# taz.de -- Debatte Europäische Flüchtlingspolitik: Paradies hinterm Stacheldraht
       
       > Was an den südlichen Zugängen zur Europäischen Union geschieht, ist
       > letztendlich die Zersetzung eines Idealbildes von Europa.
       
 (IMG) Bild: Zeugnis einer Massenflucht: Zurückgelassene Rettungswesten am Strand der griechischen Insel Lesbos.
       
       Hunderttausende zur Wanderschaft durch Europa gezwungene Flüchtlinge haben
       im vergangenen Jahr Grenzen sichtbar werden lassen, die längst verschwunden
       geglaubt waren. In panischer Eile errichten die Staaten auf der sogenannten
       Balkanroute nun Zäune, bereitwillig geliefert von Viktor Orbáns Ungarn.
       
       Den kroatischen, italienischen und slowenischen Einwohnern, die im
       Dreiländereck der Halbinsel Istrien gegen die Errichtung des Zaunes
       protestieren, teilt die slowenische Regierung mit, es ginge vor allem
       darum, die Querung der grünen Grenze an für die Menschen gefährlichen Orten
       zu verhindern. Stacheldraht wird so in den Werkzeugkasten der Humanität
       integriert, gleich neben Vitamintabletten und wärmenden Decken. Willkommen
       in Europa.
       
       Denn was ist dieser beiläufige Zynismus anderes als die perfekte
       Verdichtung der Werte dieser Gemeinschaft, die in Flüchtlingen in erster
       Linie ein Sicherheitsproblem sehen will. Was an den südlichen Zugängen zur
       Europäischen Union und verschärfter noch des Schengenraums geschieht, ist
       die Zersetzung eines Idealbildes von Europa, die sich in einer immer enger
       werdenden Spirale beschleunigt. Die freizügige Gemeinschaft des Wohlstands,
       des Laisser-faire und nicht zuletzt des Friedens wird von seinen Dämonen
       heimgesucht: dem Misstrauen, der Angst und einem allgemeinen Säbelrasseln,
       dessen Klang nur zu bekannt ist.
       
       Autoritäre Populisten, die aus der Schule der europäischen Diktaturen des
       20. Jahrhunderts stammen könnten, haben Oberwasser; wenigstens hat sich
       noch kein ganz offener Faschist auf dem Boden der EU an eine Regierung
       geputscht. Und es ist beileibe nicht so, dass es nicht eine Menge Menschen
       gäbe, die einem solchen noch applaudierend den roten Teppich ausrollen
       würden.
       
       Denn was so vielen fehlt, ist die Repräsentanz der Macht, ein Souverän, der
       ihr kleines Paradies, so jämmerlich es auch sein mag, gegen die Angriffe
       von außen verteidigt. Dieser Wunsch, ein Außen, ein Innen, einen Kampf und
       einen Führer zu definieren, wird bedient von einer politischen Klasse, die
       nur in polizeilichem Jargon zu kommunizieren vermag und so den
       Erwartungsdruck an sich selber erhöht, die „Lage unter Kontrolle zu
       bringen“. Diese „Lage“ aber sind Menschen.
       
       Menschen, die „Europa“ beim Wort nehmen: Sie haben noch nicht gehört, wie
       sich das europäische Versprechen auf Freiheit, Sicherheit und Wohlstand
       immer dann in Luft aufzulösen scheint, wenn es Probleme gibt. Sie haben
       noch nicht gehört, dass sie das Problem sein sollen.
       
       Der Versuch der Grenzschließungen auf dem Balkan offenbart, dass die
       dortige politische Klasse einen ähnlichen Blick auf Europa hat wie die
       durchreisenden Flüchtlinge. Das Zentrum, der Souverän der Gesamtstruktur,
       wird eindeutig nördlich, in Brüssel vielleicht, auf jeden Fall aber in
       Berlin verortet. So wie die Menschen sich auf dieses Zentrum zubewegen, tun
       das auch administrative Räume.
       
