# taz.de -- TV-Sender Al Jazeera: Katars Kameras
       
       > Al Jazeera prägt die Bilder, die die Welt aus Gaza zu sehen bekommt. Wie
       > unabhängig ist die Berichterstattung des von Katar finanzierten Senders?
       
 (IMG) Bild: Leid im medialen Fokus: Al-Jazeera-Korrespondent Wael Al-Dahdouh hat Frau und Kinder verloren
       
       Wenn sich der Hamas-Chef Ismail Haniya in diesen Tagen von seinem Exil in
       Doha an die Weltöffentlichkeit richtet, taucht sein Gesicht neben dem Logo
       von Al Jazeera auf. In seinen manchmal bis zu 15-minütigen Reden bezeichnet
       Haniya die israelische Regierung als „die neuen Nazis“, beschwört die
       Vernichtung des jüdischen Staates herauf und lässt wissen: „Wer sich auf
       die Seite Israels schlägt, dem droht Vergeltung“.
       
       Wie kaum ein anderer Sender prägt [1][Al Jazeera] derzeit den Blick auf den
       Krieg in Nahost. Nach eigenen Angaben und Mediendiensten erreicht der
       katarische Nachrichtenkanal mehr als 470 Millionen Menschen mit seinen
       Programmen, vor allem auf Arabisch und Englisch. Die israelische Regierung
       wirft Al Jazeera vor, mit seiner ungefilterten Berichterstattung die
       nationale Sicherheit Israels zu gefährden. „Dieser Sender hetzt gegen die
       Bürger Israels, er filmt unsere Truppen in Versammlungsgebieten außerhalb
       von Gaza. Er ist ein Propaganda-Sprachrohr“, sagt der israelische
       Informationsminister Shlomo Karhi, der die gesamte Berichterstattung zum
       Krieg in seinem Land einschränken möchte, eingeschlossen die liberale
       israelische Tageszeitung Haaretz.
       
       Wer in diesen Tagen Videos aus Gaza sieht – Menschen, die mit bloßen Händen
       im Schutt nach ihren Angehörigen graben, verletzte, blutende Kinder,
       Menschen auf der Flucht – sieht oft Al Jazeeras exklusiven Blick, weil er
       quasi als einziger Sender aus Gaza berichtet. Medienvertreter*innen
       kommen zur Zeit nur gemeinsam mit dem israelischen Militär nach Gaza.
       Permanent stationiert sind weitestgehend nur die Mitarbeitenden von Al
       Jazeera. Redaktionen auf der ganzen Welt nutzen den Sender deswegen als
       Informationsquelle, zitieren ihn und veröffentlichen seine Bilder. Al
       Jazeera hat sich im Gegensatz zu anderen Medien schon vor Jahren ein
       dichtes Netzwerk an Journalist*innen und Producer*innen im
       Gazastreifen aufgebaut. Doch die Al-Jazeera-Reporter*innen sind in diesen
       Kriegswochen [2][selbst auch Betroffene.] So etwa der Reporter Wael
       al-Dahdouh, dessen Familie Ende Oktober laut Angaben des Senders bei einem
       israelischen Bombenangriff ums Leben kam. Die Szene, wie er um seinen Sohn
       live im Fernsehen trauert, verbreitete sich viral, löste eine
       Empörungswelle in der ganzen Region aus.
       
       Zur Einordnung des Senders in der arabischsprechenden Welt hilft ein Blick
       zurück: 1996 gründete der damalige Emir von Katar den pan-arabischen
       Nachrichtenkanal, direkt finanziert aus seinem Staatshaushalt. Eine
       Medienrevolution. Zum ersten Mal sollte das arabischsprachige
       Massenpublikum eine alternative Sichtweise angeboten bekommen, die nicht
       den jeweiligen Regimen in der Region untergeordnet war. 2001 schickte Osama
       Bin Laden seine Audioaufnahmen aus Afghanistan in die Redaktion in Doha –
       ein Scoop für den Sender, der als erstes Medium direkten Kontakt zu Bin
       Laden hatte, was Al Jazeera gleichzeitig die Kritik einbrachte, Terror zu
       unterstützen. Die Zuschauer*innen sahen 2003 live vom Wohnzimmer, wie
       US-Soldaten Stadt für Stadt im Irak einnahmen, wie Demonstranten die
       berühmte Statue des Diktators Saddam Hussein in Bagdad zu Sturz brachten.
       Später berichtete Al Jazeera über die Menschenrechtsverletzungen durch die
       US-Armee.
       
       ## Prestigeprojekt und politischer Trotz
       
       Ohne Al Jazeera wären die arabischen Revolutionen nach 2011 anders in die
       Geschichtsbücher eingegangen. Nicht als Massenprotest im Sinne der
       Menschenrechte, sondern als niederzuschlagende Gefahr für die Stabilität
       der Region. Korrespondent*innen berichteten live und rund um die Uhr
       aus Tunis, Kairo oder Aleppo. Der Sender stufte die Proteste gleich als
       Revolutionen ein, nicht als Krisen, wie viele westliche Medien. Bisher
       zensierte politische Kräfte kamen zu Wort. Damit wurde der Nachrichtenkanal
       zum erklärten Feind der Regime in der Region. Katar pumpte weiter Geld in
       den Sender: als Prestigeprojekt, aus politischem Trotz und weil die
       unabhängige Berichterstattung von Al Jazeera durchaus im Sinne des Emirats
       war und weiterhin ist.
       
