# taz.de -- Spekulatives Buch zum Thema Sound: Lärm der Maschinen
       
       > Musikbuch der Stunde: Der Sammelband „Unsound : Undead“, herausgegeben
       > vom Thinktank Audint, erweitert den Begriff Klang um seine dunklen
       > Stellen.
       
 (IMG) Bild: Installation des vergrößerten Buchcovers in der Londoner Galerie Arebyte
       
       Vorne auf dem aktendeckelartigen, mattgrünen Buchcover könnte die
       prismatische Nachbildung einer Druckwelle abgebildet sein. Sind es
       vibrierende Lamellen einer pumpenden Bassbox? Oder wird eine Detonation
       computergrafisch dargestellt? „Audint – Unsound : Undead“ heißt das
       dazugehörige Buch, sein Titel liefert keine sofortige Aufklärung. Die
       Unschärfe macht aber neugierig: Wieso heißt es „Unklang : Untot“? Weshalb
       wird Sound um eine negative Seite erweitert? Und warum ergibt sich daraus
       das lebende Tote in gefetteter Schrift? Zwischen den Buchdeckeln des Bandes
       finden sich zahlreiche Antworten in Form von 64 Texten, fast alle kurz und
       knackig.
       
       Die US-Schriftstellerin Ursula K. Le Guin hat einmal postuliert, dass
       Wahrheit eine Sache der Vorstellungskraft sei. Und „Unsound : Undead“
       liefert den Beweis dafür, weil es zwischen Realität und Science-Fiction,
       zwischen Gedankenexperimenten und faktenbasierten Texten,
       wissenschaftlichen Studien und journalistischen Reportagen meisterhaft hin
       und her switcht und trotzdem ein Flow entsteht.
       
       Audint, die Gruppe der Herausgeber, ist ein Thinktank, der in der
       wissenschaftsskeptischen Tradition angloamerikanischer Forschungsverbände
       und Künstlerkollektive wie CCRU und Art&Language steht und jenseits von
       akademischen Institutionen operiert. Mitglieder der Gruppe sind in
       Manchester, London und in den USA ansässig. Hierzulande bekanntestes
       Mitglied ist der Londoner Elektronikproduzent, Labelbetreiber und
       Kulturwissenschaftler Steve Goodman. Audint-AutorInnen, darunter der
       jordanische Künstler Lawrence Abu-Hamdan, der New Yorker Autor Dave
       Tompkins und die Sinologin Anna Greenspan kommen aus allen Ecken eines
       Diskurses über Pop, spekulative Wissenschaft und bildende Kunst.
       
       ## Im Banne des Hyperdigitalen
       
       Sie untersuchen weitgehend unbekannte Klanggefilde und bringen dabei auch
       verdrängte Themen an die Oberfläche: Es geht etwa um den Geräusch-Abgrund,
       der sich bei Koliken im menschlichen Körper auftut, oder Resonanzen im
       Bewusstsein, die entstehen, wenn Menschen gemeinsam Magic-Mushrooms
       einnehmen, es geht um perfide militärische Methoden der Folter mit
       absoluter Stille durch die syrische Armee und den „Jodphur Boom“, eine
       ohrenbetäubende Erschütterung in einer Wüstenregion Nordindiens im Dezember
       2012. Auch paranormale Erscheinungen werden erklärt, wie etwa, „Duppies“,
       fliegende Geister und die Geräusche, die sie in der Vorstellungswelt der
       JamaikanerInnen entfachen.
       
       „Unsound : Undead“ geht also über rein musikalische Aspekte von Klang
       hinaus und liefert trotzdem (un-)zeitgemäße Betrachtungen von populären
       Soundphänomenen. Geschichte kommt dabei nicht zu kurz, obwohl hier viel
       Dystopisch-Futuristisches einfließt und eine Gegenwart auseinandergenommen
       wird, die im Banne des Hyperdigitalen steht.
       
       Nachdenken über Klang und seine Abgründe, schließt bei Audint immer das
       Hässliche, das Verdrängte, das Brutalistische mit ein, all das, was unsere
       industrialisierte und rundum überwachte Umwelt an Lärm und Geräuschen
       produziert, vom Kabelbrummen im Großraum Detroit bis hin zu
       Hochfrequenzaussendungen aus dem All.
       
       Ein bisschen Manifestcharakter darf schon sein: Noch vor dem einführenden
       Vorwort fährt Audint in einer Art Intranet-E-Mail-Kommunikation eine
       gewaltige Wortwalze auf: Von „3Dacousticmanipulationaccousmatic…“ über
       „…afrofuturismduppyhalucinationheavyrotationbrainsurgery“ bis
       „wacoseigesoundsweepmediazombiesound…“ Buzzwords zum Buchstabenschwarm
       vereint: Un-Klang wirkt im Zeitalter von durchlaufenden Newstickern und
       Loops selbst wie ein Möbiusband der Geschichte(n). Damit ist die Story
       nicht auserzählt, das Nachdenken fängt ja gerade erst an: „If abstraction
       is complete, there is no more experience“, heißt die Widmung auf der ersten
       Buchseite. Es wird eben nicht rein wissenschaftlich argumentiert,
       ergebnisoffen sieht sich das britische Forscherkollektiv Audint in der
       Selbstbeschreibung seiner Projektarbeit: „Unsound : Undead“ sei „ein
       Scharnier, dass das Unbekannte und Seltsame ausdrücklich miteinschließt.“
       
       Schließlich hat das Wesen von Klang als einem Gegenstand keine fixen
       Definitionen, seine Parameter werden auf technischer Ebene, erst recht in
       der Welt des Digitalen, ständig aufs Neue vermessen und erweitert.
       „Unsound“, so wird im Vorwort ein Grenzbereich genannt und damit eine
       erweiterte Ebene von Klang ausgemessen, „die man gewöhnlich akustisch
       nicht mehr wahrnehmen kann, oder aber, die bereits nicht mehr hörbar ist“.
       Unsound habe nicht-kognitive, nonhumane Eigenschaften, wie sie etwa bei
       Maschinenlärm, verschalteten elektronischen Hyperrhythmen und auditiven
       Halluzinationen vorkommen.
       
