# taz.de -- Rechtsextremismus in Deutschland: Zschäpe war gestern
       
       > Während der NSU-Komplex genau untersucht wird, sind Nazis etabliert wie
       > nie. Sie fallen wenig auf, übernehmen zunehmend öffentliche Ämter.
       
 (IMG) Bild: In Jamel, in Nordwestmecklenburg, wohnen viele Nazis.
       
       „Nur der Freiheit gehört unser Leben“ – so schallt es Ende Juni 2015 durch
       das Dorf Jamel in Mecklenburg.
       
       Eingeladen hat der Neonazi Sven Krüger, Dutzende Personen feiern mit ihm
       die Sommersonnenwende. Auch dabei: zahlreiche Kinder, manche in
       völkisch-korrekten Gewändern mit geflochtenem Haar, andere in zeitgemäßer
       Kleidung.
       
       Die Lütten tragen Fackeln zum Scheiterhaufen, während die Erwachsenen ein
       Propagandalied der Hitlerjugend intonieren, das Hans Baumann 1935 für die
       Nazis komponiert hatte.
       
       Nur eine Familie leistet in Jamel kontinuierlich Widerstand gegen die
       braune Hegemonie: die Lohmeyers – vor Jahren zugezogen aus Hamburg. Einmal
       im Jahr organisiert das unerschrockene Ehepaar ein Musikfestival, um dem
       Neonazitreiben etwas entgegenzusetzen. Das brachte ihnen Aufmerksamkeit und
       viel Respekt ein. Doch das öffentliche Interesse schwand, die Neonazis sind
       immer noch da.
       
       Das Selbstbewusstsein der braunen Szene sei gewachsen, meint die
       Fachjournalistin Andrea Röpke. Zudem hätten sich diverse Mischszenen
       entwickelt: Überschneidungen mit dem Rocker-, aber auch dem Hooligan-, dem
       Rotlicht- sowie dem Türstehermilieu seien unübersehbar. Außerdem tauchten
       auch „ganz normale“ Mittelständler auf.
       
       ## Der Feuerwehrchef ist rechts
       
       Eine Isolation der Neonaziszene sei hier überhaupt nicht gegeben. In Jamel
       sind eher diejenigen isoliert, die sich gegen die Neonazis stellen.
       
       In Postlow im Landkreis Vorpommern-Greifswald ernennt der Gemeinderat im
       Februar 2014 einen neuen Wehrführer – einstimmig. Das Bemerkenswerte:
       Dieser neue Feuerwehrchef Ralf Städing war Mitglied einer bekannten
       Neonaziband. Das Amt Anklam beanstandete daher die Ernennung. Gegen diesen
       Schritt klagte die Gemeinde, sie wollte ihren Wehrführer behalten – die
       Bedenken spielten keine Rolle. Erst ein Urteil des Verwaltungsgerichts
       Greifswald stoppte die Nazifeuerwehrleute.
       
       Postlow? War da nicht noch etwas? Es handelt sich um die Gemeinde, in der
       die NPD bei Wahlen bis zu 38 Prozent geholt hat. Ein Blitzlicht der
       Aufmerksamkeit fiel auf Postlow. Seitdem herrscht wieder Ruhe.
       
       Auch im Pegida-Ableger MVgida übernahmen Neonazis schnell das Kommando.
       Lokale Medien sprachen von einer rechtsextremen Tarnorganisation, die fest
       in der Hand der NPD und der Kameradschaften sei.
       
       In Güstrow unterstützte eine Bürgerwehr einen Aufmarsch von MVgida. Die
       „ganz normalen Bürger“ patrouillierten durch die Stadt, in der die Neonazis
       ohnehin sehr agil sind.
       
       Auch wenn die Bürgerwehr behauptet, nichts mit Parteien oder politischen
       Organisationen zu tun zu haben, lassen sich einige der Initiatoren, der
       Polizei und Szenekennern zufolge, eindeutig der rechtsextremen Szene
       zuordnen.
       
