# taz.de -- Ernährungsforschung im Umbruch: Prävention steht auf dem Speiseplan
       
       > Bei der Ernährungsforschung stehen Gesundheitsaspekte im Vordergrund.
       > Sozialwissenschaftliche Fragen werden oftmals vernachlässigt.
       
 (IMG) Bild: Eine Laborantin untersucht Mikroalgen am Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam-Rehbrücke.
       
       BERLIN taz | Ernährung ist stärker denn je ein Gesundheitsthema. Auf der
       Internationalen Grünen Woche, die Freitag beginnt, wird das in besonderer
       Weise deutlich. Erstmals präsentiert sich die aus England importierte
       „Allergy & Free From Show“, mit Produkten ohne Gluten, Nüssen und
       Chemikalien für alle Menschen, die unter Allergien und
       Lebensmittelunverträglichkeiten leiden.
       
       Drei Millionen Bundesbürger sind von einer Lebensmittelallergie betroffen;
       2012 wurden glutenfreie Produkte im Wert von über 250 Millionen Euro
       verkauft und der Umsatz von Speziallebensmitteln steigt um bis zu 20
       Prozent pro Jahr, melden die Grüne-Woche-Veranstalter.
       
       Vor diesem Hintergrund wächst das Interesse an den Forschungsergebnissen
       der Ernährungswissenschaftler, die auch in einigen der Messe-Hallen
       vorgestellt werden. Die Ernährungsforschung ist freilich kein Hauptgang im
       deutschen Wissenschaftsmenu, sondern findet eher Platz auf dem
       Beilagenteller. Insgesamt 18,4 Millionen Euro wurden 2012 von den
       Bundesministerien für Forschung und für Gesundheit für die
       Ernährungsforschung ausgegeben.
       
       Das Bundesforschungsministerium( BMBF) hatte daran, ausweislich des
       „Bundesberichts Forschung und Innovation 2014“ nur einen Anteil von 2,4
       Millionen Euro. Zum Vergleich: Für die Bioökonomie wurden 261 Millionen
       Euro ausgegeben.
       
       Die führende außeruniversitäre Einrichtung auf diesem Feld befindet sich
       vor den Toren Berlins: das Deutsche Institut für Ernährungsforschung (DIfE)
       in Potsdam-Rehbrücke, das zur Leibniz-Gemeinschaft gehört. Der neue
       wissenschaftliche Direktor des DIfE, Tilman Grune, erläutert den Weg des
       Fachs vom ursprünglichen Anhängsel an die Agrarforschung über die
       anwendungsbezogenen Lebensmitteltechnologien zur heutigen medizinischen
       Grundlagenforschung. „Unsere Ernährungsforschung ist eine
       Gesundheitsforschung“, unterstreicht Grune.
       
       Die biologischen Grundlagen der Nahrungsaufnahme und die mit ihr
       verbundenen Stoffwechselmechanismen sollen aufgeklärt werden. Die
       unmittelbare Ernährungsberatung mit bestimmten Diät-Empfehlungen auf
       Verbraucheranfrage ist nicht das Thema.
       
       ## Prävention und Therapien
       
       Nach seinem Forschungsauftrag soll das Potsdamer Institut „die molekularen
       Ursachen ernährungsbedingter Erkrankungen identifizieren, daraus neue
       Strategien zu Prävention und Therapie entwickeln und wissenschaftliche
       Grundlagen für Ernährungsempfehlungen erarbeiten“. Ein wichtiges
       Forschungsinstrument ist dabei die Epidemiologie, die über die Befragung
       von Verbrauchern herausfinden will, wie Ernährungsverhalten und
       Gesundheitszustand zusammenspielen.
       
       Dabei stellen sich mitunter überraschende Befunde ein. In der europäischen
       Langzeitstudie EPIC etwa sollte untersucht werden, ob es einen positiven
       Zusammenhang zwischen dem Verzehr von Obst und Gemüse und dem geringeren
       Auftreten von Krebserkrankungen gibt.
       
