# taz.de -- Debatte Protestbewegungen: Der Nationalstaat lebt
       
       > Wo bleiben die europäischen Proteste? Sie werden so schnell nicht kommen.
       > Die soziale Lage in den Ländern ist zu verschieden.
       
 (IMG) Bild: Europaweite Solidärität ist gut. Aber der Kampf beginnt im eigenen Land.
       
       In Spanien, Portugal, Griechenland und Italien entledigt sich der
       Kapitalismus gerade der Errungenschaften der sozialen Demokratie der
       Nachkriegszeit.
       
       Europa soll in marktkonformen Demokratien regiert werden – so Wille und
       Vorstellung von Angela Merkel, die sich hierzulande ungebrochener
       Beliebtheit erfreut. Erst letzte Woche protestierten wieder mehr als
       hunderttausend Menschen in Spanien gegen die Schläge der Kürzungspolitik.
       
       Generalstreiks in Spanien, Portugal und Griechenland, Solidaritätsproteste
       in Frankreich und Italien – in vielen Ländern regte sich Widerstand im
       letzten Jahr, aber eine kollektive europäische soziale Bewegung ist nicht
       in Sicht.
       
       Ulrich Beck hat in einem
       [1][//www.taz.de/Essay-zu-den-Sozialprotesten-in-Europa/!106117/:Essay]
       [2][//www.taz.de/Essay-zu-den-Sozialprotesten-in-Europa/!106117/:(taz vom
       23. 11. 12)] eine europäische soziale Bewegung gefordert, die einem
       „kosmopolitischen Imperativ“ folge, sich über die Grenzen hinweg
       koordiniere und sich für eine Vision eines anderen Europas einsetze. Das
       könne nur gelingen, wenn die sozialen Bewegungen sich des „Dogma des
       Nationalstaats“ entledigten. Das Problem ist nur: Trotz aller
       Europäisierung der Politik, der Nationalstaat ist kein Dogma. Er ist nach
       wie vor eine harte Realität.
       
       ## Schwache Parlamente
       
       Natürlich ist die Europäische Union ein postnationales Projekt, zahlreiche
       Entscheidungen sind den Nationalstaaten entzogen. Aber Europa hat nach wie
       vor keine Adresse. Das Europäische Parlament ist kaum mehr als das
       Parlament einer konstitutionellen Monarchie: Es darf ein wenig
       mitbestimmen, aber der König bleibt der Nationalstaat mit seinen Vertretern
       in der EU-Kommission. Die eigentlichen Entscheidungen fallen dort und im
       Ministerrat, der gleichfalls von den nationalen Regierungen bestimmt wird.
       
       Der EU-Fiskalpakt hat zwar in einem einzigartigen Manöver den hoch
       verschuldeten Staaten einen elementaren Teil ihrer Souveränität – die
       Haushaltshoheit – entzogen. Aber entgegen dem Mythos seines
       Bedeutungsverlustes wurde nicht der Nationalstaat an sich geschwächt,
       sondern lediglich die nationalen Parlamente und somit die Institution, die
       für den sozialen Interessenausgleich zuständig ist.
       
       Das Kapital kann sich dank der Deregulierungen schrankenlos
       internationalisieren, auch die häufig mehrsprachigen Eliten können
       ebenfalls leichter einen europäisch-kosmopolitischen Standpunkt einnehmen,
       die Arbeitnehmer bleiben jedoch über den national institutionalisierten
       Arbeitsmarkt wie auch durch die nach wie vor national organisierten
       Parteien, Gewerkschaften und Interessenverbände in den Nationalstaat
       eingezwängt. Die Bürger in Europa sind nicht einfach uneinsichtig, sondern
       sie machen andere Erfahrungen.
       
       Der von Beck ersehnte linke Kosmopolitismus muss von daher – zunächst –
       eine Idee bleiben. Soziale Konflikte bleiben abhängig von den konkreten
       Ungleichzeitigkeiten der sozialen Lage im eigenen Land.
       
