# taz.de -- US-Punkmusikerin Carrie Brownstein: Hunger nach Akzeptanz
       
       > In ihren Memoiren misst Brownstein das Verhältnis zwischen Körper und
       > Musik aus. Es ist vor allem ein Buch über ihre Band Sleater-Kinney.
       
 (IMG) Bild: Bei einem Live-Auftritt in Austin: Sleater-Kinney mit Sängerin Brownstein.
       
       Sleater-Kinney war meine Familie, die längste Beziehung, die ich je hatte,
       die Band bewahrte meine Geheimnisse, sie hielt meine Knochen zusammen,
       floss in meinen Adern, hat mir unzählige Male das Leben gerettet“, schreibt
       Carrie Brownstein über ihre Band, die sie kurz darauf auflösen wird – mit
       ihren Worten gelesen: ein destruktiver Akt gegen sich selbst.
       
       Die heute 41-Jährige war von Anfang an Sängerin und Gitarristin bei
       Sleater-Kinney. Entstanden zu Beginn der neunziger Jahre im Umfeld der
       Riot-Grrrl-Szene der US-Westküsten Kleinstadt Olympia hat die Band bis 2005
       sieben Alben veröffentlicht. Dem rauen Debüt von 1995 folgten Meilensteine
       wie „Call The Doctor“ bis zum professionell-rockigen „The Woods“ von 2005,
       mit dem die Geschichte der dreiköpfigen Band endete. Vorerst.
       
       Denn im Januar 2015 waren Sleater-Kinney wieder da: neues Album,
       Welttournee und die gleiche Energie, die die „beste Rockband der USA“
       ausmacht. Als solche hat sie der kalifornische Kulturkritiker Greil Marcus
       bezeichnet. Mit ihrem typischen Setting aus zwei Gitarren und Schlagzeug,
       ohne Bass, haben Sleater-Kinney einen spezifischen Sound erschaffen. Wie
       sie durch Musik und Band zu sich selbst findet, erzählt Carrie Brownstein
       nun in ihrer Autobiografie „Hunger Makes Me a Modern Girl“ – anschaulich,
       humorvoll, selbstironisch und oftmals brutal ehrlich.
       
       Aufgewachsen ist Carrie Brownstein in einem Vorort von Seattle. Ihre
       Kindheit war alles andere als glücklich. Die Mutter essgestört, kommt von
       einem Klinikbesuch nie wirklich zurück. Carrie nimmt die Ersatzmutterrolle
       ein. Sie lässt sich auf viele Rollenspiele in der Schulzeit ein:
       Klassensprecherin, Entertainerin, Performerin. Während viele Teenager sich
       schwertun, ihren Platz in der Welt zu besetzen, scheint sich Carrie
       Brownstein in einer nicht enden wollenden Pubertät wiederzufinden.
       
       In einer seltsamen Mimikry stellt sie als Teenager Bands und Stars nach.
       Ihre musikalische Leidenschaft richtet sich weniger auf den eigenen
       kreativen Output als auf Imitation und Fantum. Sie will körperlich
       dazugehören und anerkannt werden. Den Wunsch der Mutter, physisch aus der
       Welt zu verschwinden, dreht die junge Carrie in das Gegenteil: Sie will
       sich und ihrem Umfeld beweisen, dass sie existiert.
       
       So entsteht auch ihre erste Bandbeteiligung aus einer Trotzreaktion: „Die
       meisten meiner Jungsfreunde waren in Bands“, schreibt sie. Der erste, von
       ihr komponierte Song heißt „You Annoy Me“ und führt lyrisch denn auch kaum
       über die Titelzeile hinaus. Unzufriedenheit anzeigen – das sei das Muster,
       nach dem sie auch heute noch Songs schreibe, kommentiert Brownstein diese
       frühen Ambitionen und macht damit auch eine wichtige Position von Punk
       stark: Machen – und erst danach überlegen, ob man weiß, was man tut.
       
       Mit dieser Einstellung verlässt sie schließlich das bedrückende Elternhaus,
       zieht um nach Olympia. Die Hauptstadt des US-Staats Washington ist mit
       40.000 Einwohnern viel kleiner als Seattle. Doch Anfang der Neunziger ist
       Olympia Epizentrum von US-Punk an der Westküste. Um das Label Kill Rock
       Stars und das liberale Evergreen State College entwickelt sich eine
       veritable Indie-Szene, die auch von Frauen bestimmt wird. Benannt nach
       einem Punk-Fanzine, sollte sie bald als Riot-Grrrl-Bewegung bekannt werden.
       