       So wollen Länder wie Ungarn und Slowenien um nichts in der Welt in der
       Peripherie verbleiben. Da ihnen die physische Ortsveränderung verwehrt ist,
       bleibt ihnen zur Teilhabe nur die geografische Erweiterung des
       Machtbereichs des Souveräns zum Preis der Befestigung seiner Außengrenze.
       Der Stacheldrahtzaun dient dabei aus Sicht der Länder, die ihn errichten,
       nicht einmal primär der Abwehr der Flüchtlinge. Der Zaun wird gebaut, um
       die eigene Zugehörigkeit zum Zentrum zu markieren und innenpolitisch Stärke
       und Kontrolle zu signalisieren.
       
       ## Peripherie erster Klasse
       
       Der längst offensichtlich gewordenen ökonomischen Abhängigkeit vom Zentrum
       folgt damit auch die endgültige politische Unterwerfung, mithin der
       faktische Verbleib in der Peripherie, wenn auch einer Peripherie erster
       Klasse, mit Schengenvisum und Arbeitserlaubnis in den Zentrumsregionen. Es
       ist wie ein Stuhltanz, dessen Sieger schon am Anfang bestimmt, einfach
       sitzen bleibt, während die anderen darum kämpfen, es sich zu seinen Füßen
       bequem machen zu dürfen – auf Kosten derer, die nicht einmal zu diesem
       Spiel zugelassen sind. Deren einzige Hoffnung ist ein gnädiges Wort des
       Souveräns im Zentrum, eine willkürlich ausgesprochene Einladung, doch Platz
       zu nehmen.
       
       Das Machtgefälle zwischen Nord und Süd wird derweil mit übersteigerter
       nationalistischer Rhetorik kompensiert. Die Sehnsucht nach Repräsentanz der
       eigenen Stärke lässt sich nun einmal am besten in eingeübten kollektiven
       Ritualen erfüllen. Die Rückkehr der autoritären Nationalisten braucht
       niemanden zu verwundern.
       
       ## Kein Ausweg nach links
       
       Dass man jemanden wie Orbán gewähren lässt, wie er seine Idee der
       „illiberalen Demokratie“ in die Tat umsetzt, hat dabei wenig mit Respekt
       vor der staatlichen Souveränität Ungarns zu tun. Die EU mag nicht jeden
       Rechtsruck unmittelbar verursachen, eine Antwort auf die Schleifung ihrer
       Werte an der Peripherie hat sie jedoch nicht. Vielleicht wird diese Antwort
       auch gar nicht gesucht, denn: Wer Zäune bauen lässt, braucht Wachhunde.
       
       Das sind die starken Männer in der Peripherie, die mit markigen Worten nach
       innen die Illusion der Selbstständigkeit aufrechterhalten, letztlich aber
       nur ihrer Aufgabe nachkommen, das Gesamtgefüge zu stützen. Wird der
       Ausbruch in die andere Richtung versucht, wie mit dem linken Wahlsieg in
       Griechenland, wird schnell deutlich gemacht, wie wenig souverän die
       Aufmüpfigen sind, mithin eine Zwecklosigkeit der Beteiligung am
       demokratischen Prozess suggeriert.
       
       Dieser Prozess wirkt dabei ins Zentrum zurück. Europa als komplexes Gefüge
       voller Projektionen, Ansprüche und Machtsphären ist gar nicht in der Lage,
       seine Probleme dauerhaft in die Peripherie zu verbannen, egal ob sie
       ökonomischer, sozialer oder kultureller Natur sind. Hunderttausende zur
       Wanderschaft durch Europa gezwungene Flüchtlinge haben im vergangenen Jahr
       nicht zuletzt gezeigt, dass der Versuch scheitern muss, ein Paradies hinter
       Stacheldraht zu bauen. Denn was für ein Garten Eden soll das auch werden,
       an dessen von Höllenhunden bewachten Küsten die Leichen der Schutzsuchenden
       angespült werden?
       
       13 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniél Kretschmar
       
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