# taz.de -- Lidokino: Schwul auf dem Bauernhof
       
       > Bret Easton Ellis und Paul Schrader machen in Venedig Low-Budget-Kino.
       > Und Xavier Dolans „Tom à la ferme“ ist ein erstes Highlight.
       
 (IMG) Bild: Evelyne Brochu aus dem so klugen Film „Tom à la ferme“.
       
       „Ein kalter, toter Film über kalte tote Menschen“ – so nennt der
       Schriftsteller Bret Easton Ellis bei der Pressekonferenz im dritten Stock
       des Casinos die Produktion „The Canyons“.
       
       Er hat für diesen Film das Drehbuch geschrieben, die Regie hat Paul
       Schrader besorgt, das Budget betrug 150.000 Dollar, und einer der
       Protagonisten wird von einem Schauspieler verkörpert, der bislang nur in
       Pornos zu sehen war.
       
       Sein Künstlername lautet James Deen. Lindsay Lohan übernimmt eine weitere
       wichtige Rolle, sie hätte eigentlich neben Schrader sitzen sollen, aber sie
       ist nicht gekommen.
       
       „The Canyons“ spielt in Los Angeles und handelt von Menschen, die von Ruhm
       und Reichtum träumen. Die Filmindustrie ist dafür ein Vehikel, was nicht
       heißt, dass ihnen das Kino etwas Besonderes bedeutete.
       
       ## Digital-Look
       
       Dem Film sieht man an, dass er so gut wie nichts gekostet hat, er hat einen
       billigen Digital-Look, selbst in der Villa, die für Luxus stehen soll, ist
       der Boden nicht geputzt. Der Plot besteht aus zahlreichen, ineinander
       verflochtenen Intrigen. Die Figuren haben eine beeindruckende soziale
       Intelligenz, aber sie verwenden sie für nichts anderes, als einander
       Schaden zuzufügen.
       
       Immer wieder sieht man statische Einstellungen von offenen Filmtheatern,
       die Türen sind verrammelt, die Sitzreihen zerschlissen, die Buchstaben
       fehlen auf den Schautafeln, einmal liegen 35-mm-Filmrollen auf dem Boden,
       verstaubt und in sich verheddert.
       
       „Ich habe den Eindruck“, sagt Schrader, „dass wir den Kinosaal verlassen
       und die Plasmazone betreten.“ „The Canyons“ lässt sich vor diesem
       Hintergrund auch als smarte Selbstreflexion lesen: Was einmal groß und
       prächtig war, ist bei flachen, schlecht ausgeleuchteten, schlonzigen
       Bildern angekommen. Interessant ist, dass Schrader deshalb nicht
       nostalgisch wird, sondern dieses kleine, räudige Kino umarmt.
       
       ## Churchill in Badehose
       
       Die Mostra in Venedig erlaubt sich Nostalgie, wenn vor jedem Film ein
       kurzer Clip gezeigt wird: Archivaufnahmen aus den frühen Jahren, die man
       sich auch auf der Website [1][labiennale.org] ansehen kann. Was für ein
       Fest, denke ich, als das Programm des Jahres 1951 resümiert wird.
       
       Zunächst ist der Überraschungsgast Winston Churchill zu sehen, wie er in
       Badehose aus der Adria steigt, dann erfährt man, welche Filme vertreten
       waren: unter anderem „Rashomon“ von Akira Kurosawa, „The River“ von Jean
       Renoir und „Tagebuch eines Landpfarrers“ von Robert Bresson.
       
       Da kann man schon ein bisschen sentimental werden. Wenn sie aber, ohne
       jeden Kommentar, ohne jede diskursive Einbindung, aus den Jahren 1936 oder
       1941 stammen, aus einer Zeit, als die Mostra einen Preis für den besten
       faschistischen Film verlieh, wird kräftig gebuht.
       
       Mit der Nostalgie ist Schluss, als Xavier Dolans „Tom à la ferme“ (Tom auf
       dem Bauernhof) gezeigt wird. Der frankokanadische Filmemacher ist 24 Jahre
       alt, er hat bereits drei außergewöhnliche Filme gedreht – „Laurence
       Anyways“ etwa lief vor Kurzem in Deutschland.
       
