# taz.de -- Insektenforscherin über Tschernobyl: „So was hatte ich noch nie gesehen“
       
       > Cornelia Hesse-Honegger zeichnete nach Tschernobyl mutierte Insekten. Von
       > Wissenschaftlern wurde sie dafür zunächst belächelt. Heute geben ihr
       > viele recht.
       
 (IMG) Bild: Die Zeichnung einer Wanze mit aufgeblasenem, schwammförmigem Auge. Gefunden von Cornelia Hesse-Honegger 1990 in der Schweiz
       
       taz: Frau Hesse-Honegger, Wanzen sind Ihre Lieblingstiere. Warum? 
       
       Cornelia Hesse-Honegger: Sie sind wunderschön und haben eine Vielzahl von
       Formen und Farben. Als naturwissenschaftliche Zeichnerin hatte ich mal
       einen Auftrag in der Meeresbiologie im Südpazifik. Dort waren alle Tiere
       schön bunt. Zurück in der Schweiz kam mir alles langweilig und grau vor.
       
       Und Wanzen sind so spannend? 
       
       Ich fragte einen Entomologie-Professor, ob er nicht tropische Insekten in
       seiner Sammlung zum Zeichnen für mich hätte. Der hat mir aber geantwortet:
       „Gehen Sie doch lieber raus in die Natur und finden etwas Lebendiges!“ Das
       habe ich getan und bin auf die Wanzen gestoßen. Das erste Exemplar habe ich
       1969 gemalt. Damals war ich 25 Jahre alt. Seitdem habe ich 17.000 Wanzen
       gesammelt.
       
       Wie kamen Sie dazu, mutierte Wanzen zu zeichnen? 
       
       Bereits 1967 zeichnete ich eine Zeit lang an der Universität Zürich
       mutierte Fliegen. Damals hat man die Insekten zu Forschungszwecken mit EMS
       vergiftet. Das ist so ähnlich wie Agent Orange. 1985 zeichnete ich erneut
       mutierte Laborfliegen, inzwischen nutzten die Forscher dafür jedoch
       Röntgenstrahlen.
       
       Wie sahen diese Fliegen aus? 
       
       Gruselig. Den Fliegen wuchsen Flügel aus den Augen oder Beine aus den
       Fühlern. Genau zu der Zeit, als ich diese Insekten malte, ereignete sich
       die Katastrophe von Tschernobyl. Ich dachte sofort, dass bald alle Tiere so
       wie die mutierten Fliegen im Labor aussehen könnten. Die Wissenschaftler
       vor Ort hielten das allerdings für eine sehr dumme Idee.
       
       Wieso? 
       
       Ihrer Meinung nach war die Strahlung in Europa viel zu niedrig, um
       überhaupt Mutationen hervorrufen zu können.
       
       Sie ließen sich davon nicht überzeugen? 
       
       Ich dachte: Wenn die das nicht erforschen, tue ich es halt. Außerdem war
       ich um die Umwelt besorgt. Ich wollte nach Schweden gehen und selbst
       nachsehen. Dort war der radioaktive Niederschlag sehr groß. Allerdings
       wartete ich die erste Generation nach Tschernobyl ab, weil ich annahm, dass
       die Elterngeneration wahrscheinlich noch keine morphologischen Schäden
       aufweisen würde. Deswegen ging ich 1987, ein Jahr nach dem Unfall, für drei
       Wochen dorthin.
       
       Was fanden Sie vor? 
       
       Als Erstes sind mir vor Ort die roten Pflanzen aufgefallen. Die haben unter
       der Bestrahlung ihre Farben gewechselt. Und dann habe ich sehr viele
       deformierte Wanzen gefunden. So etwas hatte ich zuvor noch nie gesehen,
       obwohl ich jahrelang etliche Exemplare gesammelt hatte. Ich hatte das
       Gefühl, etwas entdeckt zu haben, das unsere Welt auf dramatische Art
       verändert. Es war traumatisch.
       
       Beschreiben Sie den Moment, als Sie die erste Mutation vor Augen hatten. 
       
       Ich dachte: Bah, da ist es. Ich hatte angenommen, dass Tschernobyl einen
       Einfluss haben könnte, aber keine Vorstellung, wie der aussehen könnte. Als
       ich die erste missgebildete Wanze sah, wusste ich es. Sie hatte einen
       deformierten Fuß. So etwas hatte ich nie zuvor gesehen. Ich stellte mir
       vor, wie die Deformation im selben Maßstab bei einem Menschen aussehen
       würde. Nach der Entdeckung litt ich unter Alpträumen. Tschernobyl war ein
       eingreifendes Ereignis für mich.
       
       Wie ging es weiter? 
       
       Zu jedem Ort, an dem ich Wanzen sammelte, habe ich ein kleines Heft
       angelegt. Darin sind Zeichnungen, Karten und Protokolle. Es ist genau
       vermerkt, wo ich die Wanzen gefunden habe, welche Schädigungen sie hatten
       und wie hoch die Rate von Missbildungen war. 1989 veröffentlichte ich ein
       Buch über meine Feldforschung.
       
