# taz.de -- Unberechenbarer Hubert Aiwanger: Am Rande des Wahnsinns
       
       > Er ist der Mann, der Markus Söder schlaflose Nächte bereitet: Hubert
       > Aiwanger. Ohne ihn kann er nicht regieren, und mit ihm ist es eine Qual.
       
 (IMG) Bild: Hubert Aiwanger (Freie Wähler) und Markus Söder (CSU) im Landtag bei der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags im Oktober 2023
       
       MÜNCHEN taz | Nehmen wir diesen Samstagnachmittag Anfang Februar in
       Regensburg, nur so zum Beispiel: Ein paar hundert Leute haben sich am
       Domplatz zu einer Mittelstandsdemo zusammengefunden. Die Rednerinnen und
       Redner stehen auf der Ladefläche eines Lkw. Gegen Ende tritt einer ans
       Mikrofon, der [1][einem örtlichen Nachrichtenportal zufolge eigentlich gar
       nicht als Redner vorgesehen war], sich dann aber selbst eingeladen haben
       soll: Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger.
       
       Er spricht davon, dass sich Leistung wieder lohnen muss, von Fehlern im
       System, überbordender Bürokratie, wettert gegen das geplante
       Verbrennerverbot der EU und schimpft über deutsche Gelder, die in Radwege
       in Peru gesteckt würden, wo sie doch in der heimischen Wirtschaft viel
       dringender gebraucht würden. Immerhin: [2][Von angeblich Hunderten
       Millionen Euro, die die Radwege die deutsche Steuerzahlerin gekostet
       hätten], spricht er diesmal nicht. So weit, so harmlos. Die Rede hätte auch
       von einem beliebigen CSU-Bierzeltredner stammen können – nur dass die
       wenigsten von ihnen eine halbe Stunde lang völlig frei sprechen könnten.
       
       Aber dann, es geht schon Richtung Ende, bringt Aiwanger doch noch einen
       echten Aiwanger: Es gebe „Leute im System“, sagt er, „die wollen, dass die
       kleinen Dorfwirtshäuser schließen, weil sie sagen: Ich will gar nicht mehr,
       dass da der Stammtisch beieinandersitzt, der miteinander politisiert,
       sondern ich will dem sagen, was er zu denken hat, über andere Kanäle.“
       
       Wer diese Leute im System sind, sagt Aiwanger, immerhin Bayerns Nummer zwei
       und somit ganz oben im System, nicht. Nur so viel wird mal wieder deutlich:
       Verschwörungstheoretiker gibt es definitiv im System. Zumindest einen.
       
       ## Aiwanger-Euphorie hat sich gelegt
       
       Die Episode ist bezeichnend für den Mann, der in der letzten Zeit innerhalb
       des demokratischen Parteienspektrums so viel provoziert wie kaum ein
       anderer. Oft braucht es nur den gerade vom ihm so oft beschworenen gesunden
       Menschenverstand, um den Gehalt seiner Behauptungen zu beurteilen. So
       behauptete er jüngst auch, die Demos gegen Rechtsextremismus seien von
       Linksextremen unterwandert, und Jusos und Grüne Jugend würden ohnehin vom
       Verfassungsschutz beobachtet. Werden sie natürlich nicht, aber behaupten
       kann man’s ja mal. Auch in der Tonalität geht der Chef der Freien Wähler
       immer wieder hart an die Grenze. „Jeder Taugenichts wird von der Ampel
       besser unterstützt als unsere Bauern“, ist so ein typischer Aiwanger-Satz.
       
       Die CSU bringt Hubert Aiwanger mit seinem Verhalten mitunter an den Rand
       des Wahnsinns – also genau in die Region, wo der Freie-Wähler-Chef selbst
       gern seine waghalsigen Gratwanderungen unternimmt. Dass er im Wahlkampf
       begonnen hat, immer unverhohlener am rechten Rand zu fischen und
       ausgerechnet aus der Affäre um das eklige Nazi-Flugblatt, das er als
       Schüler mit sich getragen hatte, Kapital zu schlagen, hat man ihm beim
       Koalitionspartner schwer verübelt. Aiwanger hatte eine plumpe
       Täter-Opfer-Umkehr betrieben und behauptet, die Shoah werde gegen ihn
       instrumentalisiert, um ihn als Person zu vernichten. Bei der Landtagswahl
       im Oktober wurden die Freie Wähler mit 15,8 Prozent der Stimmen
       zweitstärkste Kraft im Bayerischen Landtag.
       
