# taz.de -- Todestag von Cemal Kemal Altun: Das Gesicht der Asylpolitik
       
       > Nie hat der Tod eines Asylbewerbers solche Reaktionen provoziert wie
       > Kemal Altuns tödlicher Fenstersprung vor 30 Jahren. Was blieb davon?
       
 (IMG) Bild: Ein ungelöstes Problem: Flüchtlinge machen im Juli mit einem öffentlichen Sit-In in Stuttgart auf ihre schwierige Lage aufmerksam.
       
       BERLIN taz | Auf einmal hatte die Asyldebatte ein Gesicht. Als sich der
       politische Flüchtling Cemal Kemal Altun vor genau dreißig Jahren aus dem
       Fenster eines Verwaltungsgebäudes am Bahnhof Zoo in Berlin stürzte, rief
       sein Suzid bundesweites Entsetzen hervor.
       
       In dem damaligen Gerichtsgebäude sollte über die Abschiebung des damals
       23jährigen entschieden werden, der zuvor monatelang in Auslieferungshaft
       gesessen hatte. Kemal Altun war als Student in einer linken Gruppierung
       aktiv und nach dem Militärputsch aus der Türkei geflohen. Bei einer
       Auslieferung an das damalige Putschregime, so musste er befürchten, hätte
       ihm dort wegen seiner Mitgliedschaft in einer linken Splittergruppe Haft,
       Folter und vielleicht sogar Hinrichtung gedroht. Mit seinem Freitod entzog
       er sich diesem Schicksal.
       
       War der Flüchtling einfach nur psychisch labil gewesen? So wollten es
       Konservative und die Bundesregierung damals sehen, die ihn flugs zum
       "Einzelfall" erklärten. Oder legte sein Tod nicht einen politischen Skandal
       offen - den bürokratischen und letztlich unmenschlichen Charakter des
       bundesrepublikanischen Asylsystems, das Menschen an Folterstaaten
       auslieferte, denen sie gerade erst entkommen waren?
       
       So sahen es die politisch Bewegten und menschenrechtlich Engagierten jener
       Zeit. In linken und antirassistischen Kreisen wurde Kemal Cemal Altun damit
       zur Symbolfigur, ja fast schon zu einem Märtyrer.
       
       ## Als Biermann zur Gitarre griff
       
       Der stets ein feines Gespür für populäre Stimmungen besitzende
       Balladendichter Wolf Biermann, der sich damals noch als Barde der Linken
       verstand, widmete Kemal Altun ein [1][Lied]. Und auch der Dramatiker Franz
       Xaver Kroetz verfasste ein [2][Gedicht,] das zu einer persönlichen
       Abrechnung mit dem deutschen Staat geriet. "Du Staat, du deutscher", hebt
       Kroetz in seinem Poem an. "Es ist aus zwischen uns". Kemal Altuns Freitod
       sei "ein Tod, der an dir kleben bleibt", heißt es weiter in dem Gedicht,
       das ganz das Pathos jener Ära atmet und in dem nachdrückliche Verweise auf
       die deutsche Vergangenheit nicht fehlen durften.
       
       ## Wie das Kirchenasyl geboren wurde
       
       Nie zuvor und nie danach hat der Tod eines Asylbewerbers in Deutschland so
       viel Anteilnahme hervor gerufen wie Kemal Altuns tödlicher Fensterssprung.
       Dass er wenig später posthum doch noch Asyl zugesprochenbekam, wurde von
       vielen als zynische Pointe eines gefühllosen Bürokratenstaats gesehen. Rund
       5000 Menschen zogen damals bei seinem Trauermarsch über mehrere Kilometer
       von Kreuzberg bis zum Stadtrand nach Mariendorf, wo bis heute sein Grab
       liegt. Kurz darauf ging aus Flüchtlingsräten, Menschenrechtsgruppen,
       Kirchen- und Gewerkschaftskreisen der bundesweite Verband [3]["Pro Asyl"]
       hervor, der sich bis heute für eine humanere Flüchtlingspolitik einsetzt.
       
       Und als Reaktion auf das schockierende Ereignis gewährte der Pfarrer Jürgen
       Quandt palästinensischen Flüchtlngen aus dem Libanon in der Kreuzberger
       Heilig-Kreuz-Kirche das erste Kirchenasyl der deutschen
       Nachkriegsgeschichte. Andere folgten seinem Beispiel, und über die Jahre
       entstand daraus mit Ärzten, Anwälten und Abgeordneten das Netzwerk
       "[4][Asyl in der Kirche]", das zahlreiche Abschiebungen zu verhindern half.
       Im Moment zählt der Verband auf seiner Homepage bundesweit 31 Gemeinden,
       die und vor der Abschiebung schützen.
       
       ## Ein Platz in Hamburg-Ottensen, ein Denkmal in Berlin
       
       Der Name Kemal Altuns klingt deshalb bis heute nach. Noch zwei Jahre
       später, als Günter Wallraff seinen Bestseller "Ganz unten" heraus brachte,
       wollte er seinen Undervocer-Bericht über ein türkisches Leben am Rande der
       deutschen Gesellschaft dem prominenten Flüchtling gewidmet wissen.
       