       Wie waren die Reaktionen auf die Veröffentlichung? 
       
       Man hielt mich für eine Spinnerin. Ich habe an keiner Universität mehr
       Arbeit bekommen. Kein Forscher in Europa wollte wahrhaben, dass schwache
       Strahlung so etwas tun kann. Biologen waren der Meinung, dass Insekten sehr
       stark bestrahlt werden müssen, bis es zu einer Mutation kommt.
       
       Wieso glaubte Ihnen niemand? 
       
       Man sagte, meine Forschungen seien unwissenschaftlich. Die von mir
       beobachteten Missbildungen müssten an irgendetwas anderem liegen, aber
       nicht an Radioaktivität. Ich war für viele einfach eine eigenartige Frau
       mit merkwürdigen Geschichten und komischen Lieblingstieren.
       
       Sehen Sie sich denn selber als Künstlerin oder Wissenschaftlerin? 
       
       Als Künstlerin. Aber auch die Kunst ist Forschungsarbeit. Sie hat nur
       andere Mittel als die Naturwissenschaften. Ich nutze das Malen als
       Forschungsmedium und setze mich sehr lange mit einem Tier auseinander.Für
       manche meiner Aquarelle brauche ich bis zu sieben Wochen.
       
       Welche Vorteile hat ein Künstler gegenüber einem Wissenschaftler? 
       
       Meine Wanzenbilder zeigen konkret, was wir Menschen der Natur und uns
       selber antun. Es ist die Aufgabe des Künstlers, das zu visualisieren, was
       man noch nicht sieht. Ausgelacht werden oder nicht anerkannt zu sein, ist
       demnach das Trauma des Künstlers.
       
       Wie gingen Sie mit dem Widerspruch der Wissenschaftler um? 
       
       Es war schwierig. Wenn man selber etwas merkt und alle widersprechen, kommt
       man ins Zweifeln: Vielleicht habe ich doch unrecht? Sind meine
       Beobachtungen falsch? Bin ich geistesgestört? Ich habe zum Glück
       weitergemacht. Meine Wahrnehmungen aus Schweden bestätigten sich später.
       
       Wodurch? 
       
       Ich forschte weiter und fand überall auf der Welt in belasteten Gebieten
       eine Vielzahl von Wanzen mit Deformationen. Und in Referenzbiotopen keine.
       Nach Fukushima haben sich außerdem japanische Wissenschaftler [1][auf meine
       Arbeiten bezogen]. Das Forscherteam fand dort deformierte Schmetterlinge.
       Die Bilder davon hat jeder [2][in den Zeitungen gesehen]. Auch sie kamen zu
       dem Schluss, dass schwache Strahlung zu Mutationen führen kann.
       
       1990 waren Sie in Tschernobyl. Wie war es dort? 
       
       In der Geisterstadt Prypjat konnten wir wegen der Strahlungsbelastung nur
       zehn Minuten bleiben. Außerhalb der Sperrzone war es grauenhaft: Die Leute
       vor Ort waren depressiv und verzweifelt. Sie wurden nicht evakuiert, sahen
       keine Zukunft und keinen Sinn darin, etwa Blumen auf den Balkon zu stellen.
       Es gab keine Messapparate – niemand wusste, wo die besonders stark
       verstrahlten Gebiete der Stadt waren und wohin sie ihre Kinder zum Spielen
       schicken sollten.
       
       Was ergab Ihre Forschung? 
       
       Die Tiere und Pflanzen waren stark geschädigt. Ich war mit einer Gruppe vor
       Ort und hatte leider nur sehr wenig Zeit. Dennoch bekam ich einige
       Feuerwanzen zusammen. Erstaunlicherweise habe ich dort jedoch nicht so
       viele mutierte Wanzen wie in Gebieten mit einer niedrigeren
       Strahlenbelastung gefunden. In Schweden etwa oder auch in der Umgebung von
       Atomkraftwerken in der Schweiz habe ich viel mehr Mutationen festgestellt.
       
       Schwer zu glauben. 
       
       Ich vermute, das liegt am sogenannten Petkau-Effekt. Der besagt, dass
       schwächere Strahlendosen über einen längeren Zeitraum eher genetische
       Schäden anrichten.
       
       Wo waren die Mutationsraten am höchsten? 
       
       In der Nähe von Aufbereitungsanlagen oder unfallfreien AKWs. Meine
       Forschungen führten mich immer näher an mein Zuhause heran: von La Hague in
       Frankreich nach Gundremmingen in Bayern bis in das Entlebuch-Tal in der
       Schweiz. Dort sah ich wirklich schlimme Dinge: eine Wanze, der Beinteile
       aus dem Bauch wuchsen, Augenpigmente, die quer über den Kopf verteilt
       waren, ungleich lange Flügel und Körper. Grauenhaft.
       
