# taz.de -- Kolumbiens Kampf gegen Drogenkartelle: Der Hund, die Stadt und die Graffiti
       
       > Medellín galt als eine der gefährlichste Städte der Welt. Der
       > Drogenhandel hat sich mittlerweile verlagert und die Stadt geht neue Wege
       > – mit Graffitikünstlern.
       
 (IMG) Bild: El Perro, „der Hund“, in seinem Revier in Medellín.
       
       MEDELLÍN taz | Sein Spitzname war jahrelang sein Lebensmotto. El Perro, der
       Hund. „Meine Freunde fanden, ich sähe wie ein Bullterrier aus“, sagt der
       23-jährige Kolumbianer mit einem Grinsen, das seine schiefen Zähne
       freilegt. El Perro ist klein, von gedrungener Statur und seine Nase wirkt
       etwas eingedrückt, so als habe mal jemand kräftig zugeschlagen.
       
       Über die linke Wange zieht sich eine Narbe. El Perro trägt die typische
       Kluft der Jugendlichen aller Armenviertel: weites T-Shirt und unförmige
       Jeans. „Na klar, eine Waffe hatte ich immer dabei“, sagt er und tritt mit
       Unbehagen von einem Fuß auf den anderen. „Einen 38er-Revolver. Sonst hätte
       ich hier nicht überlebt.“
       
       Der junge Mann steht auf einer Straße im 13. Stadtbezirk der
       kolumbianischen Stadt Medellín, sie ist ungeteert, und die meist
       unverputzten Häuser scheinen an den steilen Hügeln zu kleben. An der Ecke
       wachen zwei Polizisten mit Maschinengewehren. Eine Handvoll Kinder rennt
       barfuß hinter einem Ball her. Als sie El Perro sehen, bleiben sie stehen.
       Sie kennen ihn, wie fast jeder in diesem Viertel. „El Perro macht die
       Häuser bunt“, sagt ein Mädchen und zupft am T-Shirt des jungen Mannes.
       „Manchmal gibt er uns eine alte Spraydose zum Spielen.“
       
       Diesmal bekommt sie nur ein Lächeln von El Perro. Bis vor wenigen Jahren
       war er einer von vielen jungen Männern, die in den Straßen des 13.
       Stadtbezirks herumlungerten, ohne Arbeit, ohne Perspektive. „Wir haben
       Leute überfallen, weil wir Geld brauchten. Aber manchmal auch nur aus
       Langeweile.“ Mittlerweile bezeichnet sich El Perro als Graffitikünstler und
       gibt dem Viertel mit seinen Werken ein anderes Gesicht.
       
       Vor einer Wand bleibt er stehen, auf der die Porträts von vier Männern zu
       sehen sind, die etwa sein Alter haben müssten. „Alle vier waren Freunde von
       mir“, sagt El Perro. „Und alle vier wurden in den vergangenen fünf Jahren
       hier im Viertel umgebracht.“ Die Gründe dafür weiß er nicht. El Perro
       spricht schnell, es klingt, als habe er eine Zahnspange im Mund. Mit diesem
       Graffito, das einem Scherenschnitt gleicht, wollte er an seine Freunde
       erinnern. Mord und Gewalt haben seine Jugend bestimmt. Er ist in der Stadt
       aufgewachsen, die lange als die gefährlichste der Welt galt.
       
       ## 250 Euro für einen Auftragsmord
       
       Die Zahlen dazu kennt der zuständige Staatssekretär Mauricio Facio Lince im
       Rathaus von Medellín, das ein paar Kilometer weiter im Zentrum der
       Zwei-Millionen-Einwohner-Stadt steht. Durch das offene Fenster seines Büros
       im siebten Stock dringt der Stadtlärm. Dem untersetzten Mann läuft der
       Schweiß herunter. „Etwa 250 Euro kostete es, jemanden umbringen zu lassen“,
       sagt er. In den schlimmsten Zeiten der 80er und 90er Jahre seien auf
       100.000 Einwohner knapp 400 Morde pro Jahr gekommen. Wer einen Killer
       brauchte, fand ihn unter den Jugendlichen.
       
