# taz.de -- Krimi über eine Obdachlose: Verpeilt, versoffen und verraten
       
       > Liza Cody findet ihre Heldinnen ganz am Rand der Gesellschaft. In ihrem
       > neuen Drama behält einzig ein Rennhund einen klaren Kopf.
       
 (IMG) Bild: Ein Leben aus Tüten: Die Hauptfigur hat alles mit dabei – nur den Kopf nicht immer
       
       Die Britin Liza Cody ist eine erfahrene Spezialistin für unzuverlässige
       Ich-Erzählerinnen. Schon bei ihren Romanen um die einfach gestrickte
       Catcherin Eva Wylie sorgte dieses Grundprinzip für eine wundervolle
       erzählerische Schieflage zwischen Wirklichkeit und Einbildung. Diese besaß,
       in Verbindung mit den rotzigen Dialogen und vor dem Hintergrund des
       literarisch wenig erschlossenen Milieus des Frauencatchens, einen so hohen
       Unterhaltungswert, dass die kriminalorientierte Grundhandlung der Romane
       darüber stark in den Hintergrund trat.
       
       Mit ihrem neuen Roman, „Lady Bag“, knüpft Cody an das erprobte
       Eva-Wylie-Prinzip an, dreht die Schraube des literarischen Experiments aber
       noch ein Stück weiter. Dieses Mal ist ihre Ich-Erzählerin eine „Bag Lady“,
       eine Obdachlose, die auf Londons Straßen lebt und fast ununterbrochen
       entweder betrunken oder auf Tabletten, meistens aber beides ist.
       
       Ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit ist dadurch erheblich eingeschränkt. So
       merkt sie nicht einmal, dass eine blutüberströmte Frauenleiche in dem Haus
       liegt, in dem sie schwer verletzt Zuflucht sucht, als sie von einem
       Obdachlosenkumpan fast totgeschlagen worden ist, nachdem der mit einem
       anderen das Haus ausgeräumt hat.
       
       Ins gediegene South Kensington hatte es die Obdachlosen nur deshalb
       verschlagen, weil die Erzählerin kurz zuvor fast mit ihrem Exfreund
       zusammengestoßen und ihm dann gefolgt war. Für ihn, so berichtet sie, war
       sie im Gefängnis, weil er Geld unterschlagen und sie, die damalige
       Bankerin, dazu gebracht hatte, die Schuld auf sich zu nehmen. Jetzt lebt
       er, nachdem ihre Mutter aus Gram gestorben ist, in ihrem Haus und sie auf
       der Straße.
       
       ## Wie durch Nebel
       
       Diese Vorgeschichte kommt ein wenig bruchstückhaft daher und bleibt eher
       vage, was aber nur natürlich ist angesichts des Zustands der Erzählerin und
       der Tatsache, dass sich in der aktuell erzählten Zeit die Ereignisse
       überschlagen.
       
       Wie sich die übel Zugerichtete selbst aus dem Krankenhaus entlässt, auf der
       Straße einen jungen Transsexuellen aufliest, der sich gerade mit ihrer
       geliebten Hündin Elektra davonmachen will, mit allen beiden dann unter der
       Fuchtel eines gewalttätigen Wachschutzmanns in einem heruntergekommenen
       Wohnblock Zuflucht findet, bis eine Mitbewohnerin das Haus fast in Rauch
       aufgehen lässt: das ist wieder ein neues Großdrama, das, durch den halb
       bewusstlosen Zustand der Hauptfigur gefiltert, wie in einer Art Nebel über
       die Leser kommt.
       
       Vor den Flammen gerettet werden die unzurechnungsfähigen Bewohner ohnehin
       nur dank der Wachsamkeit der treuen Hündin Elektra. Sie ist die einzige der
       Hauptdarstellerinnen in diesem Roman, die einen richtigen Namen trägt; und
       die einzige, die stets einen klaren Kopf bewahrt.
       
       Die Liebe zu diesem Tier, einem rassereinen ehemaligen Rennhund, der von
       der Ich-Erzählerin vor dem Tierheim bewahrt wurde, ist wahrscheinlich das
       Einzige, was die erzählende Bag Lady am Leben hält – außer ihrem Wunsch
       nach Rache an dem Ex, der ihr so übel mitgespielt hat.
       
       ## Die Antwort bleibt aus
       
       Nun ist die Grundkonstruktion mit der zugedröhnten und schwer verletzten,
       also wirklich extremst unzurechnungsfähigen Erzählerfigur an sich schon
       sehr komplex – vor allem weil Cody das unwahrscheinliche Kunststück
       gelingt, ein hohes Maß an Empathie für ihre aus der Gesellschaft verstoßene
       Heldin zu wecken und gleichzeitig das Komische an deren Verpeiltheit voll
       auszukosten, ohne die Figur lächerlich zu machen.
       
       Noch raffinierter wird diese Konstruktion dadurch, dass, nach bewährter
       Methode sozusagen hinter den Kulissen, die ganze Zeit ein kriminalistisches
       Rätsel mitläuft, das es ja letztlich auch noch zu lösen gilt: Wer ermordete
       die Bewohnerin des Hauses mit der gelben Tür?
       
       War es tatsächlich der untreue Ex, der es somit schon wieder geschafft
       hätte, einer Geliebten ein Verbrechen unterzuschieben, das er selbst
       begangen hat? Ist unsere namenlose Bag Lady in Wirklichkeit gar nicht so
       plemplem, sondern in Wahrheit die Einzige, die die Machenschaften dieses
       kaltblütigen Schufts durchschaut?
       
       Drängende Fragen, die nach beendeter Lektüre immer noch auf Antwort harren.
       Auch das ist, na klar, sehr raffiniert.
       
       27 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina Granzin
       
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