# taz.de -- Generation Tschernobyl: Die Cäsium-Zäsur
       
       > Vom Sit-in in die Machtzentren. Früher Protest sann auf Revolution –
       > heute sinnt er oft auf die Erhaltung der Welt. Tschernobyl hat alles
       > geändert.
       
 (IMG) Bild: Protestkultur: Am zehnten Jahrestag der Reaktorkatastrophe versammeln sich Aktivisten vor dem AKW Gundremmingen
       
       Also, nicht etwa, dass ich ein Spezialist in „heutige Protestkulturen“
       wäre. Ich kann z.B. die heutige Antifa, die ja sicher dazu gehört, nicht
       aus wirklicher Kenntnis beurteilen; kenne aber zumindest die „alte“
       Protestkultur, die vortschernobylsche, ganz gut; war lange ein Teil von
       ihr; gehörte etwa zu den Leuten, die Ende der 60er Jahre dabei halfen, den
       ins deutsche Exil überwechselnden französischen Genossen Daniel Cohn-Bendit
       über eine Straßburger Rheinbrücke in die BRD zu importieren; hörte aber,
       anders als DCB, im Lauf der 70er auf, aktiv in organisierten Gruppen der
       „alten Protestkultur“ tätig zu sein; an der Verhinderung des Kernkraftwerks
       Wyhl war ich noch beteiligt, aber nicht an „vorderster Front“ wie zwischen
       den Jahren 1968 und 1971 im Freiburger SDS an der Uni.
       
       Von 1972-77 schrieb ich an der Dissertation, aus der das Buch
       „Männerphantasien“ wurde (eine psychoanalytische Faschismusanalyse);
       verheiratet, Hausmann und Vater; 1972 hat meine Frau unser erstes Kind
       geboren.
       
       Es sind hier zwei grundsätzliche Wahrnehmungen, denen ich nachgehen will.
       Die erste: Die heutige Protestkultur – soweit man sie unter ein solches
       generalisierendes Label bringen will – geht im Kern von Erhalt aus.
       Regenwald erhalten, Luftqualität erhalten, Lebensräume erhalten,
       Wasserreservoirs; Schadstoffe begrenzen, CO2-Ausstoß begrenzen; schädliche
       Energien begrenzen, erneuerbare fördern. Das Zentralvorhaben lässt sich gut
       unter dem Etikett „Schadensbegrenzung“ und „Einleitung von
       Heilungsprozessen“ fassen; alle Ziele sind positiv formulierbar.
       
       Im Hintergrund dabei – denn anders wird man die wahrgenommenen
       Bedrohlichkeiten nicht in den Griff kriegen – die Vorstellung von einer
       (endlich!) vernünftig agierenden Weltregierung; einem Konsortium
       herausragender Wissenschafts-Politiker, das auf der Grundlage aller
       verfügbaren Daten, Statistiken, Hochrechnungen, Materialanalysen der
       Atmosphäre und der Weltmeere, vom Erhalt des Grünbestands zu schweigen, die
       notwendigen Maßnahmen einleiten und durchsetzen wird – unterm Beifall der
       sich so vor der Globalkatastrophe zu rettenden Weltbevölkerung. Der
       „Protestanteil“ daran ist dabei von den Peripherien in die Machtzentren
       gewandert. Vom Widerstand in die Gesetzgebung.
       
       ## Glaube an die Revolution
       
       Die zweite: Die alte Protestkultur lebte primär von „Widerstand“ und von
       Umsturzforderungen. „Die Revolution“– selbst wenn man an ihre Möglichkeit
       für Deutschland nicht glaubte – war kein Hirngespinst; andere (andere
       Länder, andere Leute) würden sie hinbekommen; hatten sie hinbekommen. Cuba
       libre war ein Versprechen aus der realen Welt; politisch für hier
       abgerundet mit der Formel „Sex and Drugs and Rock'n’Roll“.
       
       Die eigene Lebensweise hatte dabei nicht „Erhalt“ zur Grundlage. Vielmehr
       drehte sich das Lebensgefühl um Entgrenzung, Verausgabung, Verschwendung
       und Übertretung. Wenn 1967 Velvet Underground die Nachdenklichkeit des
       Sunday Morning besingen konnten mit der Zeile: With all the wasted years so
       close behind (All die lässig verschwendeten Jahre im Genick oder im Gepäck)
       war das kein Vers des Bedauerns, im Gegenteil: eher ein Selbstlob. „Trau
       keinem über 30“ war keine Spaßparole.
       
