der Filme einige Zuschauer verstören oder schockieren könnte“. Und in
       Belarus zeigte man solchen Content im Fernsehen, morgens, abends und
       zwischendurch – mit Kommentaren verschiedener Sicherheitskräfte und
       Propagandisten
       
       Die drei aus Bobruisk sind der Rettungswagenfahrer Ewgeni Minkewitsch, der
       Sportler Wladimir Abramzew und der Taxifahrer Dmitri Klimow. Der Fall wird
       mit dem Straftatbestand „Terrorismus“ gelabelt. Einige Tage später kam zu
       den „Terroristen“ aus Bobruisk noch einer aus Witebsk dazu – Sergei
       Konowalow, ein Mitarbeiter der Witebsker Signal- und
       Kommunikationsabteilung der Belarussischen Eisenbahn.
       
       Nun hat zwar der Telegram-Kanal der Gesellschaft der Belarussischen
       Eisenbahner bekannt gegeben, dass Konowalow verhaftet worden sei, nachdem
       ein örtlicher Ideologe, mit dem er in Streit geraten war, ihn denunziert
       hätte. Aber der Ideologe (ja, in Belarus gibt es tatsächlich den Posten des
       Ideologen) hatte dem KGB mitgeteilt, dass Konowalow angeblich einen
       Terrorakt vorbereite. Das hatte für eine Festnahme ausgereicht.
       
       Die Sabotageakte bei der Eisenbahn dauern an, sogar auch noch nach den
       blutigen Videos im Fernsehen. Mitte März wurden Relaisschränke auf den
       Bahnstrecken zwischen Domanowa-Lesnaya im Gebiet Brest und Fironowo-Sagate
       im Witebsker Gebiet gemeldet. Und am Bahnhof Orscha-Zentralna wurden sechs
       Signaltransformatoren zerstört.
       
       Ab dem 19. März patrouillierten an den Bahnstrecken in den Gebieten Gomel
       und Brest zum Schutz Streitkräfte des Innenministerium – mit Zelten,
       GPS-Trackern und mit Waffen. Am 23. März wurde der offizielle Telegram-Chat
       „Gesellschaft der Belarussischen Eisenbahner“ als extremistische Gruppe
       eingestuft.
       
       ## 38 reumütige Videos
       
       Am letzte Märztag wurden dutzende Menschen im Zusammenhang mit dem
       Schienenkrieg festgenommen. An diesem Tag „schleuderten“ staatliche
       Telegram-Kanäle gleich 38 reumütige Videos auf einmal ins Internet. Alle
       wirkten sie, als sei dabei ein Teleprompter zum Einsatz gekommen, nur die
       Settingdaten waren unterschiedliche.
       
       Jeder der Protagonisten dieser Videos sagte exakt ein und dasselbe: Er habe
       den Telegram-Kanal der Eisenbahner abonniert, aber nicht gewusst, dass
       dieser als extremistisch eingestuft worden sei: Der KGB habe ihm alles
       erklärt, jetzt bereue er das alles zutiefst und appelliere an die Bürger
       von Belarus auf, keine extremistischen Telegram-Kanäle zu abonnieren.
       
       Über die genaue Zahl der festgenommenen Schienenpartisanen ist bis heute
       wenig bekannt. Auch wie viele Sabotageakte sie begangen haben, weiß
       niemand. Die belarussischen Sicherheitskräfte kommen selbst mit den Zahlen
       durcheinander. Für sie ist etwas anderes die Hauptsache. Mit aller Kraft
       versuchen sie den neuen Schienenkrieg als eine Operation westlicher
       Geheimdienste darzustellen. Über jeden der Festgenommenen sagen sie, wobei
       sie immer den Ausdruck „westlicher Kurator“ verwenden, er habe „Aufgaben
       bekommen“ und aus „finanziellen Interessen gehandelt“.
       
       Mit dem westlichen Kurator erschreckt das Fernsehen Kinder mehr als eine
       alte Großmutter.
       
       Ihnen damit aber wirklich Angst einzujagen, ist jedoch eher
       unwahrscheinlich: Steht doch in den Geschichtslehrbüchern geschrieben, dass
       der Schienenkrieg ein heroischer Teil des Widerstandskampfes der Partisanen
       war.
       
       Aus dem Russischen Gaby Coldewey
       
       9 May 2022
       
       ## LINKS
       
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