       ## Alles für den guten Zweck
       
       Die Neonazis haben für jeden Anlass das passende Aktionsformat entwickelt:
       Die Bürgerwehr fordert unter dem Deckmantel des guten Zwecks gegen die
       angeblich grassierende Gewalt die Staatsmacht heraus; mit MVgida und der
       halluzinierten Islamisierung eröffnen sich wiederum ganz neue Bündnisse und
       Milieus; und Parteien wie die NPD bleiben wichtig, um Demonstrationen
       anzumelden oder Geld zu generieren sowie die Kader in den Parlamenten zu
       versorgen.
       
       Wo die NPD schwächelt, schließen sich braune Kader der Splitterpartei III.
       Weg an. Ein Geflecht von Kameradschaften überzieht das Land ohnehin – zwar
       konkurrieren die Nazibanden bisweilen untereinander, doch die Kontakte
       reichen weit über Mecklenburg-Vorpommern hinaus.
       
       Viele Indizien weisen darauf hin, wie eng auch die NSU-Terroristen mit
       Kameraden im Nordosten vernetzt waren – Rostock war die einzige ostdeutsche
       Großstadt, wo der NSU mordete. In Stralsund überfielen mutmaßlich Uwe
       Böhnhardt und Uwe Mundlos eine Bank.
       
       Ruhiges braunes Hinterland als Rückzugsraum, Demonstrationen und Anschläge
       in den Städten: Die Konfliktlinien verlaufen nicht zwischen Ost und West,
       sondern zwischen Stadt und Land.
       
       Provinzen, in denen völkische Siedler mit ihren Familien Bauernhöfe
       erwerben, um dort ihren Lebensentwurf auszuleben – allein zehn Dörfer in
       Mecklenburg-Vorpommern sollen von solchen Projekten betroffen sein, vier
       weitere in Brandenburg, drei in Sachsen-Anhalt, je eines in Thüringen und
       Sachsen.
       
       Und das wird nur der Anfang sein, denn die Kluft zwischen Stadt und Land
       vergrößert sich: kulturell, politisch, wirtschaftlich.
       
       ## Die Idylle trügt
       
       Während in den Städten die Preise für Immobilien stetig steigen, verfallen
       sie auf dem Land. In den Städten, auch in Mecklenburg-Vorpommern, bleibt
       die NPD bei Wahlen zumeist schwach, bei Kundgebungen stößt sie auf massive
       Proteste. In manchen ländlichen Regionen stört es noch nicht einmal, wenn
       Kinder mit HJ-Propaganda indoktriniert werden. Was wird aus diesem braunen
       Nachwuchs? Die rechtsextremen Hochburgen liegen in den Weiten von
       Vorpommern, aber ebenso in Mecklenburg auf dem Weg von Berlin nach Hamburg.
       Hier ließ sich auch die NPD-Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten
       nieder, in der Landstadt Lübtheen, wo auch NPD-Vize Udo Pastörs zu Hause
       ist.
       
       Eine Autostunde weiter in Richtung Osten lebt Christian Worch. Der
       langjährige Neonazivordenker verließ Hamburg, um von Mecklenburg aus seine
       Partei Die Rechte weiter aufzubauen. Auch Doris Zutt, die über Jahre die
       Szene in Hessen zusammenhielt, zog nach Mecklenburg-Vorpommern – und sitzt
       hier in der Stadtvertretung von Waren.
       
       Sie wollten in einer Umgebung leben, „wo man noch Deutscher unter Deutschen
       sein“ könne, erklärten die Zutts, als sie „rübergemacht“ hatten.
       
       Deutsche sein unter Deutschen – die Völkischen genießen in ostdeutschen
       Provinzen ihren Traum einer ethnisch homogenen Gemeinschaft.
       