       Viel älter selber zu werden, nahm man ohnehin nicht unbedingt an. Der
       fortdauernde Moloch Kapitalismus/Faschismus und seine wütenden
       Kolonialkriege würden einen vorher verschlingen. Aber: „Wer sich nicht
       wehrt, lebt verkehrt“. Wir „wehrten uns“, weitgehend ohne Rücksicht auf
       irgendwen oder irgendwas; auf uns selbst nicht, auch auf die nicht, mit
       denen wir zusammenlebten. Ob man diese Haltung ins tatsächlich
       Selbstmörderische durchziehen wollte – wie die RAF-Leute es dann taten –
       war die Frage, die sich im Lauf der 70er stellte. Von vielen (u.a. von
       mir/uns) wurde sie verneint.
       
       Was tat Tschernobyl 1986 für den Wechsel von der „alten“ zu einer „neuen“
       Protestkultur. Ich würde sagen: Alles.
       
       Tschernobyl sprengte die Grenzen in mehrfacher Hinsicht. Die
       Auseinandersetzungen um die Stationierung der Pershing-Raketen in der BRD
       waren eine Art Vorläufer. Die Drohung des Pershing-Einsatzes (mit nuklearen
       Sprengköpfen) tangierte viele Menschen über die üblichen Protestkreise
       hinaus. 300.000 Menschen machten sich 1981 auf nach Bonn zum bis dahin
       größten Protestauflauf. Es ging um reale Kriegsgefahr; selbst prominente
       SPDler marschierten mit gegen das Spiel ihres Chefs mit dem radioaktiven
       Feuer. Der Chef setzte sich durch, die Pershings wurden stationiert; die
       stationierten Raketen – da sie nicht flogen – verschwanden aus dem
       Alltagsbewusstsein. Wo der Alltag „sonst“ einigermaßen zufriedenstellend
       läuft, verfallen drohende Negativa der psychischen Abspaltung.
       
       ## Hyperobjekt Tschernobyl
       
       Tschernobyl aber tangierte nicht nur 300.000, die Reaktorkatastrophe
       tangierte Jede/n: ein „Hyperobjekt“ im Sinne von Timothy Morton.
       Hyperobjekte nennt er übergreifende Objektkonglomerate. Im „Hyperobjekt
       Tschernobyl“, ist nicht nur das Kernkraftwerk selber, sondern alle weiteren
       AKW’s, dazu der gesamte Luftraum über der Erde und die Fall-Out-Gefahr für
       alle Länder versammelt; das „Hyperobjekt“ konstruiert sich aus all diesen
       Dingen und Gegebenheiten sowie aus der gemeinsamen Angst potentiell aller
       Menschen des Erdballs vor radioaktiver Verstrahlung. Der neue Stand,
       schockartig, panikauslösend: „Das kann jetzt passieren ohne nukleare
       Raketen und H-Bomben-Abwurf“. „Das ist jetzt passiert“.
       
       Die Panikreaktionen Anfang Mai 1986: Hamsterkäufe von
       Prä-Tschernobyl-Konserven, Fertiggerichten, Bohnen, Kartoffeln, Reis,
       Baby-Nahrung. H-Milchverkäufe ungekannten Ausmaßes. Jodtabletten,
       Geigerzähler selbstverständlich. Cäsium 137: Keine Zeitung ohne
       Halbwertzeit-Tabellen und Windrichtungsangaben. Nie wieder Pilze! Absehbar
       allerdings: die Prätschernobyl-Vorräte würden irgendwann enden.
       
       Noch absehbarer die Halbwertzeit des Booms der Reisekataloge. Wo ist es
       sicher? Die Azoren? Kapverden? Patagonien? Die europäische Menschheit auf
       gepackten Koffern, Emigration nicht vor den Nazis, sondern vor den
       Kernkraftverbrechern. Die große Fluchtbewegung aus den reichen Ländern
       blieb aber aus; die Leute kühlten ab, Kenntnisse setzten sich durch: die
       Erde dreht sich, Luftmassen bewegen sich, unberechenbar. Der Regen mit den
       unsichtbaren Teilchen fällt wo er will. Und wo überhaupt stehen keine
       KKW’s?
       
       Die territorialen Fluchtphantasien brachen schnell zusammen. Das Gegenteil
       war zu tun: diese Dinger selber in die Flucht zu schlagen, also
       abzuschalten.
       
       Die Rolle der Lagerbildung 
       
       Und die alten Protestformen? Sahen in der Tat alt aus: Wie macht man ein
       Go-In gegen Kernkraftwerke. Bisschen rumdrehen an den Hebeln und das Ding
       still-legen? Die Arbeiter aufklären, an was für’nem Scheiß sie da arbeiten.
       Mit 'ner roten Fahne in der Linken, rechte Hand mit Flugblatt und
       Zeigefinger, wo’s gefälligst langgeht zur atomfreien Welt. No. Die lebten
       z. T. davon und wollten die Dinger behalten. Es ergab sich: Politische
       Lagerbildung mit festen Freund/Feind-Fronten, die bis dahin noch fast jede
       politische Protestaktion strukturiert hatten – ist lächerlich vor
       Atomkraftwerken.
       
