# taz.de -- Die Wahrheit: Rudelbildung auf dem Mond
       
       > Manche Autorenkollegen stellen Fragen, die sich wahrscheinlich nur auf
       > der Metaebene klären lassen. Jedenfalls irgendwo hoch oben.
       
       Kurz bevor das Festnetztelefon klingelte, hatte ich spaßeshalber an einem
       Haiku gebastelt, jene japanische Gedichtform aus 17 Silben. Oder steckte
       Langeweile dahinter? Gar Schwermut? Immerhin hatte ich richtig gezählt:
       „Ich leb auf dem Mond / Manchmal. Wie andere auch / Der Mond ist bewohnt.“
       
       Unwillig nahm ich den Hörer ab. Es meldete sich Kollegin K. am anderen Ende
       der Leitung. Nach freundlichem Geplänkel erzählte sie von einem Zwist mit
       einem Lektor, der das angeforderte Manuskript begutachtet hatte.
       Begutachtet? K. hatte in einer Geschichte den Protagonisten über sein
       „altes Ego“ philosophieren lassen. Der Lektor meinte, na-hein, es müsse
       Alter Ego heißen. O je, dachte K., genau das war doch der Witz, nämlich das
       geflügelte Wort zu verdrehen. Der Lektor hingegen hatte Unkenntnis
       unterstellt und gemeint, die Leser würden das auch tun.
       
       Tja, so kann es kommen. Beziehungsweise: Wer hat Recht? Kann man hier mit
       dem Schlagwort vom „produktiven Missverständnis“ hantieren? Oder mit einem
       grauenhaften Ausdruck wie „Zielgruppe“? Kennen fünf oder fünfzig Prozent
       den Begriff „Alter Ego“? Lebt Kollegin K. auf dem Mond?
       
       Und jetzt der letzte, womöglich entscheidende Punkt: Befindet sich, wer
       solche Fragen stellt, auf einer „Metaebene“? Statt dort umher zu sinnieren,
       sollen Autoren gemeinhin bedingungslos „die Leser abholen“. Diese
       wunderliche Formulierung jedenfalls verwendete vor zig Jahren der
       Chefredakteur einer Lokalzeitung, der die freien Mitarbeiter zu einem
       „entspannten Beisammensein“ eingeladen hatte.
       
       Die Leser abholen … Ja, wo denn? Stehen sie dicht beieinander, in
       Rudelbildung gleichsam, oder streift man durchs Gelände und begrüßt
       möglichst jeden einzelnen per Handschlag? Mist, weitere Fragen.
       
       Ich plapperte offenbar weiter, Kollegin K. indes wurde stetig einsilbiger.
       Versuchsweise sagte ich: „Ich meine, in einem der komischsten Romane aller
       Zeiten, im ’Tristram Shandy‘, wimmelt es von Metaebenen“. Kollegin K.
       schien in andere Gefilde abgetaucht zu sein. Ich gab auf, hatte wohl nur
       ein Durcheinander hervorgerufen und Textsorten – noch so’n Wort! –
       vermengt, wie das so meine Art zu sein scheint.
       
       Zum Abschied und um sie abzulenken, trug ich das frische Haiku vor. Sie
       druckste herum. „Das passt irgendwie. Doch wichtiger wäre mir zu hören, was
       du von meiner neuen These hältst“, sagte Kollegin K. „Her damit, nichts
       lieber als das“, log ich. „Es anbelangt nicht den Zwist“, sagte sie,
       „sondern ist eine fundamental steile Vermutung: ’Hätten wir keine Angst,
       gäbe es keine Kunst. Hätten wir keine Muße, gäbe es keine Kultur.‘ Na, was
       sagst du?“
       
       Ich sagte einstweilen nichts. Sondern drehte mir, den Hörer eingeklemmt
       zwischen Kopf und Schulter, eine „American Spirit“. Der inhalierte Geist
       ließ auf sich warten. „Muss ich länger drüber nachdenken“, gab ich zurück.
       Und habe bis heute nicht geklärt, was ich davon halte. Zu hoch für mich, zu
       weit oben? Sie hatte mich nicht abgeholt, wo auch immer und wohin.
       
       4 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dietrich zur Nedden
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Thesen
 (DIR) Philosophie
 (DIR) Literatur
 (DIR) Gaststätten
 (DIR) Silvester
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Wahrheit: Zensur jenseits von Gut und Böse
       
       „Was Zensoren verstehen, wird zu Recht verboten“, sagte er am
       Frühstückstisch, und die Freundin wählte eine deutliche Sprache in ihrer
       Antwort.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Ein grober Klotz aus reinem Nichts
       
       Es gibt Tage wie die vom 1. bis zum 49. April, die manchmal zu Monaten oder
       Jahren anschwellen. Und Wolfenbüttel ist überall.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Winkel geschlossen
       
       In Hannover schließt eine Institution: die Gaststätte „Vater & Sohn“, die
       längst von der Unesco zum Weltkulturerbe hätte ernannt werden müssen.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Die Schöne und der Runzlige
       
       Selten verläuft Silvester ungeplant. Und falls doch, kann es zu
       herzzereißenden Begegnungen kommen.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Pflichtfach Pfeifen
       
       Wenn einem Wortschmied am ebenso tristen wie leuchtenden Adventssonntag
       jeder Sinn für die Sprache verlorengeht, hilft nur eins: El Silbo.