       In Hamburg-Ottensen und in Kassel wurden sogar öffentliche Plätze nach
       Kemal Altun benannt, und in Berlin wurde 1996 unweit vom Bahnhof Zoo ein
       Denkmal für ihn eingeweiht. Wenn sich am Freitag, den 30. August, der
       Todestag des politischen Flüchtlings zum 30 Mal jährt, werden "Pro Asyl"
       und andere Flüchtlingsorganisationen sowie der Grünen-Bundestagsabgeodnete
       Wolfgang Wieland, der damals sein Anwalt war, an ihn [5][erinnern].
       
       ## Bedrohungsszenarien und Asylkompromiss
       
       An der Abschiebepraxis deutscher Behörden änderte der Tod Kemal Altuns
       allerdings nur wenig. Und auch Entsetzen darüber flaute mit den Jahrenab.
       Allein in den letzten 20 Jahren haben sich mehr als 150 Menschen in der
       Abschiebehaft das Leben genommen, ohne dass es zu vergleichbaren Reaktionen
       wie damals, im August 1983, gekommen wäre.
       
       In den Neunzigerjahren, als der Krieg auf dem Balkan wieder viele
       Flüchtlinge in das kürzlich neu vereinigte Deutschland verschlug,
       verhärtete sich die Einstellung vieler Deutscher gegenüber Flüchtlinge
       wieder. Ihre Einzelschicksale, mochten sie auch noch so dramatisch sein,
       verschwanden hinter dem Bild einer gesichtslosen, von der Mehrheit als
       bedrohlich empfundenen Masse. Leitmedien wie Bild und Spiegel schürten mit
       plakativen Titelseiten eine bedrohliche "Das Boot ist voll"-Stimmung und
       setzten die Politik damit unter Druck.
       
       Am Ende gab die SPD nach und stimmte dem so genannten "Asylkompromiss" mit
       Helmut Kohls schwarz-gelber Koalition zu, mit dem das Recht auf Asyl
       drastisch eingeschränkt wurde. Ein Kemal Altun wäre fortan dazu gezwungen
       gewesen, in einem der osteuropäischen Länder stellen, über die er einst
       nach Deutschland gekommen war, um Asyl zu bitten - so, wie es seitdem viele
       Flüchtlinge aus der Osttürkei, dem Irak und Afghanistan müssen, die in
       Griechenland oder Italien erstmals ihren Fuß auf den Boden der Europäischen
       Union setzen.
       
       ## Flüchtlingsproteste als Wendepunkt?
       
       Erst in der letzten Zeit hat sich das Bild von Flüchtlingen in Deutschland
       wieder leicht zum Besseren verändert. Die Schicksale hinter den nackten
       Zahlen aus dem Bundesinnenministerium werden wieder stärker wahr genommen.
       Das liegt zum einen an den Flüchtlingen selbst, die in den vergangenen
       Monaten für ihre Rechte auf die Straße gegangen sind und mit Hilfe von
       Unterstützern vielerorts Protestcamps- und märsche organisiert haben.
       
       Zum anderen liegt es aber auch daran, dass Medien sie stärker selbst zu
       Wort kommen lassen - so wie die Talkmasterin Sandra Maischberger, die
       kürzlich die Deutsch-Somalierin Khadra Sufi in ihre Sendung zum Thema Asyl
       lud, damit diese dort über ihre Flucht aus dem Bürgerkriegsland und ihre
       Aufnahme in Deutschland berichten konnte.
       
       Auch der neue Papst Franziskus hat auf der Insel Lampedusa mit seinem
       öffentlichen Bittgebet für die ertrunkenen Flüchtlinge jüngst ein starkes
       Zeichen der Anteilnahme gesetzt. Aber auch die aktuellen Schreckensbilder
       aus Syrien, denen man sich schwer verschließen kann, dürften ein Umdenken
       befördert haben. Jedenfalls haben sich sowohl der SPD-Kandidat Peer
       Steinbrück als auch der nordrhein-westfälische CDU-Vorsitzende Armin
       Laschet jetzt, mitten im Wahlkampf, dafür ausgesprochen, mehr Flüchtlinge
       aus Syrien aufzunehmen.
       
       Selbst Boulevardmedien zeigen sich bei diesem Thema neuerdings ungewohnt
       sensibel. Nachdem Asylbewerber kürzlich bei ihrer Ankunft in
       Berlin-Hellersdorf von rechten Anwohnern angepöbelt wurden, brachte das
       Berliner Springer-Blatt BZ auf seiner Titelseite das Porträt eines
       pakistanischen Asylbewerbers mit der suggestiven Frage: "Warum wollt ihr
       mich nicht"? Allmählich, so scheint es, bekommen Flüchtlinge in Deutschland
       wieder ein Gesicht.
       
       30 Aug 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.youtube.com/watch?v=BSTkhCWvySU
 (DIR) [2] http://www.youtube.com/watch?v=Hu1ean-oWZA
 (DIR) [3] http://www.proasyl.de/
 (DIR) [4] http://www.kirchenasyl.de/
 (DIR) [5] http://www.greenpeace-magazin.de/tagesthemen/einzelansicht/artikel/2013/08/27/gedenkkundgebung-zum-30-todestag-des-politischen-fluechtlings-cemal-kemal-altun/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Bax
       
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