# taz.de -- Essay zum „Projekt Europa“: Du Schöne, wie bist du zugerichtet!
       
       > Aus der großen Idee einer europäischen Einigung ist ein Moloch geworden.
       > Wie konnte es so weit kommen, was muss geschehen?
       
 (IMG) Bild: Es war ein krisenreiches Jahr für Europa
       
       Ein gewisser Andrés Laguna, ein damals berühmter Arzt, beschreibt im Jahr
       1543 in einer lateinischen Rede in der Aula der Universität zu Köln eine
       Frau, die zu ihm gekommen sei, um ärztliche Hilfe einzuholen: „[Da] kam
       eine Frau zu mir, die […] ganz elendig aussah; sie war tränenüberströmt,
       traurig, blass, ihre Körperglieder waren verletzt oder gar abgeschlagen,
       ihre Augen hohl, sie war schrecklich abgemagert.“
       
       Europa hieß die Frau und sie klagte Laguna ihr Leid. Sie werde schlecht
       behandelt, einst sei sie eine Schönheit gewesen, doch mittlerweile sei sie
       derart zugerichtet und leide unter qualvollen Gebrechen.
       
       In Lagunas Allegorie steht der intakte, schöne Frauenkörper für das im 16.
       Jahrhundert faktisch noch gesunde, ganzheitliche Europa – bevor die
       frühneuzeitliche Herausbildung der Nationalstaaten begann.
       
       1532 schrieb Machiavelli sein Hauptwerk „Der Fürst“. Mit ihm fing die
       moderne Nationalstaatswerdung an. Von der einst schönen Frau Europa zur
       krisengeplagten Europäischen Union des 21. Jahrhunderts war es ein langer
       Weg, auf dem die europäische Idee gleich mehrfach in die Sackgasse von
       Nationalstaatlichkeit und den Strudel ihrer meist kriegerischen Dynamiken
       geriet.
       
       Die Versuche von Victor Hugo im 19. Jahrhundert und die von Aristide Briand
       oder Richard Coudenhove-Kalergi – den Vordenkern der europäischen Einigung
       aus den 20er Jahren und Erfindern des Völkerbundes des letzten Jahrhunderts
       – misslangen. Vor unseren Augen, in atemberaubender Geschwindigkeit
       scheitert nun auch das zeitgeschichtliche Projekt der Vereinigten Staaten
       von Europa, das Projekt der europäischen Gründungsväter des 20.
       Jahrhunderts.
       
       ## Wovon sie träumten
       
       Entwurf und Bauplan dieses Vorhabens waren erneut falsch, die historischen
       Lehren des letzten Jahrhunderts wurden nicht resolut gezogen:
       Nationalstaaten können Europa nicht erschaffen, eine europäische Einheit
       kann nicht aus Nationalstaaten hervorgehen.
       
       Der männliche Leviathan, der Nationalstaat, ist gleichsam die Antithese zur
       grenzenlosen Europa, dem ganzheitlichen, weiblichen Frauenkörper, in dem
       alle Völker und Nationen Europas ihren organischen Platz haben: Alle werden
       gebraucht, damit die Europa gesund ist. Dann aber können sie nicht als
       Nationalstaaten souverän sein.
       
       1964 schrieb Walter Hallstein, der erste deutsche Präsident der
       Europäischen Kommission: „Das Europa, das uns vor Augen steht, wird kein
       Bündnis von Nationalstaaten sein und nicht bloß deren gemeinsamer
       Wirtschaftsraum. Europapolitik bedeutet Förderung der Regionalpolitik, am
       Ende eine Verfassung Europas als Netzwerk freier Regionen, und das heißt:
       die Überwindung des Ungleichgewichts zwischen großen und mächtigen und
       kleinen und politisch machtlosen Nationen.“
       
       Doch die Überwindung der Nationalstaaten misslang ein weiteres Mal. Gerade
       die verspätete Nation Deutschland, für die das europäische Einigungswerk
       1950 erdacht wurde, machte sich seit 1989 – spätestens seit dem
       Fußballsommermärchen 2006 – an die Wiederentdeckung des Nationalen, suchte
       die „nationale Normalität“.
       
       Die nationale Anormalität Deutschlands war jedoch die Bedingung
       europäischer Normalität vor 1989. Wo deutsche und europäische Einigung zwar
       zusammengedacht waren, dann aber doch aufeinanderprallten, musste die
       europäische Idee scheitern.
       
       ## Was sie wollte und sollte
       
       Von der deutschen „Normalität“ zur deutschen Übermacht („Grexitkrise“) und
       zur deutschen Ohnmacht („Flüchtlingskrise“) war es ein kurzer Weg. Wer erst
       Solidarität verweigert, kann sie später nicht erwarten. Die Europa leidet
       deshalb heute wieder an multiplem Organversagen.
       
       Man kann das alles auch etwas weniger barock ausdrücken. Aus der
       Systemforschung ist bekannt, dass komplexe Systeme – auch wenn Individuen
       rechtzeitig vor möglichen Krisen warnen – fast keine Kapazitäten haben,
       Kommendes vorauszusehen und sich darauf vorzubereiten. Sie sind immer im
       reaktiven Modus, können sich kaum an sich schnell verändernde Bedingungen
       anpassen.
       