       ## Aufregende Lektüre
       
       Der Begriff „Undead“ wiederum sei eine Chiffre, schreiben die Herausgeber,
       für die Fortentwicklung von sozioökonomischen, ästhetischen, technischen
       und juristischen Faktoren. Das paranormale Spukhafte, das gespenstische
       Wesen des Spätkapitalismus hat der britische Autor Mark Fisher in Anlehnung
       an Derridas „Hauntology“ genannt. Auch in „Audint – Unsound : Undead“
       taucht Hauntology in unterschiedlicher Maskierung auf. Ob es sich um
       Fenster handelt, die unheimliche Geräusche entfachen, oder tote Rapper wie
       Tupac Shakur und Eazy-E, die wiederauferstehen und zwar als Avatare,
       wiederbelebt für die Leinwand und technisch so aufgemotzt, dass sie als
       Pop-Zombies wieder Konzerte geben.
       
       Nicht nur deshalb ist „Unsound : Undead“ in jeder Hinsicht eine aufregende
       Lektüre. Die Palette der verhandelten Themen reißt LeserInnen aus der
       Komfortzone ihrer Hörgewohnheiten, hält sie an zu einer neuen, aufmerksamen
       akustischen Form von Wahrnehmung und mäandert zwischen verschiedenen
       Disziplinen: Popdiskurs, Science-Fiction und Technikgeschichte. Man weiß
       nie genau, ob gerade Fakten verhandelt werden oder Fantasien, aber das
       lenkt nicht ab, im Gegenteil, es regt zum Nachdenken an und erhöht die
       Spannung beim Lesen.
       
       So tut sich ein Unterbauch auf, ein Paralleluniversum, in dem gefährliches
       Halbwissen mit Altphilologie um die Wette freestylt. Die MacherInnen von
       Audint agieren als Staubsauger, die das Aufgesammelte mit großem Respekt
       vor dem Gegenstand aufbereiten. So oder so, es fühlt sich sperrig an wie
       ein Zukunftsroman. Also, nicht erst warten, bis in fünf Jahren die deutsche
       Übersetzung fertig ist, spannender wird der Popdiskurs diese Saison nicht.
       
       9 Jun 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julian Weber
       
       ## TAGS
       
 (DIR) AUDINT
 (DIR) Klang
 (DIR) Kolik
 (DIR) Festival
 (DIR) Magazin
 (DIR) KiWi-Musikbibliothek
 (DIR) Joy Press
 (DIR) Suzanne Ciani
 (DIR) David Keenan
 (DIR) Kelsey Lu
 (DIR) Afrika
 (DIR) elektronische Musik
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) „Unsound“-Festival in Krakau: Beim Splongeflux stockt der Atem
       
       „Unsound“ widmet sich Dada und KI: Das Elektronik-Festival in Krakau bleibt
       interessiert an Neuem. Eine Bilanz der Ausgabe 2023.
       
 (DIR) Auftakt Talkreihe „On Music“ HKW Berlin: Navigationshilfe im Dschungel
       
       Mit einem kuratierten Abend des Schweizer Webmags „Norient“ begann die
       Reihe „On Music: Life after Music Magazines“ im Berliner HKW.
       
 (DIR) Start der KiWi-Musikbibliothek: Verzwergung hat Pop nicht verdient
       
       Die ersten vier Bände der KiWi-„Musikbibliothek“ inszenieren Popmusik als
       Biedermeier-Hochkultur. Ein bedauernswerter Rückschritt.
       
 (DIR) Übersetzung eines Popdiskurs-Klassikers: Gepard beim Gehirnklempner
       
       „The Sex Revolts“ ist eine bahnbrechende freudianische Studie über Pop. Das
       Buch wurde endlich übersetzt und wird nun auf einer Lesetour vorgestellt.
       
 (DIR) Konzert von Suzanne Ciani in Berlin: Ihre gleitenden Hände
       
       US-Synthesizerpionierin Suzanne Ciani bringt bei ihrem Konzert am Freitag
       in der Berliner Trauma-Bar die Sounds zum Schweben, Glucksen und Hämmern.
       
 (DIR) Schottischer Rock'n'Roll-Roman: Pop als Halluzination
       
       „Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der
       Westküste Schottlands praktiziert wird“: ein Roman von David Keenan.
       
 (DIR) Kelsey Lu in Berlin: Geprägt vom Black Atlantic
       
       Idiosynkratisches Musikerinnenprofil: US-Künstlerin Kelsey Lu gastierte für
       ihr Konzertdebüt in Deutschland in der Berliner Kantine am Berghain.
       
 (DIR) Experte über historische Tonaufnahmen: „Das sind Dokumente des Alltags“
       
       US-Musikethnologe Radano hat historische Tonaufnahmen aus Afrika im
       Phonographischen Archiv Berlin untersucht – mit erstaunlichem Ergebnis.
       
 (DIR) Vocoder als Musikmaschine: The Sound of Andersartigkeit
       
       Heute verzückt der Vocoder Menschen auf dem Dancefloor. Erfunden wurde er
       zur Verbesserung der Telekommunikation.
       
 (DIR) Gespenstergeschichte des Klangs: Wie wir vom Spuken reden
       
       Allerlei Geräusche machen sich im Alltag akustisch bemerkbar. Versuch einer
       Analyse der Lebensräume unseres Klangspektrums.