# taz.de -- Ungewöhnliche Wohngemeinschaft: Manchmal gehen sie schaukeln
       
       > Sie ist 101 Jahre alt, er 28-jähriger schwuler Geflüchteter aus dem Iran.
       > Seit zehn Monaten wohnen sie zusammen. Das bringt beiden was.
       
 (IMG) Bild: Agnes Jeschke (l), sitzt mit ihrem Mitbewohner Amir Farahani (r)
       
       BERLIN dpa | Die Pizza in kleine mundgerechte Stücke geschnitten, der Rand
       kommt weg. Nicht, weil er nicht schmeckt, sondern weil sie nicht mehr recht
       beißen und kauen kann. Sie ist 101, er ist 28. Vor etwa zehn Monaten
       kreuzten sich ihre Wege – für beide eine Zäsur in ihrem Leben.
       
       Agnes Jeschke wohnt seit über fünf Jahrzehnten in ihrer kleinen Wohnung in
       Berlin-Mariendorf. Amir Farahani kam ohne Familie aus dem Iran nach
       Deutschland, flüchtete, weil er [1][aufgrund seiner Homosexualität um sein
       Leben fürchtete]. Er suchte dringend eine Wohnung, sie hingegen wollte
       unter keinen Umständen raus aus ihrer Wohnung. Nur weil sich beide gefunden
       hatten, haben sie jetzt ein gemeinsames Zuhause.
       
       „Menschen wollen so lange es geht in ihrem gewohnten Wohnumfeld bleiben und
       nur dann, wenn sie keine Alternative mehr haben in ein Heim gehen“, erklärt
       Ursula Engelen-Kefer. Die ehemalige DGB-Vize ist nun Landesvorsitzende im
       Sozialverband Deutschland. „Häufig scheitert es an den Kontakten, denn man
       kann heutzutage nicht mehr davon ausgehen, dass Angehörige da sind oder
       Kinder, die sich um sie kümmern.“
       
       Kinder hat Jeschke keine, ihr Mann ist vor vielen Jahren gestorben. Einen
       Tag nach Jeschkes 101. Geburtstag hätte es dann passieren sollen. Ihr Umzug
       in ein Altersheim war geplant, der Wohnplatz war bereits angemeldet. Gegen
       ihren Willen. Doch ihr langjähriger Freund Uwe Eberlein half der Seniorin
       mit einer Idee: „Jung-Alt-WG“ hieß es in der Überschrift seiner
       Internetanzeige und weiter: „Kostenloses Wohnen für Gesellschaft leisten“.
       
       ## Es passte so gut, dass er noch am selben Tag einzog
       
       Es bewarben sich 22 Frauen und Amir Farahani. „Wir haben eigentlich nach
       einer Frau gesucht“, sagt Eberlein. Doch Amir fragte, was eine Frau könne,
       was er nicht kann. Als der junge Mann dann zur Vorstellung kam, lebte
       Jeschke auf. „Sie hat ihm den Stuhl hingerückt und war plötzlich hellwach“,
       erinnert sich Eberlein. Es passte so gut, dass er noch am selben Tag
       einzog.
       
       In Berlin macht Farahani zur Zeit eine Ausbildung zum Pflegefachmann,
       arbeitet nebenbei als Pflegehelfer im Altersheim. „Die Leute warten da auf
       ihren Tod“, erzählt er. Sich zuhause zu fühlen – dieses Gefühl halte einen
       Menschen am Leben.
       
       Solche WG-Konstellationen gibt es häufiger. Im Internet finden sich
       zahlreiche private Initiativen und Börsen, über die
       generationsübergreifende Wohnprojekte organisiert werden. Ein Projekt, das
       in mehreren Städten häufig von Studierendenwerken mitbetreut wird, heißt
       „Wohnen für Hilfe“. Das Studentenwerk Potsdam vermittelt seit zwei Jahren
       solche Wohnpartnerschaften, bei denen Menschen mit freiem Wohnraum
       Studierenden ein Zimmer gegen Unterstützung im Alltag anbieten können.
       
       „Durch das Projekt bringen wir Menschen zusammen, die sich auf anderem Wege
       wahrscheinlich nicht begegnet wären – sie sind in unterschiedlichen
       Lebensphasen und haben verschiedene Lebensentwürfe“, sagt Julia Sammler vom
       Studentenwerk. Zehn Wohnpartnerschaften wurden bisher vermittelt. Manche
       der Zimmeranbieter möchten eine neue Sprache lernen, andere bräuchten
       Unterstützung im Haushalt, im Garten oder bei Wocheneinkäufen.
       