       Mithin ist es in komplexen Systemen nicht möglich, auf Krisen zu reagieren,
       wenn diese erst einmal da sind. Der Begriff „Krise“ kommt aus dem
       Griechischen und bedeutet „Entscheidung“. Die EU müsste sich in der Krise
       entscheiden, endlich das zu werden, was sie sein wollte und sein sollte:
       eine politische Einheit.
       
       Genau das aber kann sie im Moment der Krise nicht mehr tun. Sie schafft es
       nicht einmal mehr, die notwendigen Verstrebungen von Politikbereichen
       herzustellen: Populismus, Euro-, Flüchtlings-, und jetzt Terrorkrise werden
       voneinander getrennt und in „nationalen Containern“ verhandelt: Frankreich
       darf die europäischen Sparauflagen umgehen, um einen Krieg zu führen, nicht
       aber, um die Pariser Vororte, in denen sich Jugendliche radikalisiert
       haben, lebenswert zu machen. Griechenland darf Geld für Flüchtlinge
       ausgeben, muss jedoch Wohnungseigentümer, die ihre Kredite nicht bezahlen
       können, aus ihren Wohnungen werfen.
       
       Von gemeinsamer Regierung und gemeinsamem Budget, von Handlungsfähigkeit
       und Einheit gibt es weit und breit keine Spur. Ein undurchsichtiges und
       unklares europäisches Regieren – weitgehend ohne angemessene
       parlamentarische Kontrolle – und Zillionen von EU-Untergruppen und Formaten
       haben längst zu systematischem Rechtsbruch, Politikversagen,
       Vertrauensverlust und Populismus geführt. Das komplexe System EU ächzt
       unter Dysfunktionalität: In das Vakuum eines ineffizienten europäischen
       Maschinenraums sticht der verräterische Charme der nationalen Versuchung.
       Diese bietet zwar keine Lösungen, aber Fahnen, Symbole und den Versuch der
       Flucht in eine patriotische Ästhetik.
       
       ## Republikanisch sein
       
       Politische Kommunikation ist immer auch ästhetische Kommunikation. Das
       Ästhetische ist die „Machart“, in der sich das, was als politisch
       verstanden werden soll, zeigen muss. Allem voran hat EU-Europa als
       politische Form ihre Ästhetik verspielt: die hässliche Fratze der
       derzeitigen Krisen ist die Folge.
       
       Rückblickend wird man wahrscheinlich feststellen, dass die EU mangels
       politischer Ästhetik gescheitert ist: „Alles ist Sprache“, sagte einst die
       französische Psychoanalytikerin Françoise Dolto, die mit ihrer Forschung
       über die Bedeutung von Sprache berühmt geworden ist.
       
       Bei der EU ging es um einen Binnenmarkt, in den man sich nicht verlieben
       kann, wie es der langjährige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors
       formulierte. Es ging um ein System sui generis, das man nicht erklären
       konnte. Es ging um ein Regieren auf mehreren Ebenen ohne klare
       Kompetenzabgrenzung, um die Integration von Märkten ohne demokratische
       Einbettung, um europäische Einheit ohne bürgerliche Gleichheit.
       Bibliotheken wurden gefüllt, um das politische „Biest“ EU-Europa zu
       erklären.
       
       Es konnte nicht gelingen, denn es war in seinem Wesensgehalt nicht klar: Im
       Grunde war (und ist) EU-Europa die Missachtung sämtlicher
       demokratietheoretischer Fundamente, die die klügsten Autoren der
       politischen Ideengeschichte in Europa hervorgebracht haben.
       
       „Die bürgerliche Verfassung eines jeden Staates sollte republikanisch
       sein“, schrieb Immanuel Kant 1792. Die Republik ist seit Aristoteles und
       Cicero das ideengeschichtliche Kulturgut Europas, wann immer es um die
       Einigung von Bürgern zu einem politischen Gemeinwesen ging.
       
       Es ist an der Zeit, das auf Europa anzuwenden. Die res publica bezeichnet
       das öffentliche Gute, das Gemeinwohl. Nichts fehlt Europa heute mehr als
       das: Es geht nicht darum, Staaten zu integrieren, sondern darum, Bürger zu
       einen.
       
       Das postrevolutionäre, republikanische Erbe ist der allgemeine politische
       Gleichheitsgrundsatz. 1789 hat die Französische Revolution die politische
       Gleichheit jenseits von Klassen etabliert. Jetzt, im 21. Jahrhundert, muss
       das europäische Projekt auf der Gleichheit aller europäischen Bürger
       jenseits von Nationen beruhen.
       
       Europa muss vom Gleichheitsgrundsatz aller europäischen Bürger aus (neu)
       gedacht werden: Allem voran stehen die Wahlrechtsgleichheit und die
       Gleichheit vor Steuern. Wird das beherzigt, ist ein funktionierendes
       politisches System für ein einheitliches Europa schnell erdacht, bei dem –
       siehe Hallstein – die europäischen Regionen, nicht die Nationen, zu den
       konstitutionellen Trägern einer Europäischen Republik werden. Wenn Europa
       einmal seine augenblicklichen Schreckensjahre durchlaufen haben wird,
       sollte man sich daran erinnern.
       
       31 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrike Guérot
       
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