# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 2: L wie Lust
       
       > Was bisher geschah: Ein harmloser Moment in ihrem Neuköllner Schlafzimmer
       > konfrontiert Leena mit ihrer Lust. Die jetzt gelebt werden will.
       > Gefälligst.
       
 (IMG) Bild: Im Straßencafé betreibt Leena Forschung: Was ist Lust?
       
       Leena stromerte die Pannierstraße hinab und die Weserstraße hinauf und
       suchte sich schließlich in einem der angesagten Cafés, die rund um den
       Reuterplatz aus dem Boden schossen wie andernorts Ölfontänen, einen Platz
       in der Sonne.
       
       Sie wickelte sich in die bereitliegende frühlingsgrasgrüne Fleecedecke und
       ließ sich auf dem klapperigen Holzstuhl nieder. Um sie herum streckten sich
       hungrige Gesichter in die Sonne, die Augen geschlossen, die Nasenrücken
       gezeichnet von Abdrücken schwerer (Fensterglas-)Brillen. Auf den Tischen
       vor den Gesichtern standen koffeinfreie Kaffee-Milch-Getränke oder
       Kaffee-Soja-Mischungen im Verhältnis eins zu drei.
       
       Leena betastete die Beule an ihrem Kopf. Vor ein paar Tagen war plötzlich
       mit viel Brimborium und ohne weitere Erklärungen das Wort LUST in ihrem
       Leben aufgetaucht – als Antwort auf eine Frage, die Leena längst vergessen
       glaubte. Erst als sie versuchte, ihre Gedanken unter fließendem Wasser aus
       ihrem Badewannenhahn zu klären, stand die verdrängte Frage wieder vor ihr,
       in blinkender Leuchtschrift:
       
       Warum bin ich so traurig? So stumpf? Warum so leer?
       
       Dem Schreck über dieses Triptychon und dem allzu nah über ihrem Kopf
       schwebenden Hahn verdankte sie die Blessur und hatte seither Kopfschmerzen,
       aber noch immer keine Ahnung, was die kryptische Antwort auf diese Frage
       bedeuten sollte.
       
       Lust.
       
       „Sag mal“, wandte sie sich an den Typen am Nachbartisch. „Wenn du das Wort
       ’Lust‘ hörst, woran denkst du dann?“
       
       Er errötete unter seinem gepflegten Zweiwochenbart. „Ähm …“, antwortete er.
       „Ich hab schon eine Freundin.“
       
       Leena inspizierte ihn, als wäre er ein seltenes Insekt. Dann nickte sie und
       zog ihren Tablet aus der Tasche. Sex, notierte sie. Ihre Neugier war
       geweckt.
       
       Woran denkt ihr als Erstes bei dem Wort Lust? #Lust twitterte sie.
       
       Die Bedienung, weich und üppig in gestrickten Ethno-Leggins, wartete ruhig
       neben Leenas Tisch. Leena orderte heißes Wasser, ein leeres Glas und eine
       Antwort auf die Frage nach der Lust.
       
       „Lass mich nachdenken“, bat die junge Frau ohne einen Anflug von
       Verwunderung und ging, das Wasser zu holen. Und Leena wartete. Mit den
       beiden Gläsern kam eine weitere Antwort. Nachdenklich vermerkte Leena:
       Lachen.
       
       Dann warf sie den hübschen, runden Minibrownie mit einem Anflug von
       Bedauern in den Aschenbecher, weil sie schon lange vor dem Vegantrend allem
       fleischlichen und tierischen abgeschworen hatte. Sie zog einen
       Plastikbeutel aus der Tasche. ’Melisse‘, stand darauf – in ihrer
       gestochenen Handschrift, die aufrecht und gerade und stolz war und deren
       Oberlängen exakt den Unterlängen entsprachen.
       
       Leena warf ein paar Blätter in das leere Glas, goss das Wasser aus dem
       anderen darauf und rührte so heftig, dass ihr beim Anblick des
       Blätterstrudels schwindlig wurde. Erst als die Blätter auf den Grund
       gesunken waren, schaute sie wieder auf den Computer. Fünf Antworten.
       
       Leena schob ihre übergroße, dunkel gerahmte Brille höher. Würde sie selbst
       frei assoziieren, würde sie ausschließlich bei Allgemeinplätzen landen. Ihr
       Freundeskreis war kreativer: Bis auf den Sex, der offenbar allen durch den
       Kopf schoss, waren die Antworten auf ihrem Bildschirm so unterschiedlich
       wie die Menschen, die sie schrieben.
       
       Erstens: Sex. Zweitens: Unlust. Drittens: Essen. #Lust 
       
       Ficken. Was sonst? #Lust 
       
       Für mich, ganz klar: Verwandlung. #Lust 
       
       Lieben. Leben. Morden wahrscheinlich auch. Wieso? #Lust 
       
       Am schlimmsten war Nurays Antwort:
       
       L wie Lust. Leidenschaft, Leichtigkeit, Loslassen. #Lust. 
       
       Leena starrte die Worte an. Nahm einen großen Schluck Melissentee und
       gleich noch einen zweiten. Keine einzige der Assoziationen ihrer Freunde
       kam in Leenas Alltagskanon vor. Nicht eine.
       
       Bei einer statistischen Umfrage unter sämtlichen Menschen, die sie kannte,
       würde Leena eine Ehrenmedaille cum laude in der Rubrik „Kontrolle“
       erhalten. Spielend. Und Kontrolle war das gefühlte Gegenteil von …
       eigentlich fast allem. Ein dritter Schluck.
       
       Sie recherchierte gegen die Enge in ihrem Brustkorb an. In einem
       Onlinelexikon fand sie: Lust (kein Plural): [1] Verlangen, Wunsch [2]
       Freude, (Wohl)Gefallen [3] Sexuelles Verlangen. 
       
       Sie las sich weiter durch Artikel über Wollust, Freuds Lustprinzip und die
       antike Philosophie und blieb schließlich bei Wikipedia hängen. „Fehlt die
       Fähigkeit, dem Erleben der Lust Gestalt zu geben, ist dies ein Anzeichen
       für die Erkrankung an Depression.“
       
       Depression?, dachte Leena. Was für ein Unsinn. Sie stürzte den halb warmen
       Rest des Tees hinunter und fasste einen Entschluss.
       
       31 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tania Witte
       
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       Die Autorin Tania Witte schreibt ab sofort jede Woche den Fortsetzungsroman
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