       Lince gehört zu der Truppe von Politikern, die es vor gut acht Jahren in
       Angriff genommen haben, die Stadt zu verändern. „Es war eine ganz bewusste
       Entscheidung“, sagt der Staatssekretär. Seine Worte überschlagen sich, er
       will seine Botschaft loswerden. „Medellín hatte so ein schlechtes Image.
       Aber wir haben die Spirale der Gewalt durchbrechen können.“
       
       Den 13. Stadtbezirk, wo El Perro auch heute noch lebt, kann er vom Rathaus
       aus nicht sehen. Lince kennt den Graffitimann auch nicht. Er blickt auf die
       andere Seite von Medellín, den Süden, wo die Wohlhabenden in ansehnlichen
       Wolkenkratzern wohnen. Er habe sich jahrelang nicht in die Elendsviertel
       getraut, gesteht der Staatssekretär. „Die Stadt war geteilt“, der Norden
       Sperrzone und in weiten Teilen in der Hand der Drogenmafia.
       
       Umgebracht habe er niemanden, beteuert El Perro. Wohl war er an
       Raubüberfällen und kleineren Drogengeschäften beteiligt. Den wohl größten
       Drogenbaron aller Zeiten, Pablo Escobar, lernte er nie persönlich kennen.
       Aber die Auswirkungen des Drogenhandels hat er miterlebt. Im 13.
       Stadtbezirk begannen die Überlandstraßen und Schleichwege, über die die
       Drogen in die Häfen an der Atlantikküste transportiert wurden.
       Drogenkartelle, Paramilitärs, Rebellen und Polizisten kämpften um die
       Kontrolle jeder Straßenkreuzung. Dies ist auch heute noch spürbar.
       
       Wenn El Perro durch die engen Straßen läuft, schaut er ständig nach links
       und rechts an den Häuserwänden hoch. „Man kann nicht vorsichtig genug sein.
       Einigen passt es nicht, wenn Fremde ins Viertel kommen“, sagt er und zieht
       die Nase hoch. Es gibt zwar keine riesigen Kartelle mehr, wohl aber kleine
       Banden, die um die Herrschaft einzelner Straßenzüge kämpfen.
       
       ## Verändertes Klima
       
       El Perro hat damit nichts zu tun – nicht mehr. Vor vier Jahren stieg er aus
       dem Bandenkrieg aus. Bei einem Schulprojekt entdeckte er das Graffitimalen.
       „Ich habe festgestellt, dass ich auch über die Kunst Anerkennung bekomme.
       Dafür brauche ich keine Waffe“, sagt er und streicht liebevoll über seinen
       Rucksack. Im Innern klappern die Spraydosen.
       
       El Perro hat sich selbst aus dem Sumpf der Gewalt gezogen. Darauf ist er
       stolz. Aber er gibt auch zu, dass sich das Klima in der Stadt geändert hat.
       „Wir bekommen Anerkennung von den Politikern. Der Staat ist keine Bedrohung
       mehr. Er hilft uns.“
       
       Solche Worte sind Balsam in den Ohren des zuständigen Staatssekretärs. Er
       lächelt bis über beide Ohren. „Die Jugendlichen sind die Zukunft dieser
       Stadt. Sie müssen ein Licht am Ende des Tunnels sehen“, sagt er dann und
       hebt die Hände zum Himmel. Es klingt pathetisch. Aber die Abkehr von der
       Repressionspolitik hin zu einer aktiven Jugendpolitik hat in großen Teilen
       funktioniert: Die Mordrate ist nach einem erneuten Anstieg vor zwei Jahren
       auf rund 40 pro 100.000 Einwohner im Jahr gesunken. Die Stadt hat in den
       vergangenen acht Jahren mehrere Millionen Dollar in die Infrastruktur, aber
       vor allem in kulturelle und soziale Projekte investiert – auch in die
       Graffitikunst.
       