       Und „Tom à la ferme“ ist so frisch und so klug, dass er aus dem bisherigen
       Wettbewerb weit herausragt. Tom, von Dolan gespielt, fährt zur Beerdigung
       seines Lebensgefährten Guillaume raus aufs Land, dorthin, wo die Bauern
       breites Québécois sprechen und dabei homophob bis in die Knochen sind.
       
       Guillaumes Mutter weiß nicht, dass ihr verstorbener Sohn schwul war,
       Guillaumes zur Gewalt neigender Bruder Francis weiß es und zwingt Tom dazu,
       kein Wort darüber zu verlieren. Anstatt umgehend abzureisen, bleibt der
       junge Witwer auf dem Hof und lässt sich auf ein unvorhersehbares,
       gefährliches Spiel ein.
       
       Dolan verwendet einen Soundtrack, der einem Melodrama der 50er Jahre
       entnommen sein könnte, er zitiert Filmklassiker wie Hitchcocks „North by
       Northwest“ und das Horrorfilmmotiv vom Städter, dem feindselige
       Landbewohner zu Leibe rücken.
       
       Aber der Film erschöpft sich nie darin, dass er Filmgeschichte aufruft, ihn
       treiben Leidenschaft und Empathie für die Figur. „Tom à la ferme“ zu sehen,
       bereitet großes Glück: Denn man merkt, dass das Kino weder kalt noch tot
       ist.
       
       2 Sep 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://labiennale.org
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cristina Nord
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kino
 (DIR) Venedig
 (DIR) Filmfestival
 (DIR) Xavier Dolan
 (DIR) Filmfestspiele Venedig
 (DIR) Venedig
 (DIR) Donald Rumsfeld
 (DIR) Kino
 (DIR) Film
 (DIR) Girls
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Filmstart „Mommy": Auszeit von der Nabelschnur
       
       Im neuen Werk von Regie-Wunderkind Xavier Dolan versuchen Mutter und Sohn,
       aus ihrer gestörten Beziehung auszubrechen.
       
 (DIR) Goldener Löwe für „Sacro GRA“: Schön gefilmtes Kuriositätenkabinett
       
       Erstmals hat ein Dokumentarfilm das Festival von Venedig gewonnen. Er
       handelt von der Ringautobahn um Rom – und überzeugt nicht wirklich.
       
 (DIR) Kolumne Lidokino: Zerrissene Kohlköpfe
       
       Alle ferngesteuert? Eine Dokumentation gibt erschütternde Einblicke in die
       Strukturen von Femen. Daneben glänzen im Wettbewerb gleich zwei Filme.
       
 (DIR) Lidokino: Die Sprache der Folter
       
       Über einen, der weiß, was Rhetorik ist und wie er sie zu seinem Vorteil
       einsetzt: Errol Morris' Dokumentarfilm „The Unknown Known“ über Donald
       Rumsfeld.
       
 (DIR) Lidokino: Teich in Nahaufnahme
       
       Scarlett Johansson gibt ein Alien im Kunstpelz und Dokumentarist Frederick
       Wiseman erforscht, wie die Gesellschaft funktioniert – diesmal in Berkeley.
       
 (DIR) Lidokino: Weltraumschrott im Anflug
       
       In Alfonso Cuaróns Film „Gravity" geht es im Weltall nicht gerade subtil
       zu. Doch der Streifen unterschätzt seine Zuschauer.
       
 (DIR) Das Kulturphänomen „New Sincerity“: Und jetzt mal ehrlich
       
       Einen auf cool und witzig machen war gestern: Kunst, Fernsehen und
       Literatur feiern die Neue Ehrlichkeit. Postironisch, peinlich,
       schonungslos.
       
 (DIR) Bret Easton Ellis' neuer Roman: Neues vom König der Kälte
       
       Bret Easton Ellis ist der Fachmann für die Installation des Grauens hinter
       glitzernder Fassade. Nun erscheint sein siebter Roman "Imperial Bedrooms".