# taz.de -- Die Formen des Opferismus: Stellt euch nicht so an!
       
       > Warum regen wir uns dauernd über Gedöns auf – über N-Wörter oder
       > enthemmte Männer? Politisch sind das doch alles Nebenschauplätze.
       
 (IMG) Bild: Einfach mal locker machen.
       
       Ich weiß, dass dieser Text viele ärgern wird. Weil sie sich nach Lektüre
       beleidigt, entwertet, gekränkt und verletzt fühlen. Solche – allerdings
       erwartbaren – Reaktionen zu bewirken liegt nicht in meiner Absicht.
       
       Mir geht es nur darum: Nicht nur in diesem Land (sondern auch im politisch
       korrekten Amerika) hängen sich jene Kräfte, die sich für politisch
       fortschrittlich halten, besonders innig an Fragen auf, die Diskurswolken in
       der öffentlichen Arena gebären, aber politisch nichts zur Folge haben. Mehr
       noch: Die tatsächlich wichtigen Fragen, um die es politisch gehen muss (und
       nicht nur: sollte), werden irgendwie zur Blässe gebracht.
       
       Konkret: Mag sein, dass die Diskussion um schlimme Worte, ja die
       Umschreibung von literarischen Werken von Otfried Preußler oder Astrid
       Lindgren, wichtig ist. Okay, aber: Weshalb droht Menschen, die nicht von
       angeblich oder ernsthaft schlimmen Wörtern lassen wollen, der soziale Tod?
       Ist es böse, wenn einer das N-Wort sagt? Oder wenn einer von Behinderten
       und nicht von mobil Eingeschränkten spricht – kann das Anlass für Hass
       sein?
       
       Ist es schon rassistisch, von Türken zu sprechen, wenn sie doch Deutsche
       längst sind? Oder ist gerade dies das Sprachverbrechen, nämlich Menschen
       das Türkische abzusprechen, weil sie ins deutsche Wir einverleibt werden?
       
       Ein Beispiel aus einem anderen Feld, auf dem auch viele öffentlich spielen,
       um sich verletzt und gekränkt zu zeigen: Ist es schon homophob, wenn eineR
       sagt, Schwule sollten keine Kinder adoptieren können? Muss man eine solche
       Person des politischen Hochverrats am Guten und Wahren zeihen? Oder reicht
       es nicht zu entgegnen: Nee, finde ich doch? Weshalb hat man in
       Baden-Württemberg mit den Kritikern der neuen Sexualkunderichtlinien nicht
       souveräner, lässiger und freundlicher umgehen wollen? Und wieso waren die
       Anzüglichkeiten eines Rainer Brüderle so skandalös – wenn man ihn doch
       hätte auch ins Leere laufen lassen können?
       
       ## Baden und Suhlen im eigenen Leid
       
       Kurzum: Was moniert wird, ist durch die Bank darauf gerichtet, Opfer zu
       sein, sich als gekränkt, schwer mitgenommen und – Achtung, schlimmstes
       Modekampfwort: – traumatisiert zu geben? Vom Umstand abgesehen, dass damit
       alle Traumen und Kränkungen nivelliert werden und schon ein Schubsen und
       Rempeln offenbar reicht, zum Kreis der Geschundenen gerechnet zu werden:
       Was hat das alles mit Politik zu tun?
       
       Könnte man Angehörigen von Minderheiten, also, nun ja, Diskriminierten
       nicht beibringen: Wehrt euch so, dass ihr euch nicht zum Opfer macht! Der
       Standardspruch von Erwachsenen in den 50er Jahren, der Nachkriegszeit, zu
       ihren Kindern, waren sie hingefallen und hatten blutige Knie, war: Stell
       dich nicht so an! Nein, ein solcher Satz kann herzlos sein, aber er
       enthielt, bei aller Schroffheit, auch die Botschaft, dass ein Baden und
       Suhlen im eigenen Leid vielen dient, aber nicht das Leid selbst tilgt.
       
       In Wahrheit haben diese Formen des Opferismus („Du bist traumatisiert,
       willst du das nicht einsehen?“) eine zur umsatzstarken Branche
       aufgeplusterte Schar von Helfern. Es sind Interpreten des Schlimmen, das
       anderen widerfährt. Jede Goodwillkampagne, die im Übrigen meist der Staat
       finanziert, für Minderheiten birgt ein Arbeitsplatzversprechen: Wäre das
       Leiden am Ende, müsste es keine DeuterInnen geben. Da das in deren
       Interesse nicht liegt, kann das Beklagenswerte nicht verschwinden.
       
       Wir haben uns zu viel mit Gedöns beschäftigt, die linken Milieus haben
       zugelassen, dass die Fragen, um die es in allem Ernst gehen muss, nicht im
       Fokus standen. Sei es der Klimawandel, die Demokratie, die globale
       Gerechtigkeit oder auch der Sozialstaat schlechthin, von dem man (Pierre
       Bourdieu), als wichtigstem europäischen Kulturgut der Moderne sprechen
       muss?
       
       Sage jetzt niemand, dass man das alles nicht gegeneinander ausspielen
       dürfe. Doch, das sollte man: Der Kampf um die ökologische Transformation
       oder die Abwehr eurasisch-totalitärer Strategie russischer Provenienz sind
       wichtiger als eine Wortpolitik, die ohnehin immer von sprachpolizeilichem
       Charakter war. Das sind die Fragen, um die es gehen muss. Wer das Kürzel
       LGBTI* nicht auswendig aufsagen kann, ist noch nicht transphob. Mit dem
       geißelnden Wortanhängsel -phob ist sowieso noch nichts gewonnen: Irgendwann
       sind alle -phob, also Feinde: Weil jedeR Fehler macht.
       
       Es wird ja nicht so eintreten, aber ein Schlussstrich unter diese Debatten
       wäre erholsam. Reicht für die kleinen Kämpfe des Alltags nicht, Betroffene
       (noch so ein Wort!) stark zu machen? Und sich darauf zu verständigen:
       Anstand zu wahren reicht. Nebenbei: Es gehört zum Leben, Kränkungen
       auszuhalten und nicht alles auf sich zu beziehen. Oder wird durch diesen
       Satz schon wieder ei_neR schwer gedemütigt?
       
       24 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan Feddersen
       
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