       Die Forscher begannen ihre Studie mit der Hypothese, dass bei 25 Prozent
       der Probanden eine krebspräventive Wirkung feststellbar sein würde. „In
       unserer Kohortenstudie wurde aber nur ein Effekt von 10 Prozent erreicht“,
       berichtet Heiner Boeing, der am DIfE die EPIC-Studie koordiniert. „Dies war
       nicht der starke Bezug, wie wir ihn in den 90er Jahren erwartet hatten.“
       Dennoch sollte dies kein Argument dafür sein, auf ausreichend Obst und
       Gemüse im Speiseplan zu verzichten, denn nicht nur EPIC zeigt einen
       günstigen Effekt hinzunehmend sichtlich des Blutdrucks und
       Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
       
       ## Neues Förderprogramm
       
       Mit einem neuen Förderprogramm will das Forschungsministerium die
       Ernährungsforschung auch in den Hochschulen stärker mit der Prävention von
       Krankheiten verknüpfen. Dazu sollen in diesem Jahr unter anderem fünf
       „Kompetenzcluster der Ernährungsforschung zur Verbesserung des
       Gesundheitsstatus in Deutschland“ gestartet werden.
       
       Endlich gibt es Geld: Bis zu 125 Millionen Euro will das BMBF in das
       Aktionsprogramm stecken. Ein Kompetenzcluster wird in der Region
       Berlin-Brandenburg mit 50 beteiligten Einrichtungen gebildet. Ziel ist es,
       eine „kritische Masse“ für die Präventions- und Ernährungsforschung zu
       bilden und den Transfer der Wissenschaft zu den Unternehmen zu verbessern.
       
       „Neue wissenschaftliche Erkenntnisse fließen nicht rasch genug in die
       Produktion gesundheitsförderlicher Lebensmittel ein“, heißt es im
       BMBF-Programm. Ob dadurch „Functional Food“ doch noch zum Verkaufschlager
       wird, bleibt abzuwarten.
       
       Überdies werden von der offiziellen Forschungspolitik bestimmte Segmente
       der Ernährungsforschung ausgespart, die gleichwohl von hohem
       gesellschaftlichem Nutzwert wären. Im Auftrag des Deutschen Bundestags
       hatte das Büro für Technikfolgenabschätzung bereits 2011 eine umfangreiche
       Studie „Forschung zur Lösung des Welternährungsproblems“ vorgelegt, die
       sogar zum Gegenstand einer Plenardebatte wurde.
       
       ## Fehlende Finanzierung
       
       Ein Vorschlag war die Entwicklung von „Leuchtturmprojekten“, in denen
       Forscher und Entwicklungsexperten gemeinsam Modellvorhaben zur
       „Ernährungssicherung marginalisierter Bevölkerungsgruppen“ in
       Entwicklungsländern in Gang bringen sollten. Als Finanzierung wurde der
       Bioökonomie-Fonds vorgeschlagen. Passiert ist jedoch nichts.
       
       Eine Verbraucherorientierung in der Ernährungsforschung vermisst auch das
       „Institut für Welternährung“ (IWE), das sich für eine ökologische
       Agrarwende einsetzt. In einem aktuellen Positionspapier spricht sich das
       IWE für die Stärkung einer Forschung aus, „die Fehlernährung verringert,
       Verbrauchersouveränität fördert und nachhaltige Konsummuster und Esskultur
       begünstigt“.
       
       Auch müsse eine Forschung vorangebracht werden, „die sich der Machtfragen
       annimmt und den politischen und wirtschaftlichen Rahmen für eine
       Ernährungswende erkundet“.
       
       Der Aufschlag für eine sozialwissenschaftlich gelagerte Ernährungsforschung
       soll alsbald an die Politik gehen, berichtet IWE-Leiter Wilfried Bommert:
       „Wir wollen in diesem Jahr ein Memorandum verfassen, das mit anderen
       Organisationen gemeinsam an die Bundesregierung gerichtet wird.“
       
       16 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Manfred Ronzheimer
       
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