# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 34: Theater, Theater, Theater
       
       > Mütterchen verliebte sich ins Theater, ihr Gatte verliebte sich in andere
       > Frauen. Kein Wunder, dass es kein Happy-End geben konnte.
       
 (IMG) Bild: Mütterchen bei einer Probe Mitte der 70er-Jahre.
       
       Seit dem Umzug nach Karlshorst war Mütterchen nur noch mit Theater
       beschäftigt. „Es gab nichts anderes mehr“, hat sie gesagt. Sandy lachte
       sich derweil eine Geliebte nach der anderen an. Mütterchen fand das nicht
       schlimm. Im Gegenteil. „Ick fand ditt natürlich“, hat sie gesagt. Sie war
       ja selbst kein Kind von Traurigkeit.
       
       „Deine Großmutter war ’ne Poly!“, hat neulich ein Freund von mir gesagt. –
       „Eine was?!“ – „Eine Polyamouröse. Jemand, der viele Leute gleichzeitig
       liebt.“ – „Aha“, sage ich. – „Ja“, sagt der Freund, „und dein Großvater war
       ein Serieller.“ – „Ein Serienmörder?“ – „Ein Serienlieber.“ Wie auch immer.
       
       Die Kinder litten darunter. Vor allem Knopsi, die Ältere: „Einen 1. Mai kam
       mein Vater erst abends nach Hause statt wie sonst immer um 14 Uhr.“ 1953
       oder 54 muss das gewesen sein. Einmal hat sie sogar gesehen, wie ihr Vater
       eine andere Frau küsste. Sie ist völlig zusammengebrochen und weinend in
       Blümis Arme gelaufen. Blümi war das Kindermädchen. Sie hatte schon vor dem
       Krieg als Haushälterin bei Streisands in Charlottenburg gearbeitet. 1938
       musste Blümi die Stelle aber aufgeben, weil sie als „Arierin“ nicht bei
       Juden arbeiten durfte.
       
       Nach dem Krieg meldete sie sich sofort wieder bei der Familie. Mumi kam
       dann auf die Idee, Blümi solle doch als Kindermädchen in Karlshorst
       anfangen. Ein segensreicher Einfall. Krümel sagt bis heute, Blümi hätte sie
       erzogen. Zumindest den Teil, den ihre große Schwester versäumt hat.
       
       „Beate, meine Schwester, ist etwas größer als ich, hat braune Augen, wie
       sie sagt, sanfte Rehaugen (das hat ihr wohl eine ihrer Klatschfreundinnen
       eingeredet) und ist, wenn man ihr ihren Willen lässt, recht erträglich“,
       hat Tante Erna 1965 in einem Schulaufsatz geschrieben, „Wenn man aber zu
       allem, was sie sagt, nicht ja und Amen sagt, fängt sie an, sich
       aufzuplustern und zu krähen. Früher haben wir uns ständig gezankt und dann
       hat sie mich durchgeprügelt, aber jetzt bin ich wenig zu Hause und da geht
       es einigermaßen.“
       
       Arme Tante Erna. Es ist natürlich alles nicht so ganz ernst gemeint, aber
       geprügelt haben sie sich doch. Und zwar so sehr, dass Frau Fiss, die
       Haushälterin, gekündigt hat, weil sie die ständigen Kräche nicht mehr
       ertragen konnte. Mütterchen hat Knopsi dann unter Tränen die Konsequenzen
       erklärt und dann ist Knopsi zu Frau Fiss hingefahren und hat sich
       entschuldigt. „Frau Fiss war eine Perle“, sagt Mütterchen.
       
       Tante Beate sagt, bis 1961 hätte sie sich eigentlich mehr in Charlottenburg
       bei ihren Großeltern zu Hause gefühlt. Sie war eindeutig Mumis
       Lieblingsenkelin. In einem Brief vom 28. Juli 1959 schreibt Mumi an ihren
       Sohn Sandy, genannt Nickel (Sie haben aber auch ein Faible für Spitznamen
       in dieser Familie!).
       
