# taz.de -- Sammelband von Eike Geisel: Der Fremde ist eine Provokation
       
       > Erinnern sei in Deutschland die höchste Form des Vergessens, schrieb Eike
       > Geisel. Der Zusammenhang mit Fremdenhass lag für ihn auf der Hand.
       
 (IMG) Bild: In der Existenz des Fremden blitzten die Möglichkeiten des besseren Lebens auf. Weil man sich dessen Verfehlung nicht stellen will, ruft der Fremde Hass hervor.
       
       Der Fremde ist eine Provokation, weil er uns an das erinnert, was wir sein
       könnten, aber nicht sein dürfen. „Nicht verwachsen, verwurzelt, verankert,
       nicht in der Erde festgemauert und auf keiner Grundordnung stehend,
       demonstriert die Anwesenheit des Fremden in seiner je besonderen Gestalt
       die eingebüßten Chancen auf Freiheit“, schrieb Eike Geisel in seinem Band
       über das Berliner Scheunenviertel, der 1981 erschien.
       
       In der Existenz des Fremden blitzten die Möglichkeiten des besseren Lebens
       auf. In der Regel aber sei dieses „teilweise Glück“ des Fremdseins „ein
       ganzes Unglück. Selten, dass einer freiwillig zum Fremden wird, und selten,
       dass es ihm dabei gut geht“. Der Fremde, der Hass hervorruft, weil man sich
       der Verfehlung des Möglichen nicht stellen will, ist eines der zentralen
       Motive in Eike Geisels Werk, das sich der Lektüre Max Horkheimers, Theodor
       Adornos und Hannah Arendts verdankt.
       
       „Im Scheunenviertel“ lässt sich noch antiquarisch erwerben. Die Bände mit
       Essays und Polemiken Geisels sind vergriffen. Klaus Bittermann, der dem
       1997 verstorbenen Geisel freundschaftlich verbunden war, hat diesem Zustand
       im vergangenen Jahr ein Ende bereitet. Auf 464 Seiten sind unter dem Titel
       „Die Wiedergutwerdung der Deutschen“ eine Auswahl von Aufsätzen und
       Interventionen Geisels versammelt.
       
       Eike Geisel arbeitete nicht nur als freischaffender Historiker und
       Essayist, er war auch ein begnadeter und unerschrockener Polemiker. Sein
       Thema: der Umgang der deutschen Gesellschaft mit der „Endlösung“, die
       später „Holocaust“ genannt wurde oder noch harmloser zur „Vergangenheit“
       wurde, die es zu „bewältigen“ galt. Geisel zog es vor, das damit gemeinte
       Ereignis als Ermordung der europäischen Juden durch die Deutschen zu
       benennen – „eine Feststellung, die Opfer, Täter und Ort des Verbrechens
       genau bezeichnet“.
       
       Er schrieb für die Zeit, die taz und vor allem für Konkret. Oft scheuten
       Redakteure davor zurück, seine Texte zu drucken, die mal als zu bösartig,
       mal als zu kalt betrachtet wurden. Hermann Gremliza beschreibt Geisel in
       dem vor Kurzem erschienenen Dokumentarfilm „Triumph des guten Willens“ von
       Mikko Linnemann als einen der Autoren, deren Texte dazu dienten, die
       Auflage von Konkret zu senken.
       
       ## Fortgeschrittene Phase der neuen Erinnerungspolitik
       
       Als die deutsche Publizistik über „Schindlers Liste“ aus dem Häuschen
       geriet und in dem Fabrikanten gleich ein ganzes „anderes Deutschland“
       erblickte, schrieb Geisel: „Schindler war eine singuläre Erscheinung, eine
       Person, die im Wortsinn auf eigene Rechnung und auf eigenes Risiko
       gehandelt hat. Seine Landsleute hätten ihn denunziert, gehetzt und
       erschlagen. Auf den moralischen Gewinn seines Verhaltens hätte also niemand
       anderer Anspruch als er ganz allein.“
       
       Die Freude über „Schindlers Liste“ markierte eine fortgeschrittene Phase
       der neuen Erinnerungspolitik. Für seinen Band über das Scheunenviertel
       hatte Geisel noch Fotografien und zeitgenössische Texte versammelt, um die
       untergegangene Welt der aus dem Osten Europas geflüchteten Juden, die so
       arm waren, dass sie sich nur schäbige Zimmer in diesem Slum leisten
       konnten, dem Vergessen zu entreißen. In den Straßen dieses Viertels
       präsentiere der Nationalsozialismus sich als heimlicher Sieger der Epoche,
       schrieb Geisel: „Wenn verschwunden war, was irgend an sie erinnern konnte,
       dann waren die Umgebrachten mehr als tot, dann hatten sie nie gelebt.“
       
       Die Beweise, dass sich die Deutschen „resistent gegen jede Aufklärung über
       die eigene Vergangenheit“ zeigten, gingen Geisel nicht aus, wenn sich auch
       der Modus der Verdrängung änderte. Aus der in den Siebzigern keimenden
       Nostalgie fürs Alte wurde in den Achtzigern bald eine Erinnerungsoffensive,
       die laut Geisel zeigte, dass Erinnerung in Deutschland „die höchste Form
       des Vergessens“ darstelle: „Keine Gemeinde ist mehr ohne Judenreferent,
       jeder Sender hat seinen Vernichtungsexperten – die Nazis hätten sich die
       Finger nach so viel Fachleuten geleckt. Durch deren vereinigte Anstrengung
       gibt es zwar in der Bundesrepublik nicht weniger Antisemiten, nur weniger
       Arbeitslose.“
       