       Inzwischen hat sich die Aiwanger-Euphorie zwar etwas gelegt, beim
       Bayerntrend, der großen Umfrage des Bayerischen Rundfunks, kamen die Freien
       Wähler zuletzt nur noch auf 13 Prozent, doch den Argwohn des
       Koalitionspartners hat das nicht unbedingt vermindert. Auf Dauer, darüber
       ist man sich in der CSU einig, will man sich von Aiwanger nicht auf der
       Nase herumtanzen lassen. Bloß: Wie kriegt man diesen Mann unter Kontrolle?
       
       ## Szenen einer Zwangsehe
       
       Eingebrockt hat man sich die Sache freilich selbst. Ministerpräsident
       Markus Söder hatte Aiwanger ja quasi einen Freifahrtschein ausgestellt,
       indem er sich vor den Wahlen bedingungslos auf die Freien Wähler als
       Koalitionspartner festgelegt hatte. Nach der Wahl drohte Söder dann, wenn
       die Freien Wähler mit der CSU koalieren wollten, müssten sie jetzt Farbe
       bekennen: Sind sie fest verankert im bürgerlichen Lager, stehen sie noch
       diesseits der Brandmauer zur AfD?
       
       Da Söder aber gleichzeitig ankündigte, weiter mit den Freien Wählern zu
       koalieren und dass eine andere Formation überhaupt nicht in Frage komme,
       überraschte es nur wenige, dass sich Aiwanger von einer solchen Drohung
       nicht sonderlich beeindrucken ließ und fröhlich weiter agierte wie bisher.
       Das persönliche Verhältnis zwischen Söder und Aiwanger ist mittlerweile
       zwar restlos zerrüttet, aber aus ihrer Zwangsehe scheinen die beiden nicht
       mehr rauszukommen.
       
       Freundliche Einhegeversuche der CSU haben bisher wenig gefruchtet. Und seit
       sich Aiwanger auch noch zum Bauernführer aufschwingt und sich anschickt,
       der CSU in dieser Klientel ihre Wähler abspenstig zu machen, ist es mit der
       vornehmen Zurückhaltung gänzlich dahin. Dass die Jagd auf Aiwanger keine
       Ende nehme, konstatiert die Passauer Neue Presse schon voller Bedauern: „Im
       Gegenteil: Die Zahl derer, die ihn politisch erlegen wollen, nimmt gerade
       deutlich zu.“
       
       Was zumindest stimmt: Der Ton auf christsozialer Seite wird schärfer. Vor
       allem Wissenschaftsminister Markus Blume und Fraktionschef Klaus Holetschek
       lassen keine Gelegenheit verstreichen, eine Spitze gegen den
       stellvertretenden Ministerpräsidenten zu platzieren. Bei Aiwanger habe er
       „immer noch ein wenig das Gefühl, dass er auch nach fünf Jahren als
       Wirtschaftsminister mit den Zuständigkeiten nicht ganz vertraut ist“, sagte
       Blume etwa der Mittelbayerischen Zeitung. Wirtschaft sei mehr als Land- und
       Gastwirtschaft. Und er hoffe, dass Aiwangers Begeisterung für Technologie
       nicht irgendwo zwischen Traktor und Mähdrescher endet. Worte, die durchaus
       bemerkenswert sind innerhalb einer Koalition, die sich gern als
       Gegenentwurf zur zerstrittenen Ampel präsentiert.
       
       ## „Ministrieren statt demonstrieren“
       
       Inzwischen hat man sich in der CSU vornehmlich auf die angeblich fehlende
       wirtschaftspolitische Kompetenz des Ministers eingeschossen. Wenn man ihn
       bei Ministerratssitzungen mit Sachfragen zu Wirtschaftsthemen konfrontiere,
       behaupten CSU-Kollegen im vertraulichen Gespräch, komme Aiwanger regelmäßig
       ins Rudern, blättere ausführlich in seinem Aktenordner und antworte
       ausweichend. Auch einen Fünf-Punkte-Plan der CSU-Fraktion zum
       Wirtschaftsaufschwung kann man schon als beabsichtigte Demütigung Aiwangers
       verstehen. Darin wird der Minister zu halbjährlichen Rechenschaftsberichten
       aufgefordert.
       
       Darüber hinaus geht es auch um konkrete Vorwürfe: So könnte Aiwanger aus
       dem Senat der Max-Planck-Gesellschaft fliegen, nachdem er bisher alle
       Sitzungen verpasst hat. Aiwanger hält dagegen, es habe eben ständig
       Terminkollisionen gegeben und auch seine Vorvorgängerin im Amt, die
       beliebte CSU-Politikerin Ilse Aigner, sei bei keiner der Sitzungen
       erschienen. CSU-Vize Manfred Weber wiederum hält Aiwanger vor, in den
       letzten fünf Jahren ein einziges mal in Brüssel gewesen zu sein, um sich
       dort für die bayerische Wirtschaft starkzumachen. Und als eine dringend
       benötigte Windkraftanlage im Chemiedreieck an einem Bürgerentscheid
       krachend scheiterte, vermutete man den Grund darin, dass sich der
       „Windminister“ (Söder) zu wenig vor Ort gekümmert habe.
       