       Mumi schreibt: „Außer dass die Arbeitsleistung des gesamten Büros bis zum
       Verschwinden schrumpfte, war Knopsis Aufenthalt diesmal ein reines
       Vergnügen für mich. Sie hatte ihre sämtlichen Tiere, ihre komplette
       Kochausrüstung samt Herd ins Büro gestellt und unterhielt nun die gesamte
       Belegschaft mit einem nichtabreißenwollenden Redestrom. Dass ein Mund
       allein eine solche Redeleistung vollbringen kann, ohne sich in einzelne
       Fusselchen aufzulösen, ist mir rätselhaft. Wenn die Mädchen schließlich
       erklärten (wahrscheinlich um sich zu erholen), sie müssten nun auch mal
       arbeiten, führte Knopsi imaginäre Telefongespräche (mit abgeschaltetem
       Apparat) bis mir einfiel, dass es ja immerhin möglich wäre, dass mal jemand
       anrufen wolle und ich die weitere Fortsetzung untersagte. Als Ellis hier
       war und fragte, wie das Geschäft wäre, erklärte Knopsi: „Sehr schlecht. Die
       ganze Zeit war kein Kunde da.“
       
       Seit Hatis Tod 1955 führte Mumi das Antiquariat allein, zusammen mit
       einigen Angestellten. Die jüngere Enkelin kommt in Mumis Briefen übrigens
       bei Weitem nicht so gut weg. „Krümel ist im Ferienlager gewachsen, aber
       leider nur körperlich“, schreibt Mümi eine Woche später. „Ihre Sitten haben
       von dem Lagerleben leider nicht profitiert. Sie führt eine Sprache, bei der
       Bryks Herz wahrscheinlich gelacht hätte, ich find’s schrecklich. Es war
       sogar Ellis zu viel, die ja sonst in dieser Hinsicht allerlei aushält.“ Wie
       Ohrfeigen teilt Mumi aus, rechts, links, rechts. Erst beim dritten Lesen
       wird mir klar, dass Sandy gerade mit seiner neuen Geliebten in die
       Sommerfrische gefahren ist, als er die Briefe bekommt.
       
       Mütterchen hat einfach ununterbrochen gearbeitet. Von früh bis spät
       Theater. Probe von zehn bis Mittag, dann Besprechung, nachmittags kurz nach
       Hause und abends meistens Vorstellung. Als Regieassistentin war Mütterchen
       diejenige, die bei den Aufführungen im Publikum sitzen musste, um
       aufzupassen, dass die Schauspieler auf der Bühne keinen Blödsinn machten.
       Nicht das falsche Stück spielten. Es gibt Inszenierungen, die hat
       Mütterchen bestimmt dreißig Mal gesehen. Vielleicht hatte sie deshalb so
       ein gutes Auge für Schauspieler. Das war ganz komisch. Wenn man mit
       Mütterchen über Theater redete, hat sie immer nur über die Leistung der
       Schauspieler gesprochen, nie über die Inszenierung. Sie war eben keine
       Intellektuelle, meine Großmutter. Aber mit Schauspielerei kannte sie sich
       aus. Vielleicht, weil die Leistung der Darsteller irgendwann die einzige
       Variable in dem immergleichen Ablauf war.
       
       Mütterchen hatte sich extra für diese Abende eine Leselampe gebastelt, ganz
       ähnlich wie diese Cliplampen, die man heute in jeder Bahnhofsbuchhandlung
       kaufen kann. Sie hatte einfach eine Taschenlampe mit Leukoplast so
       abgeklebt, dass nur noch ein schmaler Lichtstreifen hindurchfiel. So konnte
       sie auch heimlich Krimis lesen während der Vorstellung, ohne die anderen
       Zuschauer zu stören.
       
       Ich glaube, sie hat sehr gelitten unter der Trennung. Vielleicht gar nicht
       so sehr wegen dem Liebeskummer. Sondern vor allem deshalb, weil ein
       Lebensentwurf kaputtgegangen ist.
       
       24 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lea Streisand
       
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