       Damit wird Medellín zum Vorbild für andere Städte, sagt Staatssekretär
       Lince mit stolzer Stimme. „Vor allem aus Mexiko bekommen wir immer wieder
       Besuch von Politikern, die wissen wollen, wie wir es geschafft haben, die
       Drogenkartelle zu bezwingen.“ Aber er gibt auch zu: Die Kartelle sind
       teilweise abgewandert nach Mexiko, der Schwerpunkt des Drogenhandels hat
       sich verschoben. Aber der Wandel in der Stadt hat mit dazu beigetragen,
       dass die Gewalt abnimmt.
       
       50.000 Jugendliche studieren zurzeit in Medellín – mit Stipendien der
       Stadt. Das ist umso wichtiger, als hier die 14- bis 26-Jährigen fast ein
       Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Die Stadt baut Schulen in
       Problemvierteln, verbessert den öffentlichen Nahverkehr. Medellín hat die
       wohl modernste U-Bahn ganz Südamerikas. Und über das Viertel El Perros
       schwebt nun eine Seilbahn, die die Bewohner auf dem Hügel mit dem
       Stadtzentrum verbindet. Rolltreppen erleichtern zusätzlich den Aufstieg in
       den Teilen des Bezirks, wo die Gassen so schmal sind, dass keine Busse und
       Autos fahren können.
       
       ## Eine Klagemauer
       
       El Perro geht trotzdem lieber zu Fuß den Berg hinauf. „Diese Projekte sind
       gut gemeint. Aber sie passen nicht hierher“, sagt er. In
       Zickzackserpentinen durchziehen die Rolltreppen die Häuserschluchten.
       Gerade fährt eine kleine Gruppe nordeuropäischer Touristen nach oben. „Die
       Stadt macht das nicht für uns. Sie will der Welt zeigen, dass Medellín sich
       verändert hat.“
       
       Viel wichtiger als diese Vorzeigeprojekte sei die Unterstützung der
       Jugendkultur, meint El Perro. „Da könnte die Stadt noch viel mehr tun.“
       Ohne die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen und Privatleuten
       würde er seine Kunst nicht finanzieren können. Immerhin erhält er
       mittlerweile Anrufe und Aufträge von Schulen und auch aus dem Rathaus.
       
       El Perro besteht darauf, noch eines seiner Werke zu zeigen: die Klagemauer,
       die sich im unteren Teil des 13. Stadtbezirks, nur ein paar Meter von der
       Endhaltestelle der neuen Seilbahn entfernt, befindet. Die Mauer ist knapp
       hundert Meter lang und leuchtet in bunten Farben. Die Graffiti zeigen den
       Alltag im 13. Stadtbezirk. „Mein Leben“, sagt El Perro. Eine Mutter weint
       um ihr totes Kind. Daneben steht in grüner Farbe das Wort „Hoffnung“. Ein
       Junge hält ein Mikrofon in seiner Hand. „Früher hatte im Viertel derjenige
       das Sagen, der eine Waffe in der Hand hielt. Heute greifen mehr junge Leute
       zum Pinsel oder zum Mikrofon.“
       
       Seine Erfahrungen, seine Kunstfertigkeit will El Perro an Jüngere
       weitergeben. Er engagiert sich in Jugendprojekten, besucht Schulen. Die
       Medien berichteten immer nur Schlechtes über den 13. Stadtbezirk. „Die
       Menschen woanders sollen sehen, dass es unglaublich viele gibt, die sich
       hier engagieren. Damit die Kinder eine Zukunft haben“, sagt El Perro.
       „Dafür lohnt es sich zu leben.“
       
       13 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ruth Reichstein
       
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