# taz.de -- Zeitung gestern und morgen: Im Raum voll der schönsten Frauen
       
       > Auch als die erste Nummer der taz erschien, musste alles schnell gehen.
       > Eine Erinnerung an eine Zeit, die von heute aus betrachtet gemütlich
       > wirkt.
       
 (IMG) Bild: Archivkeller im taz-Gebäude. Wie viele Bäume mussten schon sterben, damit diese Zeitung erscheinen konnte?
       
       Als die taz gegründet wurde, wohnte sie im Wedding. Wenn man aus der
       Haustür trat und nach links schaute, sah man die Mauer. Nach rechts auf die
       Rathenau’sche AEG. Im Verputz der Häuser und manchmal auch im Mauerwerk
       konnte man noch die Einschusslöcher aus den Straßenkämpfen der letzten Tage
       des Zweiten Weltkrieges sehen.
       
       Wer aus Westdeutschland – so hieß das damals – kam, der staunte. Frankfurt
       am Main, die Stadt, aus der ich kam, war total zerbombt gewesen, aber als
       ich 1979 in Berlin eintraf, war sie längst wieder aufgebaut. Lückenlos.
       Während in Berlin mitten in der Stadt Brachen lagen, auf denen man machen
       konnte, was man wollte.
       
       Der Mailänder Schriftsteller Nanni Balestrini kam damals nach Berlin. Die
       Stadt gefiel ihm. Nicht nur, weil er in Italien gesucht wurde wegen
       Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, sondern weil er in
       Berlin die Lederjacken der Revolution und das schmutzig-wilde Leben zu
       einem viel niedrigeren Preis als in Mailand genießen konnte. Eines Tages
       verblüffte er mich mit folgendem Satz: „Weißt du, Berlin ist so ruhig, eine
       Rentnerstadt!“ Er hatte recht.
       
       Berlin ist die ruhigste Großstadt – wenn es denn eine ist – der Welt. Eine
       Weile lang verließ ich fast täglich gegen zwölf Uhr die Redaktion, ging zum
       U-Bahnhof Gesundbrunnen und fuhr von dort aus hinunter zum Zeitungskiosk am
       Bahnhof Zoo. Ab halb eins gab es dort Le Monde, La Repubblica, The Times,
       El País und vor allem Libération.
       
       Dann ging es zurück, und noch in der U-Bahn durchblätterte ich die
       Zeitungen auf der Suche nach etwas, das die Leser der taz interessieren
       könnte. Etwas also, das ins Weltbild passte oder ihm deutlich widersprach.
       Heute kann jeder zu jeder Zeit auf [1][onlinenewspapers.com] Zeitungen und
       Zeitschriften aus aller Welt abrufen. Mehr als zweihundert allein in
       Indien. In der Redaktion von damals bekamen wir Informationen über den
       Ticker genannten Fernschreiber, eine hölzerne Maschine, so laut, dass sie
       in einen Extraraum musste. Hier kamen Fernschreiben an, hier versendete man
       sie.
       
       Als Herbert Marcuse am 29. Juli 1979 starb, fragte La Repubblica, was wir
       zu seinem Tod machen würden. „Einen Text von Dutschke über Marcuse.“ Der
       Redakteur der damals auch gerade erst drei Jahre jungen römischen
       Tageszeitung war elektrisiert. Er wollte den Text sofort haben. Wir konnten
       niemanden freistellen, der das Riesenstück abtippte. So flog ich nach Rom,
       gab den Text dort ab und dachte: Jetzt ein paar Tage Urlaub wären nicht
       schlecht. Ich wollte meine Freundin fragen, ob sie nicht kommen könnte. Ich
       wollte das nicht von der Repubblica aus machen, also ging ich zum
       Hauptbahnhof.
       