       ## Das Gefühl der Entfremdung
       
       Carrie Brownsteins erste Band Excuse 17 entstand hier, doch andere Bands
       wie Bikini Kill hatten zu dem Zeitpunkt bereits den Weg geebnet. Die Band
       Bikini Kill um Kathleen Hanna bringt damals für viele junge Frauen die
       Entfremdung des weiblichen Teenagers auf den Punkt. Auch für Carrie
       Brownstein: „Bikini Kill gab meinem Teenageraufruhr eine Form, ein Zuhause,
       einen Körper. Endlich konnte ich die Aufregung in mir nutzen.“
       
       Auf einem Konzert der Band Heavens To Betsy 1992 trifft Brownstein ihre
       spätere musikalische bessere Hälfte Corin Tucker, mit der sie zu Beginn
       auch eine Beziehung führt. Zusammen gründen sie Sleater-Kinney, zunächst
       als Duo mit wechselnden SchlagzeugerInnen. Später stößt die erfahrene
       Drummerin Janet Weiss dazu, die dem Spiel den nötigen Druck gibt. In dieser
       Besetzung entwickeln Sleater-Kinney einen genuinen Sound, tief, sauer und
       rotzig, geprägt von der besonderen Besetzung mit den beiden Gitarristinnen.
       
       Es war nicht geplant, dass eine als Leadgitarristin oder -sängerin
       fungiert: „Wir haben nie eine als Background für die andere verstanden. Es
       war wie eine Konversation: Corin hatte ihre Perspektive und ich meine. Und
       genauso unsere Gitarren, sie steigern und bekämpfen sich.“ Sleater-Kinney
       spielten ohne Bass und hatten kein Interesse an Power-Chords.
       
       Dennoch wollten sie wie eine „full rock band“ klingen. Sie machten aber ihr
       eigenes Ding, musikalische Traditionen gab es in Olympia genug. Im Titel
       des Buchs verschmilzt der Hunger der Mutter, der Hunger der jungen Carrie
       nach familiärer Aufmerksamkeit mit einer Songzeile von Bikini Kill:„I‘m the
       woman I was taught to always be: hungry“, heißt es in „Feels Blind“ aus dem
       Jahr 1992. Es geht darum, das negative Verhältnis zum eigenen Körper, das
       vielen jungen Mädchen anerzogen wird, in einen Hunger nach der Tilgung des
       Hasses umzuwerten, in einen Hunger nach Gleichberechtigung.
       
       ## Durch die Musik zu sich selbst finden
       
       Carrie Brownstein hungerte vor allem nach Akzeptanz. Ihr Ich in der Musik
       zu finden und schließlich auch ein positives Körpergefühl zu entwickeln,
       ist die entscheidende Erfahrung von Carrie Brownstein. Es ist auch der
       Assoziationsraum, aus dem für „Hunger Makes Me a Modern Girl“ immer wieder
       schöpft.
       
       Sie erzählt ihre Geschichte nicht als eine, die in Samstagabendtalkshows
       strahlt. Stattdessen schildert sie ihre private Körperfremdheit im
       Verhältnis zur Körperlichkeit der Musik. Die Gitarrenmusik wird zum Medium,
       um zur Außenwelt eine Beziehung aufzubauen. Eine der schönsten Stellen des
       Buches beschreibt, wie Brownstein nach einem Konzert von einer Frau nicht
       wiedererkannt wird, die sie wenige Jahre zuvor nicht in ihre Band
       aufgenommen hatte, und die sie nun mit Komplimenten überschüttet. Auf der
       Bühne ist Carrie Brownstein ein anderer Mensch.
       
       Brownsteins Schreibstil ist bildreich, sie findet einen Erzählfaden, folgt
       ihm, kehrt zum Ausgangspunkt zurück und führt so die Fäden eher
       unabsichtlich zusammen. Das erweckt den Eindruck, sie würde die Geschichte
       gerade am Küchentisch einer kleinen Wohnung in Olympia erzählen. Man
       erfährt einiges, auch Intimes über Carrie Brownstein, über Ängste und Nöte,
       über ihre Leidenschaft – vor allem, wie die Leidenschaft aus ihren Ängsten
       erwächst und zum Schluss wieder darin versinkt.
       
       Hier beginnt und endet die Erzählung: Nachdem Musik erst Teil ihres Körpers
       wurde, richtet er sich nun gegen sie. Sie wird vom Touren krank, will ihre
       Hand in einer Tür zerschmettern, um nicht mehr spielen zu müssen. Sie will
       nach Hause, meint sie 2006. Als sie 2015 aber mit Sleater-Kinney wieder auf
       der Bühne steht, glaubt sie in der Band auch ihr wirkliches Zuhause
       gefunden zu haben. Ihre erfolgreiche Karriere als TV-Produzentin
       („Portlandia“) – erwähnt sie hingegen kaum. „Hunger Makes Me a Modern Girl“
       ist vor allem ein Sleater-Kinney-Buch. Ohne Ende, Fortsetzung folgt.
       
       23 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Diviam Hoffmann
       
       ## TAGS
       
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 (DIR) Postpunk
       
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