# taz.de -- Seymour Hersh zur Nord-Stream-Sprengung: Pulitzerpreisträger auf Abwegen
       
       > Wer sprengte die Nord-Stream-Pipelines? Seymour Hersh glaubt darauf eine
       > Antwort gefunden zu haben. Leider missachtet er journalistische
       > Standards.
       
 (IMG) Bild: Pulitzerpreisträger Seymour Hersh und die Pipelinesprengungen: Enthüllungsstory oder Räuberpistole?
       
       Die Legenden sind alt geworden. Carl Bernstein wird am Dienstag 79, Bob
       Woodward im März 80. Und Seymour Hersh wird im April sogar 86 Jahre alt.
       Neben den beiden Watergate-Enthüllern gilt der unermüdliche Hersh als
       berühmtester Rechercheur der Welt. Für die Aufdeckung des Massakers von Mỹ
       Lai, einem schrecklichen Kriegsverbrechen der US-Armee, erhielt er 1970 den
       Pulitzer-Preis. Etliche Enthüllungen folgten in den vergangenen
       Jahrzehnten. Hersh war stets einer, der sich mit den Mächtigen angelegt
       hat.
       
       Um nur ein weiteres Beispiel zu nennen: 2004 trug er maßgeblich dazu bei,
       dass die Folterpraktiken der USA im irakischen Gefängnis Abu Ghraib
       öffentlich wurden. Ohne Zweifel ein Mann, der sich große journalistische
       Meriten erworben hat. Auch wenn er gelegentlich kräftig danebengelangt hat.
       Wie bei seiner Kennedy-Biografie, wo er sich von gefälschten Dokumenten auf
       eine falsche Fährte führen ließ. Das lässt aber seine Verdienste nicht
       vergessen.
       
       Hersh selbst bezeichnet sich nicht ganz unbescheiden als „weltweit
       führenden investigativen Journalisten“. Falls seine neueste Geschichte
       stimmen sollte, ließe sich das tatsächlich nur noch schwerlich bestreiten.
       Bedauerlicherweise ist es mindestens ebenso gut möglich, dass sich Hersh
       zum Abschluss seiner höchst anerkennenswerten journalistischen Laufbahn
       vollständig die Reputation ruiniert.
       
       Jedenfalls hat seine neueste „Enthüllung“ eine enorme Sprengkraft: Für ihn
       ist es eine Tatsache, dass die USA mit Hilfe Norwegens in einer verwegenen
       Geheimaktion wenige Kilometer vor der dänischen Insel Bornholm die
       Nord-Stream-Pipelines im September 2022 gesprengt haben. So hat er es jetzt
       in einem mehr als 31.000 Zeichen und mehr als 5.200 Wörter langen Artikel
       aufgeschrieben – [1][auf der Onlineplattform Substack], nicht in einer
       renommierten Zeitung wie der New York Times oder der Washington Post. Und
       das hat gute Gründe. Auch die taz hätte den Text abgelehnt, wäre er ihr
       angeboten worden.
       
       ## Dürftige Faktenlage
       
       Das Grundproblem von Hershs Artikel ist die mehr als dürftige Faktenlage.
       Er kommt vollständig ohne Beweise aus. Das alleine macht die Geschichte
       zwar noch nicht unseriös. Aber wenn sich der altgediente Journalist
       stattdessen ausschließlich auf eine einzige anonyme „Quelle mit direktem
       Wissen über die operative Planung“ beruft, ist das zu wenig, um
       journalistischen Standards zu genügen. Dafür hätte er sich wenigstens an
       das Zweiquellenprinzip halten müssen, das verlangt, dass eine Information
       durch zwei zuverlässige und unabhängige Quellen bestätigt wird. Das soll
       davor schützen, Räuberpistolen aufzusitzen.
       
       Hershs vermeintlicher Wistleblower hätte also Ausgangs-, nicht Endpunkt der
       Recherche sein müssen. Zumal laut Hersh erstaunlich viele von der Operation
       gewusst haben sollen: in der US-Administration, der CIA, der U.S. Navy bis
       hin zur sozialdemokratisch geführten Regierung und der Marine Norwegens.
       Und da hat sich während seiner, nach eigenen Angaben, dreimonatigen
       Recherche niemand anderes finden lassen? Wenn dem so war, dann reicht es
       eben nicht. So bitter das ist.
       
       Schon Kennedy-Biograf Arthur Schlesinger nannte Hersh einst „den
       leichtgläubigsten investigativen Reporter, dem ich je begegnet bin“. Ist
       dafür seine neue Story ein weiterer Beleg? Wobei der allzu lockere Umgang
       mit anonymen Quellen Hersh ohnehin bereits früher immer mal wieder in die
       Bredouille gebracht hat. Aber diesmal nur eine einzige?
       
       Gleichwohl bescheinigt die Wochenzeitung Freitag [2][in ihrer
       Onlineausgabe] dessen Schilderung eine hohe Plausibilität. Aber ist das so?
       Nehmen wir nur eine kleine Passage zur Überprüfung: die über
       Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, den Hersh fälschlicherweise –
       anstelle des US-Generals Christopher G. Cavoli – zum Oberbefehlshaber der
       Nato ernennt. Der frühere norwegische Ministerpräsident sei, zitiert Hersh
       seine anonyme Quelle, „der Handschuh, der auf die amerikanische Hand
       passt“.
       