       Dort gab es unterirdisch einen riesigen Raum mit Telefonzellen und ein paar
       dezent uniformierten Damen, bei denen man seinen Telefonwunsch vortrug. In
       der Mitte standen, wenn ich mich recht erinnere, Kunstledersessel und
       -bänke, auf denen man wartete, bis es hieß: „Francoforte la dodici.“ Der
       Raum war – ich werde das nie vergessen – voll der schönsten Frauen, die ich
       jemals gesehen habe. Sie kamen aus Saudi-Arabien, waren natürlich – 1979 –
       unverschleiert und angezogen wie aus Tausendundeiner Nacht. Mit Goldreifen
       um die Armgelenke, mit Schleifen und Schmuck in den blauschwarzen,
       geglätteten oder lockigen Haaren. Dreißig, vierzig Frauen. Eine
       Zauberhöhle.
       
       ## Die letzten 10.000
       
       Ich erzähle das nicht nur um der alten Zeiten willen. Ich erzähle das, weil
       mir dabei klar wird, dass es alte Zeiten sind. Auch in Berlin erinnert kaum
       noch etwas an den Zweiten Weltkrieg, und auch vom Kalten Krieg gibt es nur
       noch wenige Spuren. Es ist eine Zeit, in der es nur ARD und ZDF gab. Kein
       Handy und schon gar nicht den wahren Revolutionär, das Internet. Die
       Zeitung stammt aus jener fernen Zeit. Ein Journalist zu sein, also jemand,
       der die Nachrichten des Tages zusammenbringt und kommentiert, hieß
       mitzumachen bei der „täglichen Hatz“.
       
       Wie gemütlich sich das von heute aus ausnimmt. Man betrachte sich nur den
       Produktionsablauf. Ich interviewte Herbert Gruhl, Abgeordneter der CDU,
       Mitbegründer der Grünen. Ich tippte das Interview ab, die Abschrift gab ich
       in den Computersatz – die taz war modern. Sie hatte von Anfang an keinen
       Bleisatz –, dann korrigierte ich das Ergebnis. Diese Fassung ging an den
       Layouter. Von der fertigen Seite wurden Filme gezogen, diese in die
       Druckerei gebracht, dort gingen sie auf die Druckmaschine. Riesenrollen
       Papier standen bereit. Die fertigen Zeitungen wurden mit einem kleinen
       Fuhrpark von Autos verteilt.
       
       Den Vertrieb zu organisieren war eine Meisterleistung, denn Springer, so
       hieß es damals bei uns, intervenierte immer wieder, um Kioskbesitzer davon
       abzubringen, die taz zu verkaufen. Am Ende war das Blatt dann bei ein paar
       zehntausend Menschen, von denen zwei, drei Dutzend das Gruhl-Interview
       vielleicht gelesen haben mögen.
       
       Das ist alles ja nicht nur irre teuer, ökologisch verbrecherisch, es ist
       auch von einer biedermeierlich anmutenden Umständlichkeit. Es hat etwas von
       jener tapernden, ängstlichen Umständlichkeit, mit der alte Menschen eine
       Rolltreppe verlassen.
       
       Wir sollten abspringen von der Zeitung. Wenn ich sie in der Hand halte, ist
       sie um mindestens zwölf Stunden überholt. Mit Nachrichtenübermittlung hat
       sie nichts mehr zu tun. Niemand glaubt wirklich, sie könne das durch
       Hintergründigkeit wettmachen. Wer Deutschlandfunk hört, weiß, wie unsinnig
       die Vorstellung ist, Reflexion habe exklusiv etwas mit Druck und Papier zu
       tun.
       
       Die Tageszeitungsbranche gibt es nur darum noch, weil zwar täglich weniger,
       aber doch immerhin noch verdient wird mit ihr. Während man keine Ahnung
       hat, wie man mit Journalismus online Geld verdienen kann und nun gar noch
       in den Mengen, an die sich die regionalen Monopolisten der Nachkriegszeit
       gewöhnt haben.
       
       Noch einmal 10.000 Ausgaben wird es von der taz nicht geben. Aber nicht,
       weil sie gestorben sein wird. Sie wird leben. Besser leben als zuvor. Und
       besser als viele ihrer heute mächtigen Konkurrenten. Online.
       
       8 Jan 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.onlinenewspapers.com
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Arno Widmann
       
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