# taz.de -- Berliner Szenen: Tausend Jahre warten > Beim Augenarzt, Teil 2: Wiedersehen im Wartezimmer. Alles ist Theater, es > wird mit Renten gerechnet, ins Telefon gerufen und über Fragen nur > gelacht. (IMG) Bild: Da tut's weh! Die Sprechstundenhilfe hatte recht, als sie mir neulich sagte: „Das werden Sie nicht mehr los.“ Ich sitze also schon wieder im Wartezimmer beim Augenarzt und gucke die Zeitung durch. Irgendwas mit Koks im Vatikan. In einer Beilage vom Gorki-Theater schreibt Mely Kiyak über ihre Theaterkolumne. Ich glaube, fast alle Kolumnen sind Theaterkolumnen. Neben mir sitzt ein älteres Paar und liest zusammen einen Artikel: „Straffreiheit für reuige Steuersünder abschaffen?“ Der Mann lässt die Zeitschrift auf die Knie sinken. „Achtundzwanzig Komma fünf Millionen Euro“, sagt er. „Überleg mal“, sagt seine Frau, „wie lange wir warten müssten, bis wir so viel Rente gekriegt haben.“ Sie gucken sich an. Eine sehr kleine, sehr alte Frau wird im Rollstuhl ins Wartezimmer geschoben. „Kriegense hin mitn Ausfüllen, wa?“, sagt der Mann vom Krankentransport und legt der Frau ein Formular und einen Stift auf den Schoß. Eine Frau mit weißer Hose beugt sich zu der alten Frau rüber und sagt: „Ich helf Ihnen gerne.“ Vorne am Tresen wird die Sprechstundenhilfe immer lauter. „Genau!“, ruft sie ins Telefon, „zur Vor! Un! Ter! Su! Chung!“ Der Mann neben mir sagt: „Na, tausend Jahre auf jeden Fall. Und dann noch ne Null dran.“ „Watt denn für ne Null“, sagt seine Frau, „nee, tausend stimmt! Bisschen mehr. Über tausend Jahre! Stell dir das mal vor.“ Die Frau mit der weißen Hose hilft der kleinen alten Frau beim Ausfüllen. „Richtig geschrieben?“, fragt sie. Die kleine alte Frau nickt. „Gut. Weiblich, ne? Ja. So. Sind Sie schwanger?“ Die kleine alte Frau lacht heftig und krächzend, die Frau mit der weißen Hose lacht auch. „Ein Budget!“, ruft die Sprechstundenhilfe ins Telefon. „Eine Budget für die Oberbekleidung!“ Ein Mann in Regenjacke wartet, bis sie aufgelegt hat, dann stellt er ihr Fragen und zeigt auf einen Zettel. „Intraokular“, sagt die Sprechstundenhilfe, „das heißt: im Auge.“ 30 Mar 2014 ## AUTOREN (DIR) Margarete Stokowski ## TAGS (DIR) Berliner Szenen (DIR) Berliner Szenen (DIR) Berliner Szenen (DIR) Berliner Szenen (DIR) Diedrich Diederichsen (DIR) Berliner Szenen (DIR) Berliner Szenen (DIR) Berliner Szenen ## ARTIKEL ZUM THEMA (DIR) Berliner Szenen: Keine Mark mehr Vor dem Theater steht ein neues Haus und auch sonst ist alles verrückt. Manche sind im falschen Theater, manche wollen ihr Rückgeld in Mark. (DIR) Berliner Szenen: Jetzt auch egal Es ist Monatsende, das Geld ist knapp. Es wird geseufzt und gerechnet und „oh“ und „ah“ gemacht. Manchmal wird geweint. (DIR) Berliner Szenen: Kommt immer wieder Beim Augenarzt, Teil 1: Kaum jemand geht allein zum Arzt. Und wer einmal da war, kommt immer wieder, sagt die Sprechstundenhilfe. (DIR) Berliner Szenen: Trotzfrigide blaue Hemden Erkenntnisse eines Abends im HAU: Diedrich Diederichsen gibt es wirklich. Eric Clapton ist Scheiße. Und René Pollesch ist auch was. (DIR) Berliner Szenen: Du musst üben Nicht zu rund, nicht zu gerade, nicht zu lang. Man muss sich echt verdammt Mühe geben, um nicht auszusehen wie eine Zeichentrickfigur. (DIR) Berliner Szenen: Das güldene Sofa Ein neues altes Sofa zu kaufen ist nicht so schwer. Man muss es nur auch in den richtigen Transporter stecken. Nicht jedes Möbeltaxi ist geeignet. (DIR) Berliner Szenen: Am Ende wird gemurmelt Ein Studium, das mit Hegel, Marx und Freud begann, endet mit einer Nuss als Kopf, einer alten Wolldecke und Schienenersatzverkehr.