       ## Es bleibt ruhig in Deutschland
       
       Vor allem Griechenland, Spanien und Portugal müssen nun ihre Sozialstaaten
       abwickeln, um die Schulden zu bezahlen, die ihnen die Banken eingebrockt
       haben. Weil dort die soziale Axt ähnlich radikal angesetzt wird, die
       Erwerbslosigkeit Rekordniveaus von weit über 20 Prozent erreicht,
       Arbeitnehmerrechte ähnlich angegriffen werden, gibt es hier auch so etwas
       wie einen synchronisierten Widerstand.
       
       Dass Deutschland den Anschluss an die europäischen Krisenproteste verpasst,
       liegt an der Ungleichzeitigkeit des Krisen- und Kürzungszyklus: Vor zehn
       Jahren stand nicht Griechenland, sondern Deutschland auf den Titelseiten
       der Wirtschaftszeitungen als „kranker Mann Europas“. Mehr als 5 Millionen
       Erwerbslose wurden gezählt, SPD-Kanzler Gerhard Schröder entschloss sich,
       die größten Kürzungen seit dem Zweiten Weltkrieg am Sozialstaat
       vorzunehmen. Diese Kürzungen führten auch zu den größten Sozialprotesten
       der Nachkriegsgeschichte.
       
       In der Krise 2008 entstand allerdings ein Krisenkorporatismus, der mit
       Kurzarbeitergeld, Lohnzurückhaltung, Abwrackprämie und flexiblen
       Arbeitszeitkonten tatsächlich ein kleines Wunder vollbrachte – es gab fast
       keine Entlassungen bei den Stammbelegschaften. Dies war für die
       Gewerkschaften ein Erfolg, doch die Maßnahmen hatten auf der kulturellen
       Ebene problematische Nebeneffekte.
       
       ## Das Arbeitsmarktwunder
       
       Die Mehrheit der Bürger erlebte die Krise wie ein schweres Unwetter, das
       noch einmal an ihnen vorbeigezogen war. Aber die internationale
       Wettbewerbsfähigkeit immunisiert nicht vor der Krise. Hinter der Fassade
       des deutschen Arbeitsmarktwunders verbergen sich der dramatische Anstieg
       von prekärer Beschäftigung, die Aushöhlung von Tarifverträgen und ein
       gewachsener Niedriglohnsektor.
       
       Durch die Ungleichzeitigkeit der ökonomischen Entwicklungen werden die
       europäischen Proteste auf absehbare Zeit keinem kosmopolitischen Imperativ
       folgen – schon das Fehlen einer gemeinsamen europäischen Sprache bleibt ein
       großes Hindernis. Weiterhin stehen die europäischen Gesellschaften unter
       dem gewaltigen Druck der Standortkonkurrenz und gerade Deutschland konnte
       die Krise durch die Exportorientierung auf die Krisenländer
       externalisieren. Teile der Gewerkschaftsführungen sind zudem geneigt, auch
       in Zukunft auf den Krisenkorporatismus zu setzen.
       
       Aber auch die sozialen Bewegungen können nur punktuell den nationalen
       Rahmen verlassen und verhalten sich nach wie vor mitunter politisch
       provinziell.
       
       Aber ohnehin sollte man weniger über das Fehlen einer europäischen Bewegung
       in Deutschland lamentieren. Marx und Engels, zum Beispiel, stellten schon
       vor 165 Jahren im Kommunistischen Manifest nüchtern fest: „Obgleich nicht
       dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die
       Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muß
       natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.“
       
       Die Eliten in den jeweiligen Ländern, knietief verstrickt in den
       europäischen Neoliberalismus, bleiben der primäre politische Gegner. Das
       ist indes auch der Hebel, um zur europäischen Solidarität anzusetzen,
       gerade in Deutschland. Europäische Solidarität bedeutet in diesem Land,
       Merkel zu bekämpfen.
       
       28 Feb 2013
       
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