       Dem Statistischen Bundesamt zufolge lebten 2014 in Deutschland mehr als 96
       Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund auf dem Gebiet der alten
       Bundesrepublik; gerade einmal 3,3 Prozent im Osten – und davon wiederum
       viele in größeren Gemeinden oder Städten. Während die dynamischen
       Metropolen längst kosmopolitisch und multikulturell geprägt sind, bleibt
       die Zeit in einigen Teilen Deutschlands stehen.
       
       Mit dem Auto fährt man in anderthalb Stunden von Hamburg nach Jamel, in
       zwei Stunden von Berlin nach Postlow. Doch eigentlich liegen Welten
       zwischen diesen Orten.
       
       ## Feindbild Stadt
       
       Die meisten Großstädter sind selbst froh, dem Konformitätsdruck im
       ländlichen Raum entkommen zu sein. Andersherum dient die Stadt den
       Rechtsextremen als ein zentrales Feindbild, das Land wird hingegen
       idealisiert. In NPD-Papieren war bereits vor Jahren von Kulturlandschaften
       und familiären Bauernbetrieben die Rede.
       
       Der NPD-Politiker Jürgen Gansel schrieb: „Schon im 20. Jahrhundert haben
       Nationalisten bei Wahlen auf dem Land stets ihre besten Ergebnisse erzielt,
       weil Menschen, die in intakte Sozial-, Kultur- und Traditionsverhältnisse
       hineingeboren werden, immer eine Ader für das Natürliche und Gewachsene,
       also das Nationale, haben. […] Die Globalisten wollen den
       identitätskastrierten, wurzellosen und gemeinschaftsunfähigen Konsumbürger,
       wie er gerade in multi-ethnischen Großstädten gedeiht.“ Dörfer und
       Kleinstädte könnten zum Kristallisationspunkt eines erd- und bluthaften
       Widerstands werden.
       
       Bluthafter Widerstand? Rechtsextremismus – die Ideologie der
       Ungleichwertigkeit von Menschen – ist per se gewalttätig; die Unterschiede
       liegen darin, wie sich diese immanente Militanz ausdrückt – ob in Worten
       oder in Taten. „Taten statt Worte“, so lautete die Parole des NSU.
       
       Die Rechtsterroristen radikalisierten sich in einer braunen Parallelwelt
       der 1990er Jahre. Und selbstverständlich ist es wichtig, die Versäumnisse
       der Geheimdienste und der Polizei im NSU-Komplex zu untersuchen. Doch die
       meisten Erkenntnisse sind seit Monaten, wenn nicht Jahren bekannt.
       
       Wichtiger als Konsequenz aus dem NSU wäre es, Radikalisierung und
       Terrorismus präventiv zu verhindern, also eine Gesellschaft zu schaffen, in
       der rechtsextreme Strippenzieher gar nicht erst die Möglichkeit haben,
       engmaschige und funktionsfähige Netzwerke zu schaffen.
       
       ## Klandestine Zellen
       
       Die braunen Strukturen, die in Mecklenburg-Vorpommern ausgebaut werden,
       dürften in der Lage sein, klandestine Zellen zu verstecken und zu
       versorgen. Mit Wissen, Waffen und Geld.
       
       Während Versäumnisse der 1990er Jahre nun haarklein aufbereitet werden,
       geraten die aktuellen Tendenzen aus dem Blick. Den Neonazis in
       Mecklenburg-Vorpommern scheint dies gelegen zu kommen, die Zeiten der
       großen Provokationen, um in die Massenmedien zu gelangen, sind vorbei.
       
       Stattdessen konzentrieren sie sich auf die praktische Arbeit vor Ort.
       Etabliert sind die Rechtsextremen in einigen Regionen längst, die braune
       Graswurzelrevolution verläuft leise.
       
       Und wenn sich in diesen Strukturen einzelne Neonazis so weit
       radikalisieren, dass sie zu den Waffen greifen und in den verhassten
       Großstädten zuschlagen, wird die Verwunderung wieder groß sein, wie man so
       blind sein konnte.
       
       17 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Patrick Gensing
       
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