       ## Fehlende Plausibilität
       
       Zur Begründung führt Hersh aus, dass Stoltenberg ein „überzeugter
       Antikommunist“ sei, „der seit dem Vietnamkrieg mit dem amerikanischen
       Geheimdienst zusammengearbeitet“ habe. Seitdem genieße er „vollstes
       Vertrauen“. Nun ja, das könnte vielleicht hinkommen, wenn Stoltenberg so
       alt wie Hersh wäre.
       
       Das ist er aber nicht. Als am 27. Januar 1973 das Pariser Abkommen über die
       Beendigung des Krieges und die Wiederherstellung des Friedens in Vietnam
       geschlossen wurde, war Stoltenberg gerade mal 13 Jahre alt. Und zuvor soll
       er bereits mit dem US-Geheimdienst zusammengearbeitet haben? Das klingt
       jetzt nicht wirklich so ganz einleuchtend.
       
       Keine Frage, Hersh hat eine spannende Geschichte geschrieben. Aber
       plausibel klingt sie eben nicht.
       
       Das gilt übrigens auch für den Anschlag selbst: Da soll nach angeblich
       monatelanger akribischer Planung, die bereits im Dezember 2021 – zwei
       Monate vor dem russischen Überfall auf die Ukraine – begonnen hat, von
       heute auf morgen während einer Nato-Übung im Juni 2022 alles umgeworfen
       worden sein. So dass die US-Taucher die Bomben an den Gaspipelines nicht
       wie vorgesehen mit einem 48-Stunden-Timer ausstatteten, sondern mit
       anspruchsvolleren Zündern, mit der die Sprengsätze erst Monate später
       mittels einer von einem Überwachungsflugzeug der norwegischen Marine
       abgeworfenen Sonarboje zur Explosion gebracht werden konnten.
       
       Und dann hat das alles noch ohne irgendwelche vorherigen Tests
       wundersamerweise perfekt geklappt. Das klingt schon ziemlich fantastisch.
       Warum allerdings nur drei der vier Röhren gesprengt wurden, dafür bleibt
       Hersh eine Erklärung schuldig.
       
       ## Zu viele Fragwürdigkeiten und Ungereimtheiten
       
       Dass die US- wie auch die norwegische Regierung Hershs Behauptungen aufs
       Schärfste dementieren – geschenkt. Auch Russland hat entschieden einer
       Tatbeteiligung widersprochen. So wie das jedes Land machen würde, das sich
       einer solchen Beschuldigung ausgesetzt sieht. Doch es sind zu viele
       Fragwürdigkeiten und Ungereimtheiten, um Hershs Geschichte einfach so für
       bare Münze zu nehmen.
       
       Trotzdem wird sie nicht nur von russischen und chinesischen
       Regierungskreisen begierig aufgegriffen. Die junge Welt hat sie [3][in
       deutscher Übersetzung veröffentlicht], die Ex-Linksfraktionsvorsitzende
       Sahra Wagenknecht bescheinigte Hersh auf Twitter, „minutiös recherchiert“
       zu haben, und AfD-Chef Tino Chrupalla twitterte: „Die Bundesregierung muss
       diesem Verdacht nachgehen!“ Sie alle eint, dass Hershs Geschichte in ihre
       Erzählung passt, dass die USA für alles Böse in der Welt verantwortlich
       sind. Und es passt perfekt in ihre prorussische Propaganda.
       
       Aber wer hat denn nun die Nord-Stream-Pipelines gesprengt? Das ist
       weiterhin völlig offen. So ist auch die bereits unmittelbar nach dem
       Anschlag in zahlreichen westlichen Medien verbreitete Behauptung, es wäre
       Russland gewesen, genauso wenig faktenbasiert. Hier gilt ebenfalls:
       Journalismus sollte nicht interessengeleitet, sondern aufklärerisch sein.
       Vorschnelle Schlussfolgerungen auf der Basis von dem zu ziehen, was der
       eigenen ideologischen Vorstellungswelt entspricht, ist nie hilfreich – das
       gilt gerade auch für ein geopolitisches Ereignis dieser Tragweite.
       
       Und die Cui-bono-Frage kann als Rechercheansatz hilfreich sein, aber wer
       die Antwort mit der Lösung gleichsetzt, setzt sich der großen Gefahr aus,
       einer Verschwörungstheorie aufzusitzen. Denn es ist ein fataler
       Fehlschluss, dass diejenigen, die von etwas profitieren, immer auch dessen
       Verursacher sind.
       
       Leider darf man sich da nichts vormachen: Die faktenlosen Beschuldigungen
       in die eine oder andere Richtung werden weiter blühen. Dazu trägt bei, dass
       auch fünfeinhalb Monate nach den Explosionen immer noch keinerlei
       Ermittlungsergebnisse bekannt gemacht worden sind.
       
       Dass die Bundesregierung bislang Fragen nach dem Ermittlungsstand „aus
       Gründen des Staatswohls“ nicht beantwortet, erscheint dabei nicht unbedingt
       hilfreich. Aber möglicherweise werden tatsächlich nur
       Investigativjournalisten irgendwann aufklären, was da in der Ostsee
       tatsächlich geschehen ist. Vielleicht haben ja Woodward und Bernstein noch
       mal Lust und Zeit, sich darum zu kümmern.
       
       10 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://seymourhersh.substack.com/p/how-america-took-out-the-nord-stream
 (DIR) [2] https://www.freitag.de/autoren/sebastianpuschner/wer-profitiert-von-seymour-hershs-enthuellung-zu-den-nord-stream-anschlaegen
 (DIR) [3] https://www.jungewelt.de/artikel/444836.terroristische-geopolitik-wie-die-usa-nord-stream-ausschalteten.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Pascal Beucker
       
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