       Vor allem aber verübelt man Aiwanger sein „Demo-Hopping“. Tatsächlich fand
       in den vergangenen Wochen kaum eine Bauerndemonstration statt, bei der
       Aiwanger nicht mitmarschierte. Er solle sich stattdessen lieber mal um sein
       Ministerium kümmern, schimpfen sie in der CSU. Was aber auch wieder lustig
       ist, wenn man sich Söders Terminkalender ansieht. Über 100
       Bierzeltauftritte will er beispielsweise im letzten Jahr absolviert haben.
       Und auch außerhalb des Wahlkampfs verpasst er kaum einen Termin, um sich in
       Szene zu setzen. Im Landtag sieht man ihn dagegen so selten wie keinen
       anderen deutschen Ministerpräsidenten.
       
       ## Frust an der Freien-Wähler-Basis
       
       Söder selbst hielt sich mit den Vorwürfen lange Zeit zurück, sagte es
       gewissermaßen nur durch den Blume, beim politischen Aschermittwoch in
       Passau mischte dann aber auch er mit. „Ministrieren geht vor
       demonstrieren“, kalauerte er und forderte: „Du hast auf der Position zu
       spielen, die dir anvertraut ist.“ Ein Wirtschaftsminister müsse sich um die
       Wirtschaft kümmern und nicht um die Gamsjagd oder um die Wildfütterung. Ein
       Vorwurf, der freilich ebenfalls nicht einer gewissen Komik entbehrt.
       Schließlich war Söder bereits Minister für allerhand, zuletzt lange
       Finanzminister. In dieser Zeit fiel er durch mancherlei auf, aber nie
       dadurch, dass er sich in seinen Äußerungen und Auftritten auf seine
       jeweilige Ressortzuständigkeit beschränkt hätte.
       
       Nun sind jedoch auch die Freien Wähler nicht restlos begeistert vom Kurs
       ihres Anführers. Ein großer Teil von ihnen sieht sich weit entfernt von
       allen rechten Ecken des Politbetriebs: Leute wie Fraktionschef Florian
       Streibl beschreiben die eigene Partei als bürgerlich, liberal und
       konservativ, aber ganz klar links von der CSU. Dass Aiwanger zu dieser
       Standortbestimmung längst nicht mehr so recht passen will, ist offenkundig.
       
       Mitunter ist der Unmut darüber so groß, dass sich Mitglieder frustriert von
       ihrer Partei abwenden. Hier ein Bürgermeister, da der Fraktionschef im
       Gemeinderat. Bisweilen treten auch kommunale Wählergemeinschaften kollektiv
       aus dem Landesverband aus. Ein Schritt, der bei den traditionell dezentral
       aufgestellten und im Kommunalen verankerten Freien Wählern leichter fallen
       dürfte als bei anderen Parteien. Die Süddeutsche Zeitung hat gerade erst in
       Franken eine Häufung solcher „Einzelfälle“ ausgemacht und detailliert
       aufgezählt. Und gemutmaßt, „dass Mentalitätsunterschiede eine Rolle
       spielen. Dass sich die Menschen südlich der Donau dem Typus Aiwanger näher
       fühlen als nördlich.“
       
       ## CSU gibt sich demonstrativ gelassen
       
       Auf Landesebene jedoch halten sich die Kritiker auffallend zurück, wird
       weiterhin jeder verbale Fehltritt des Parteichefs unter den
       Mei-der-Hubsi-halt-Teppich gekehrt. Streibl etwa hat mittlerweile schon
       einige Übung im politischen Spagat, schafft es ohne Verrenkung, auf die
       große Anti-rechts-Demo in München zu gehen, diese als grandioses Zeichen zu
       feiern und zugleich Aiwangers These zu verteidigen, dass diese natürlich
       linksextremistisch unterwandert sei.
       
       „Wie gefährlich ist Aiwanger“, fragte die Frankfurter Allgemeine
       Sonntagszeitung jüngst und setzte gleich noch nach: „Und vor allem: für
       wen?“ Für wirklich harmlos hält den Freie-Wähler-Chef jedenfalls längst
       niemand mehr, auch wenn sie einen das bei der CSU manchmal glauben machen
       wollen. Der Höhenflug sei vorbei, inzwischen hätten die Wählerinnen und
       Wähler verstanden, wer sich tatsächlich um bayerische Interessen kümmere,
       lautet die Erzählung, wie sie führende CSU-Politiker derzeit unters Volk
       bringen wollen.
       