       „Al Jazeera hat eine arabische Debattenkultur sichtbar gemacht“, sagt
       Carola Richter. Die Professorin für Internationale Kommunikation an der
       Freien Universität Berlin forscht seit Jahren zur Rolle des Senders in der
       arabischen Medienlandschaft. Er sorge im arabischsprachigen Raum für eine
       Medienvielfalt, die es vorher so nicht gab. Manchmal positionierte sich Al
       Jazeera aber deutlich, für einige zu deutlich. In den Monaten nach der
       Revolution 2011 pries der Sender konservative und islamistische Parteien
       wie die Muslimbruderschaft in Ägypten als politische Alternative an, gab
       ihrem Imam Yusuf Al-Qaradawi sogar eine Sendung.
       
       Auch im aktuellen Programm zum Krieg kann man eine mangelnde
       journalistische Distanz zur Hamas sehen. Die Segmente zum Krieg im Programm
       des Fernsehsenders und der Menü-Punkt auf der arabischen Internetseite
       aljazeera.net heißt „Sturm des Al-Aqsa“ – der Hamas-Begriff für den
       [3][Terrorangriff auf Israel.] In einer Sendung behauptet ein Moderator,
       dass man in den Bildern aus Gaza die Auswüchse eines „von Israel gepflegten
       rassistischen Apartheid-Systems gegen die Palästinenser“ erkennen könne.
       
       Um sich ein umfassenderes Bild zu verschaffen, schauen viele Menschen im
       arabischsprachigen Raum auch Konkurrenzprogramme wie das arabische Angebot
       der BBC, lokale Sender oder Al Arabiya. Sie diversifizieren ihre Quellen,
       denn sie wissen um deren Tendenzen.
       
       ## Weitestgehend unabhängig
       
       Al Jazeera ist pro-palästinensisch, oft gegen die alten Regime im Nahen
       Osten und Nordafrika gerichtet, die teilweise eng mit dem Westen
       kooperieren wie beim Thema Abwehr von Flüchtenden. Der Sender zeigt sich
       kritisch gegenüber Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten,
       reiche Länder, zu denen Katar in direkter, teils feindseliger Konkurrenz
       steht. Bei Al Jazeera sucht man vergeblich Berichte zur Rolle des Emirats
       in der Welt oder zu seiner politischen Nähe zur Hamas. Teile der
       Hamas-Führung agieren aus dem Exil in Doha. Und Katar unterstützte laut
       Recherchen mit bis zu 30 Millionen US-Dollar pro Monat Entwicklungshilfe im
       Gazastreifen.
       
       Dennoch berichten Expert*innen, dass Al Jazeera weitestgehend unabhängig
       agiert, und auch Carola Richter stimmt dem zu: „Ich würde nicht per se
       sagen, dass Al Jazeera ein Propaganda-Instrument Katars ist.“
       
       Recherchen von Al Jazeera werden von anderen Medien nicht selten überprüft
       und übernommen, erfüllen also journalistische Kriterien der Unabhängigkeit,
       des Quellenschutzes, der Konfrontation der Mächtigen. So sorgt Al Jazeera
       indirekt dafür, den voreingenommenen westlichen Blick auf den Nahen Osten
       und Nordafrika mit Fakten zu ergänzen.
       
       Al Jazeeras offizieller Slogan lautet „Die Meinung und die andere Meinung
       dazu.“ Und tatsächlich nimmt der Sender diese Meinungsdarstellung ernst.
       Die Kassam-Brigaden, eine militärische Hamas-Unterorganisation, drohen mit
       der Vernichtung Israels und einem „Kampf bis zum Sieg“. Parallel dazu
       zeigt Al Jazeera die Hamas-Aufnahme eines Kassam-Kämpfers, der einen
       israelischen Panzer mit einer Granate zerstört. Doch auch die andere
       Kriegspartei bekommt Sendezeit. „Hören wir jetzt, was das israelische
       Militär zu sagen hat. Es spricht Admiral Daniel Hagari, Sprecher der IDF“,
       sagt der Moderator nach der weitestgehend ungefilterten Übertragung der
       Hamas-Perspektive. Für mehrere Minuten spricht der IDF-Sprecher zum
       Publikum.
       
       ## Journalismus als Außenpolitik
       
       Auf Al Jazeera erklären Sprecher der israelischen Armee, manchmal
       exklusiv, den Einsatz in Gaza. Immer wieder fällt der Satz: „Die Hamas
       wird vollständig ausgelöscht werden“. Der Sender zeigt Videomaterial des
       israelischen Militärs: Bombardements des Gazastreifens oder Bodentruppen,
       wie sie im Häuserkampf in Gaza vorrücken.
       
       Zwischen der Meinung und der anderen Meinung? Liegt auch Einordnung.
       Politikwissenschaftler*innen analysieren das Gesagte,
       Politiker*innen werden mit den Bildern konfrontiert, Angriffe beider
       Seiten werden rekonstruiert und infrage gestellt.
       
       Dieser [4][Journalismus ist im Sinne der katarischen Außenpolitik]. Jeder
       Bericht über das Leid in Gaza, den Terror in Israel und die martialischen
       Aussagen der Kriegsparteien unterstreicht die diplomatische Kraft aus Doha.
       Das geplante Verbot des Senders seitens der israelischen Regierung ist
       vorerst auf Eis. Sie würden als Affront gegen das Emirat selbst gelesen.
       Und Katars Vermittlerrolle bei den Verhandlungen zur Freilassung der
       Geiseln, aber auch im Sinne einer permanenten Lösung des Konflikts, ist zu
       wichtig für Israel, eigentlich für alle Seiten.
       
       1 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Pressefreiheit-im-Nahen-Osten/!5438798
 (DIR) [2] /Palaestinensische-Reporter-in-Gaza/!5972310
 (DIR) [3] https://www.youtube.com/watch?v=EW0Atcdy38g
 (DIR) [4] /Katar-als-Vermittler-in-Nahost/!5976828
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mohamed Amjahid
       
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