       ## Wunsch nach Gesellschaft ist groß
       
       Auch der Wunsch nach Gesellschaft im Alltag sei groß. Dennoch: „Das eigene
       Zuhause mit jemand Fremden zu teilen ist immer ungewohnt – vor allem, wenn
       man zuvor mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte alleine gelebt hat“, sagt
       Sammler. Ein Zusammenleben auf engerem Raum bedarf mehr Absprachen,
       manchmal komme es auch zu Missverständnissen.
       
       Solche Erfahrungen sammelt auch Bremens ehemaliger Bürgermeister Henning
       Scherf. Seit 34 Jahren wohnt er in einem Mehrgenerationenhaus – gemeinsam
       mit seiner Ehefrau und acht weiteren Menschen im Alter von eineinhalb bis
       84 Jahren. Als die eigenen Kinder auszogen und das Haus plötzlich groß und
       leer wirkte, entschied sich das Ehepaar zu diesem Schritt, Freunde waren
       direkt mit dabei.
       
       „Unsere Kinder, die am Anfang uns noch verspottet haben – die haben gesagt,
       wir wären spätpubertäre Romantiker, – die sind inzwischen alle begeistert
       davon, wenn sie uns besuchen“, erzählt der 83-Jährige.
       
       „Bei Alten ist immer die Gefahr, dass sie zusammenhocken und nur über ihre
       Krankheiten und Wehen reden. Wenn man mit jungen Menschen zusammen ist, ist
       das schlagartig anders“, sagte Scherf. „Die reden nicht über Krankheiten,
       sondern die erzählen, was sie erlebt haben, was sie vor haben und was sie
       unternehmen, wie das in der Ausbildung oder in ihren Beziehungen läuft. Da
       lassen sie uns teilnehmen.“
       
       Umgekehrt hat Jeschke ihrem 28-jährigen Wohnungsgefährten neben ihrer
       Lebenserfahrung auch etwas mitgegeben. „Großzügigkeit und ein großes,
       weites Herz“, sagt Farahani.
       
       ## Ausflug in die Shisha-Bar
       
       Die gemeinsamen Tage mit der 101-Jährigen gestalten sich häufig bunt.
       „Manchmal gehen wir schaukeln, manchmal zusammen einkaufen, manchmal
       schwimmen oder ins Restaurant.“ Selbst in die Shisha-Bar oder zum Tanzen
       seien sie schon gemeinsam gegangen. „Wir verstehen uns wie zwei linke
       Latschen“, sagt Jeschke.
       
       Doch so schön die Tage auch klingen, so herausfordernd können sie auch
       sein. „Ich muss ihr viele grundlegende Dinge beibringen, die wir Jungen
       automatisch machen“, sagt Farahani. Dazu gehöre zum Beispiel das Essen oder
       Trinken, Anziehen oder Aufstehen. „Bei all diesen kleinen Dingen besteht
       die Gefahr, dass sie sich verletzt und da muss ich aufpassen.“ Anfangs habe
       sie in der Nacht auch öfters Panikattacken bekommen. Ihr anstehender Auszug
       habe sie damals sehr belastet. Mittlerweile schlafe sie ruhiger.
       
       Gerade in Großstädten wie Berlin sei dieses WG-Konzept eine gute Lösung,
       findet Farahani. Denn da herrsche meist Wohnungsknappheit und gleichzeitig
       gebe es eine hohe Zahl an Single-Haushalten. Ideengeber Eberlein denkt
       deshalb schon weiter. In seinem Haus in Berlin-Pankow möchte er das Konzept
       auf einer ganzen Etage ausweiten – mit mehreren jüngeren und älteren
       Bewohnern. „Sodass man sich abwechseln und gegenseitig unterstützen kann“,
       sagt Eberlein.
       
       Aufeinander aufpassen muss man laut Jeschke sowieso gegenseitig. Beim
       Tanzen etwa, da passe sie auf den jungen Mann auf. „Ich muss ihn da schon
       ein bisschen im Rahmen halten“, scherzt die 101-Jährige.
       
       27 Feb 2022
       
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