# taz.de -- Ein Brief gegen die Angst: Liebe Necla Kelek,
       
       > Wir wissen nicht, was aus den nach Deutschland geflüchteten Menschen
       > wird. Aber Ängste zu schüren, hilft dabei nicht.
       
 (IMG) Bild: Geflüchtete stehen vor einer ehemaligen Kaserne in Schleswig-Holstein, die zur Erstaufnahmeeinrichtung umfunktioniert wurde.
       
       Ich schreibe Dir, weil wir uns kennen und weil unsere Debatten immer
       öffentlich waren. Nun aber verhehle ich nicht, dass mich Beiträge von Dir,
       wie der in der [1][Mainpost] oder auch im Interview mit dem [2][Focus]
       erstaunen – ihrer mangelnden Anteilnahme wegen. Doch zunächst zur Sache.
       Viele Hunderttausend Menschen kommen in diesen Wochen nach Deutschland, und
       es werden noch mehr.
       
       Wir, als schon lang hier Lebende, als in der Bundesrepublik Geborene, sind
       mehrheitlich willens, die neuen Bürger und Bürgerinnen aufzunehmen, ihnen
       Asyl zu geben, einen Status jedenfalls, mit dem sie nicht fürchten müssen,
       in jene Hölle zurückreisen zu müssen, die einst ihre Heimat war.
       
       Du schreibst seit vielen Jahren über Migrant*innen. Du bist selbst in
       Istanbul geboren, kamst mit 9 Jahren nach Deutschland. In Deinen Büchern
       und Artikeln war vieles imponierend. Während die Linke, auch das
       multikulturelle Establishment noch – aus vermeintlich guten Gründen, um
       Rassismus nicht zu schüren – vor zehn Jahren abstritt, es könnte hinter
       muslimischen oder, sagen wir: migrantischen Türen irgendein Problem geben,
       das auch die demokratische Öffentlichkeit angeht, hast Du mit mutiger Kühle
       auf Themen wie die Unterdrückung von Frauen gerade in eingewanderten
       Familien aus der Türkei und dem arabischen Raum hingewiesen. Themen wie
       Zwangsheirat oder die aggressive innerfamiliäre Umgangsweise mit schwulen
       oder lesbischen Kindern waren Deine.
       
       ## Deutsch als wichtigste Sprachkunst
       
       Den Mord an der Berlinerin Hatun Sürücü hast Du nicht als Einzelfall
       abgetan, sondern als Teil der Weigerung von eingewanderten Familien, sich
       der demokratischen Moderne auszusetzen. Die Forderung, Familien das
       Kindergeld zu kürzen, wenn die Eltern es als Einkommen nutzen, hast Du auch
       ernst gemeint.
       
       Deutsch als wichtigste Sprachkunst in diesem Land? Keine Frage: Wer glaubt,
       sagtest Du, Deutsch müsse nicht gelernt werden, weil schon die Forderung
       rassistisch sei, mache sich und vor allem die eigenen Kinder wehr- und
       hilflos in einem demokratischen Land.
       
       Inzwischen ist es doch so: Selbst Linke bestreiten das nicht mehr, was man
       als deutsche Leitkultur bezeichnen kann. Eine, die das Grundgesetz zum
       Fundament hat und, nebenbei, eine, in die viele soziale und kulturelle
       Kämpfe eingegangen sind, und eine, die vielleicht für Sicherheit und
       Ordnung, vor allem aber für Freiheit steht. Auch für religiöse Freiheit.
       Der Relativismus Linker im Namen des imaginiert guten Fremden, ist
       weitgehend verweht. Das ist auch Dein Verdienst.
       
       Dir allerdings, der doch der Beifall auch von seltsamer,
       rechtskonservativer Seite immer egal war, weil es Dir auf das Argument
       ankam, macht nicht zu schaffen, was ich einen kalten, ja apokalyptisch
       trostlosen Ton nennen würde, den Du nun anschlägst. Du nimmst an den
       Flüchtlingen aus Syrien nicht wahr, dass sie in Not sind, dass sie, wie Du,
       in Deutschland ein freies Leben führen wollen, sondern nur: Gefahr. „Das
       sehe ich klar voraus“, sagst Du im Gespräch in der Mainpost, dass wieder
       Parallelgesellschaften entstehen.
       