       Was leiten Sie aus Ihrer Forschung ab? 
       
       Mir wird schlecht, wenn ich darüber nachdenke, was wir unseren Kindern,
       Enkeln und Urenkeln antun. Womit die Folgegenerationen sich
       auseinandersetzen müssen, ist eine furchtbare Vision. Es macht mich
       wahnsinnig, wenn ohne Rücksicht auf Verluste Entscheidungen zugunsten von
       AKW-Betreibern getroffen werden. Sicherheit für den Menschen ist überhaupt
       kein Thema. Wir sind zu gutgläubig und müssen uns mehr einmischen.
       
       24 Apr 2016
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/cbdv.200800001/epdf
 (DIR) [2] /!5084918/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gareth Joswig
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Tschernobyl
 (DIR) Super-GAU
 (DIR) Atomenergie
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) zeitgenössische Kunst
 (DIR) Kunst
 (DIR) Tschernobyl
 (DIR) La Hague
 (DIR) Atomausstieg
 (DIR) Atomausstieg
 (DIR) Tschernobyl
 (DIR) Alexander Lukaschenko
 (DIR) Tschernobyl
 (DIR) Tschernobyl
 (DIR) AKW
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Ausstellung zum Thema Radioaktivität: Im Geist der Asse
       
       Das Kunstduo Saori Kaneko und Richard Welz beschäftigt sich mit den Risiken
       der Atomenergie. Ihre Arbeiten zeigt derzeit der Kunstverein Wolfenbüttel.
       
 (DIR) Katastrophen-Kunst in Hamburg: Bilder wie Marvel-Filme
       
       Wie sich ein neues Bildthema durchsetzte: die Ausstellung „Entfesselte
       Natur. Das Bild der Katastrophe seit 1600“ in der Hamburger Kunsthalle.
       
 (DIR) Schweden und die Folgen von Tschernobyl: Strahlende Schweine
       
       31 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sind schwedische
       Wildschweine noch radioaktiv. Das Fleisch ist zehnmal so belastet wie
       erlaubt.
       
 (DIR) Mangelnde Sicherheit in Atommüllhalde: Explosionsrisiken in La Hague
       
       In der Aufbereitungsanlage La Hague soll es Sicherheitsprobleme bei der
       Reinigung von Plutonium geben. Das geht aus Briefen hervor.
       
 (DIR) Abschaltung von AKW in Bayern: Spiel mit dem Risiko
       
       Siedewasserreaktoren sind gefährlich. Das Gundremminger AKW hat zwei –
       einer wird abgeschaltet. Doch was passiert mit dem anderen?
       
 (DIR) Tschernobyl: 30 Jahre danach: Noch lange nicht gelaufen
       
       Trotz der Entscheidung der Bundesregierung, die AKWs abzuschalten, gibt es
       keinen Grund, sich zurück zu lehnen. Denn viele Fragen sind noch offen.
       
 (DIR) Tschernobyl: 30 Jahre danach: Getrenntes Erinnern
       
       Tschernobyl ist für viele Menschen in Deutschland politisch besetzt. In
       Weißrussland und der Ukraine stehen soziale Folgen im Vordergrund.
       
 (DIR) 30 Jahre Tschernobyl: Verstrahlung in positivem Licht
       
       Die weißrussische Regierung will Menschen dazu bringen, in die belasteten
       Gebiete zu ziehen. Derweil steigt die Zahl von Krebserkrankungen.
       
 (DIR) Generation Tschernobyl: Die Cäsium-Zäsur
       
       Vom Sit-in in die Machtzentren. Früher Protest sann auf Revolution – heute
       sinnt er oft auf die Erhaltung der Welt. Tschernobyl hat alles geändert.
       
 (DIR) Strahlenforschung nach dem Atomgau: „Vergiftete Wissenschaft“
       
       Die Zusammenarbeit ukrainischer und russischer Strahlenforscher ist
       gestört. Auch die archivierten Daten sind nicht mehr für alle verfügbar.
       
 (DIR) Atomkraftwerke in der Ukraine: Angst vor einem neuen Tschernobyl
       
       Die Ukraine will ihre AKWs künftig aus wirtschaftlichen Gründen kurzfristig
       hoch- und runterfahren. Das halten sogar die Betreiber für gefährlich.
       
 (DIR) Gesundheitsschäden nach Atomunfällen: Nuklearer Gedächtnisschwund
       
       Krankheiten und Erbschäden: Die Ärztevereinigung IPPNW warnt davor, die
       Gesundheitsgefahren der Atomkraft zu verdrängen.
       
 (DIR) Tierpopulation im Katastrophengebiet: Die Hirsche von Tschernobyl
       
       Die Tierbestände rund um das Atomkraftwerk haben sich erholt. Teilweise
       gibt es dort nun sogar mehr Wild als vor dem Unglück.