       Seine Beteiligung am „Schoahbusiness“, welcher man auch in aufklärerischer
       Absicht nicht entgehe, habe Geisel selbst nie in Abrede gestellt, hält
       Klaus Bittermann fest. Geisel fragte seinen Verleger, ob er nicht etwas
       über Henryk Broder und ihn schreiben wolle unter dem Titel „Die neue
       deutsch-jüdische Symbiose. Zwei Vernichtungsgewinnler“. Mit Broder
       arbeitete Geisel über die Geschichte des Jüdischen Kulturbunds. Beide
       griffen linken Antisemitismus an, den es laut linker Scholastik qua
       definitionem nicht geben kann.
       
       Manchmal erscheint die Schärfe seiner Formulierungen nicht gerecht, weil
       man beim Lesen zu spüren glaubt, dass eine Äußerung, die Geisel aus dem
       Zusammenhang reißt, wohl nicht so gemeint war, wie Geisel sie polemisch
       interpretiert. Geisel bediente sich gerne des Double Binds, den ihm die
       Paradoxien deutschen Verdrängungswesens selbst geliefert hatten. Denn wenn
       Vergessen und Erinnern nur zwei Seiten derselben Medaille waren, konnte
       auch die wohlmeinendste Geste zum Gegenstand einer scharfen Geisel’schen
       Bemerkung werden. Meist aber lag er nicht falsch.
       
       ## Das Wir als Willen zur Rückkehr in die Gemeinschaft
       
       Denn Geisel hatte ein ausgeprägtes Sensorium für die wiederkehrenden
       Versuche, das nationale Kollektiv nachträglich in Hitlers erstes Opfer zu
       verwandeln, und für den unbedingten Willen zur Rückkehr in den warmen Schoß
       einer Gemeinschaft. Er zitierte Max Horkheimer: „Immer wieder formulieren:
       das Schuldbekenntnis der Deutschen nach der Niederlage des
       Nationalsozialismus war ein famoses Verfahren, das völkische
       Gemeinschaftsempfinden in die Nachkriegsperiode hinüberzuretten. Das Wir zu
       bewahren war die Hauptsache.“
       
       Nach der Wiedervereinigung war dieses Wir wieder uneingeschränkt
       adressierbar. Als wenig später, im Golfkrieg von 1991, eine deutsche
       Friedensquerfront den Israelis erklärte, sie seien selber schuld, wenn
       ihnen Saddam Hussein mit Giftgas drohe, analysierte Geisel den neuen
       „moralischen Antisemitismus“ der Friedensbewegten als Ressentiment, das
       alle politischen Beweggründe abgestreift habe und nun den reinsten
       menschlichen Bedürfnissen entspringe. Die deutsche Wiedergutwerdung zeige
       sich nun als Banalität des Guten.
       
       Geisels Polemiken der Neunziger müssen vor dem Hintergrund sich
       radikalisierender rassistischer Gewalt gelesen werden, auf die Gesellschaft
       und Politik mit Lichterketten und der faktischen Abschaffung des Asylrechts
       reagierten. Invektiven gegen die Heroisierung der freundlichen Nazis vom
       20. Juli, gegen die „nationale Kranzabwurfstelle“ der Neuen Wache und das
       Holocaust-Mahnmal verschränkte er mit Verweisen auf „national befreite
       Zonen“ und die Pogrome in Hoyerswerda und anderswo. Das eine hatte für ihn
       mit dem anderen zu tun.
       
       Geisels Empathie lag bei den „kasernierten Elendsflüchtlingen“ der
       Asylantenheime, die er genauso nüchtern und unromantisch wie die jüdischen
       Bewohner des Scheunenviertels betrachtete. In den Flüchtenden und
       Wandernden, den Staatenlosen und Deportierten, deren Schicksal sich Geisel
       in Gestalt der Bewohner des Scheunenviertels widmete, schien ihm eine
       Zukunft auf, die potenziell über jeden hereinbrechen kann. Angesichts immer
       neuer „Asylpakete“, der Propaganda vom „Staatsversagen“ und dem Wunsch,
       Flüchtlinge doch am besten gleich zu erschießen, zeigt sich einmal mehr,
       wie recht er hatte.
       
       Vor 35 Jahren schrieb er über die Fremden aus dem Scheunenviertel: „An den
       Ostjuden wird frühzeitig vollstreckt, was die Völker vorgesehen haben als
       Strafe für die widerspenstige Eigenschaft, nicht in der überholten
       Dreieinigkeit von Territorium, Volk und Staat aufzugehen: als unerwünschte
       Minderheit, lästige Ausländer, rechtlose Fremde und verächtliche
       Staatenlose werden sie zum Strandgut der Epoche; schließlich wird der ganze
       Kontinent zum Totenschiff.“
       
       10 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Gutmair
       
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