       Doch so ganz will die demonstrative Gelassenheit nicht überzeugen. Nicht
       zuletzt auch, da es gerade die Christsozialen sind, die Aiwanger fürchten
       müssen. Aus seinem Traum, quasi als deutscher Bauernführer in den Bundestag
       einzuziehen, macht dieser keinen Hehl. Noch gibt es zwar kaum Umfragen, die
       die Freien Wähler bundesweit über 3 Prozent sehen, doch Aiwangers
       Sichtbarkeit außerhalb Bayerns nimmt zu, inzwischen wird auch er zu Lanz
       und Maischberger eingeladen.
       
       ## Zuletzt auffallend zahm
       
       Die Gefahr allerdings, die Aiwanger für die CSU darstellt, liegt vor allem
       in dem neuen, von der Ampel beschlossenen Wahlrecht. Sollte dieses bis zur
       Bundestagswahl Bestand haben und die Freien Wähler der CSU im bürgerlichen
       Lager das nötige Quäntchen an Stimmen abnehmen, das diese braucht, um
       bundesweit über die Fünfprozenthürde zu kommen, wäre sie im nächsten
       Bundestag nicht mehr vertreten – unabhängig davon, wie viele Direktmandate
       sie erlangt hat. Aiwanger bleibt daher in CSU-Augen eine tickende
       Zeitbombe.
       
       Umso erstaunlicher, dass sich der [3][Niederbayer] in der allerjüngsten
       Vergangenheit geradezu zahm präsentiert hat. Beim Bundesparteitag in
       Bitburg verbot sich Aiwanger jede Anbiederung nach rechts, machte sich
       stattdessen für ein Unvereinbarkeitsbeschluss stark, der jede
       Zusammenarbeit mit der AfD ausschließt. Und auch Befürchtungen, er könnte
       beim politischen Aschermittwoch der Freien Wähler noch einmal eine Schippe
       drauflegen, bestätigten sich nicht.
       
       „Wenn den Leuten täglich mit woken Themen in der Nase herumgerührt wird,
       muss man sich nicht wundern, wenn die irgendwann eskalieren“, beschwerte
       sich Aiwanger, was nicht nur nahezu lyrisch anmutete, sondern zugleich
       zeigt, wie sehr sich der Mann, der sonst mit Verbalinjurien kaum spart,
       plötzlich zurücknimmt. Ein paar Städte weiter, in der Passauer
       Dreiländerhalle, [4][verglich derweil Markus Söder die grüne
       Bundesumweltministerin mit Margot Honecker].
       
       5 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.regensburg-digital.de/demo-am-regensburger-domplatz-zwischen-mittelstands-sorgen-und-aiwanger-polemik/05022024/
 (DIR) [2] /Projekt-der-Bundesregierung/!5982613
 (DIR) [3] /Django-Asuel-ueber-Niederbayern/!5962832
 (DIR) [4] /Politischer-Aschermittwoch-der-CSU/!5989128
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominik Baur
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Hubert Aiwanger
 (DIR) Markus Söder
 (DIR) Freie Wähler
 (DIR) CSU
 (DIR) Bayern
 (DIR) Freie Wähler
 (DIR) Europawahl
 (DIR) Hubert Aiwanger
 (DIR) Landtagswahl Bayern
 (DIR) Landtagswahl Bayern
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Freie-Wähler Wahlkampf in Bernau: La Vida Loca
       
       Bei den Landtagswahlen in Brandenburg bangen die Freien Wähler um den
       Wiedereinzug in den Landtag. In Bernau kämpfen sie um das Direktmandat.
       
 (DIR) Mini-Parteien bei der Europawahl: Achtungserfolge für Kleine
       
       Freie Wähler und Volt ziehen mit drei Sitzen ins Europaparlament. „Die
       Partei“ verliert zwar leicht, kann aber wohl ihre zwei Mandate verteidigen.
       
 (DIR) Aiwanger bei Bauerntreff in Brandenburg: Buhlen um den Mittelstand
       
       Auf der Jahresversammlung der „Freien Bauern“ Brandenburg waren auch die
       Freien Wähler und das Bündnis Sahra Wagenknecht. Ein Ortsbesuch.
       
 (DIR) Bayerns neue Regierung: Gefährliches „Schwamm drüber“
       
       Markus Söder hat mal wieder eine Pirouette hingelegt und regiert weiter mit
       Hubert Aiwanger. Doch der Frieden dürfte nicht lange halten.
       
 (DIR) Die Causa Aiwanger und ihre Folgen: Jetzt erst rechts?
       
       Nach dem Bekanntwerden des antisemitischen Flugblatts gibt sich Söder
       empört über seinen Vize, scheut aber Konsequenzen. Wie geht's in Bayern
       weiter?