       ## Liebe Necla, was ist dein Beitrag?
       
       Und unterstellst ein paar Sätze weiter, dass die jungen Männer, die aus den
       Bombengebieten kommen, ihre Familie im Stich gelassen haben, um wie
       „Scouts“ in Deutschland rührig zu werden und schließlich die Frauen und
       Familienangehörigen nachzuholen. Mir ist das ein Sprachbildnerei, die
       Paranoia atmet, die Ängste stimuliert.
       
       Liebe Necla, Deine Einschätzungen lassen mich frieren. Am Ende sagst Du:
       „Das wird die Gesellschaft spalten. Ich sehe das so, dass sich Deutschland
       gerade selbst übernimmt.“ Woher weißt Du es? Keine Antwort. Wir lesen auch
       nicht, was Dein Beitrag zum „Wir schaffen das!“ sein könnte. Erinnere Dich:
       Vor Jahren sprachen wir über den Satz John F. Kennedys: „Frage dich nicht,
       was dein Land für dich tun kann. Sondern was du für dein Land tun kannst.“
       Wir fanden das pathetisch. Aber wahr ist doch auch: Warum beschwörst Du
       raunend Befürchtungen, wo es um Probleme geht, die lösbar sein könnten?
       
       „Frau Merkel und ihre Freunde versuchen, die Probleme der ganzen Welt zu
       lösen. Daran wird Deutschland scheitern.“ Das ist nah an der
       schmallippig-fürchterlichen Art Thilo Sarrazins und fern der zupackenden,
       migrationszugewandten Haltung, die Heinz Buschkowsky in Neukölln vorlebte.
       Du willst nicht mit anpacken, Du willst mahnen und drohen.
       
       ## Wir brauchen keine Verdächtigungen
       
       Nur, nicht wahr, es ist wichtig, dass die Flüchtlinge, unsere neuen
       Nachbarn, auch insofern integriert werden, als es viel mehr Lehrer*innen
       braucht, Mentor*innen – damit diese naheliegenderweise nicht durch
       Salafisten, durch Männer und Frauen seltsamer saudi-arabisch finanzierter
       Moscheevereine gestellt werden. Aber: Demokratische Hilfe zu leisten – war
       das nicht gerade das Manko in den ersten 30 Jahren Einwanderung in dieses
       Land?
       
       Jedenfalls: Was es nicht braucht, sind Verdächtigung an und für sich.
       Menschen mit dieser Haltung, so scheint mir, sind mehr Züchtende und
       Misstrauen Säende als Mitbürger*innen, die Zutrauen in das haben, was in
       diesem Land anders werden wird – demokratisch anders. Du, liebe Necla,
       schreibst im Focus: „Aber alle kommen mit einer kulturellen Prägung
       hierher, die sich von dem libertären Freiheitsbegriff unserer
       Zivilgesellschaft fundamental unterscheidet.“ Mag sein.
       
       Gleichwohl: Dein Freiheitsbegriff ist einer, der Dir selbst nicht eigen
       war. Uns allen nicht. Das ist hart erlernt, das war fürchterliches Lernen,
       gerade für die eingeborenen konservativen Deutschen. Liebe Necla, trau
       Dich, die Zukunft des Zusammenlebens in diesem Land, in Europa, friedlich
       und dem Leben zugewandt zu denken. Anders gesagt: Sei nicht feige, bleib
       nicht bitter!
       
       Herzlich, Jan
       
       17 Nov 2015
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.mainpost.de/ueberregional/meinung/Flucht-Diese-Frauen-sind-rechtlich-nicht-geschuetzt;art9517,8980114
 (DIR) [2] http://www.focus.de/politik/deutschland/gastebeitrag-von-necla-kelec-fluechtlinge-muessen-sich-aendern-wenn-sie-in-dieser-gesellschaft-ankommen-wollen_id_4977927.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan Feddersen
       
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