# taz.de -- Contra- Warum Dutschke überholt ist: Der große Erzähler
       
       > Was bleibt von Dutschke? Der Glaube an Utopie und Revolution ist vorbei.
       > Zwar fehlt manchmal die sinnstiftende, große Erzählung. Aber nur
       > sonntags.
       
 (IMG) Bild: Kopf und Herz der Studentenbewegung: Rudi Dutschke.
       
       Rudi Dutschke war ein Humanist, offen für Neues und weitgehend immun gegen
       doktrinäre Verhärtungen. Deshalb perlen alle Versuche, ihn als Vordenker
       der RAF zu outen, an ihm ab. Solche Versuche sind entweder nachträgliche
       Rechthabereien damaliger Gegner (wie etwa von dem CDU-Mann Gerd Langguth)
       oder gehen auf das Konto von Renegaten, die meinen, damit ihre
       Läuterungsprozesse beglaubigen zu müssen. Die Verteidigung der
       zeitgeschichtlichen Figur Dutschke gegen durchsichtige Angriffe ist das
       eine - etwas anderes ist die Frage, was sein Denken heute bedeutet. Können
       wir 2008 mit ihm wirklich noch etwas anfangen - oder taugt er nur noch für
       die Ahnengalerie? Wäre eine Figur wie Dutschke heute noch denkbar?
       
       Man kann diese Fragen anhand von drei Begriffen fokussieren: Charisma,
       Utopie und Staat. Sie zeigen, wie fern uns Dutschke als politische Figur
       geworden ist. Nicht weil seine Irrtümer so monströs waren, sondern weil
       sich die Verhältnisse gewandelt haben.
       
       Dutschke war Sprachrohr, Aushängeschild, konzeptueller Denker, Herz und
       Kopf der Studentenbewegung in einem. Er war ein charismatischer Redner.
       Niemand hat die Studentenbewegung so verkörpert wie er. Interessanterweise
       gab es in keiner sozialen Protestbewegung nach 1968 eine vergleichbare
       Figur. Weder die Ökobewegung noch Globalisierungskritiker, weder die
       Frauen- noch die Hausbesetzerbewegung haben eine ähnliche Führungsgestalt
       hervorgebracht - vielleicht mit der Ausnahme von Petra Kelly, die in den
       frühen 80er-Jahren in der pazifistischen Bewegung kurzzeitig eine ähnliche
       Rolle spielte. Im Allgemeinen aber gilt, dass die sozialen Bewegungen in
       den letzten 40 Jahren keine Helden mehr brauchten und wohl auch nicht mehr
       vertragen hätten. Sie waren einerseits zu selbstbewusst, um eine solche
       Monopolisierung von Bedeutung zuzulassen, andererseits auch zu vielfältig
       und widersprüchlich, um von einer Leitfigur repräsentiert zu werden.
       
       Dutschkes Charisma verdankte sich seiner Rhetorik. Darin mischte sich das
       selbstverständliche Bewusstsein, Geschichte machen zu können, mit dem
       Glauben, dass die Utopie einer befreiten Menschheit eine reale Möglichkeit
       ist. Die Revolution ist möglich, wenn wir sie wollen - dieser Gestus
       durchzieht sein Denken.
       
       Vielleicht war 1968 das letzte Mal, dass viele in aller Unschuld an die
       große Erzählung glaubten, dass es "die Geschichte" gibt und dass sie
       machbar ist. 2008, nach dem Ende des Marxismus und seiner Derivate, sehen
       wir, dass die große Erzählung selbst Geschichte ist und es viele,
       parzellierte, kleinteilige, widersprüchliche Geschichten gibt. Utopie ist
       heute jedenfalls ein Wort für Sonntagsreden, nichts für den Hausgebrauch.
       Es geht auch nicht mehr um die wolkige Revolutionierung der Gesellschaft,
       sondern darum, deren sozialen Zusammenhalt zu bewahren. Attac zielt nicht
       auf die Erlösung der Menschheit, sondern auf die Regulierung der
       internationalen Finanzmärkte. Auch der Slogan der Globalisierungskritiker
       "Eine andere Welt ist möglich" klingt nicht zufällig ja eher reformistisch.
       Die historische Zentralperspektive, an der auch der postmarxistische
       Dutschke festhielt, der sich Ende der 70er-Jahre den Grünen annäherte, ist
       heute jedenfalls zerbrochen.
       
       Komplett auf den Müllhaufen der Geschichte gehört die Staatsskepsis der
       68er, die auch Dutschke teilte. Sie war damals Teil des Kampfes der
       Generationen, des Aufbegehrens mancher Kinder der NS-Generation gegen ihre
       Eltern, die sich, ebenso wie die Kiesinger & Globkes, nach 1945 so
       unheimlich geräuschlos in Demokraten verwandelt hatten. Doch das ist
       vorbei. Auch die Bastionen des deutschen Obrigkeitsstaates sind, dank 1968,
       geschleift.
       
       Die andere Seite des Kampfes der Linken gegen den Staat war das etwas
       blauäugige Vertrauen in Selbstorganisationskräfte der Massen. Nein, nichts
       gegen soziale Bewegungen, sie sind ein Ferment der Demokratie. Aber eben
       nur das. Wer dauerhaft sozialen Ausgleich und demokratische Verlässlichkeit
       will, kommt um Institutionen nicht herum.
       
       Der Nationalstaat ist nicht mehr der Feind, er fällt eher unter die
       Kategorie bedrohte Spezies. Seine Kompetenzen wurde durch transnationale
       Organisationen ebenso beschnitten wie durch die seit 1990 enorm gewachsene
       Macht multinationaler Konzerne. Der antiautoritäre, libertäre Antietatismus
       der 68er gehört ins Museum. Die Staatsfeinde des 21. Jahrhunderts sind die
       Neoliberalen. Die Linke muss den Staat und auch supranationale
       Institutionen nutzen, um der blinden Macht des Marktes
       Gerechtigkeitspolitik abzutrotzen. Das klingt nach Arbeit, ist es auch.
       
       Dutschke verkörperte, was uns heute manchmal fehlt: die sinnstiftende,
       große Erzählung. Aber sie fehlt uns aus guten Gründen. Und auch nur
       sonntags.
       
       11 Apr 2008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Reinecke
       
       ## TAGS
       
 (DIR) 68er
 (DIR) 68er
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Pro - Warum uns ein Dutschke fehlt: Utopie und subversive Praxis
       
       Auch wenn der Pathos von damals überholt ist: Langfristige Utopien und
       zivilen Ungehorsam können wir nach zwanzig Jahren neoliberaler Politik gut
       gebrauchen.