       Die „Front“ verläuft durch alle; bzw. da ist gar keine. Da ist ein Bündel
       diverser und höchstdifferenzierter Problematiken, wo man ein- und demselben
       Typ in einem Punkt glühend „rechtgeben“ möchte und in einem anderen ebenso
       glühend widersprechen, vollkommen Wurst, zu welchen Parteigebilden oder
       Lagern die beiden sich, mehr oder weniger zufällig, das wurde jetzt egal,
       zählen.
       
       Was blieb und permanent blieb: alle sind betroffen, potentiell alle. Auch
       die größten Kernkraftbefürworter standen auf dem Wochenmarkt an nach
       unbelastetem Salat. „Das Leben auf der Erde“ zu retten, rutschte auf die
       Agenda auch der reaktionärsten Energiesäcke; immer unter der Versicherung,
       das AKW vor der eigenen Haustür sei aber absolut sicher! (Bloß die blöden
       Russen…! etc.) (Daß die USA mit Harrisburg eine gar nicht so unähnliche
       Leiche im Keller hatten, war in Europa eher überspielt worden; abgespalten;
       in Vergessenheit gelagert). Jetzt nun: Gefahr für die ganze Erde.
       
       ## Which side are you on?
       
       Für gewiefte Protestler war das allerdings nichts ganz Neues. Unter „mal
       kurz die Erde retten“ macht es ja kein ordentlicher Protest-Mensch; das ist
       das eher alte Lied; um „die Erde“ insgesamt ging es dauernd schon. „So oder
       so – die Erde wird rot“ hatte Wolf Biermann gesungen, „entweder lebend rot
       oder tot rot“; sollte heißen, politisch rot, also „geheilt“ – oder blutrot,
       also „sterbend“ in faschistischem Untergang. Logische Folge im Lied: „Wir
       mischen uns da’n bisschen ein…So soll es sein. So wird es sein“. Nebbich
       wurde es so. Tschernobyl machte Schluss mit dieser Sorte Einmischung.
       
       Sie – die alte Kultur der Protestbewegungen – basierte auf Lagerbildung mit
       spezifischen Protestformen: Which side are you on…und kommst du
       (gefälligst) zur nächsten Aktion „gegen (…XXX!!!)“; denn: sind wir erst mal
       VIELE, sind wir erst mal ALLE (= Die ganze Erde uns und kein Stück unseren
       Feinden, wie der griechische Weltoberaktivist Mikis Theodorakis
       formulierte), dann „Wenn wir erst mal alle richtig organisiert sind im
       richtigen Lager“: …“Ja, was dann?“ „Wird sich dann schon zeigen; lauter
       richtige Leute auf dem richtigen Haufen werden schon das Richtige tun.
       Räterepublik usw.“ Aber erst mal: Go-In, Sit-In, Teach-In, Aufmarsch,
       Agitation, Flagge zeigen, Platz besetzen, Raum besetzen, Feind raussetzen
       und vertreiben, selbst reinsetzen und darauf achten, daß der (unerläßliche)
       Drogengebrauch nicht von professionellen Dealern gesteuert und befeuert
       wird.
       
       Bloß: nachdem langsam durchgesickert war, was die Roten Brigaden in Maos
       China und die Roten Khmer in Kambodscha veranstaltet hatten, war das nicht
       mehr so einfach mit dem: „Werden wir dann schon sehen“. Millionen Tote
       lagen da und sahen nicht mehr viel. So oder so: die Erde war rot, und oft
       auf beide Weisen; auf ungeahnte Weisen dazu.
       
       Und nun? Manche bockten immer noch mit Lenin rum: Was tun?? (Die K-Gruppler
       zähle ich nicht zu den Protestlern. Die herrschten schon in ihren
       ML-Staaten. Wie peinlich auch, wenn später, einige Jahre nach Tschernobyl,
       in den Westen exilierte deutsche Ost-Linke darauf beharrten, dass es ja in
       der DDR „nicht ganz so schlimm“ gewesen war.) Wer unter den organisierten
       Linken in diesen Jahren war kein Arschloch? Ich kenne nur wenige.
       
       Die Überfoderung der Einzelnen 
       
       Die Sachlage verschob sich. Das Ding mit dem „Viele-Sein“ war nicht
       erledigt, die Form der Organisation dieser potentiell Vielen aber durchaus.
       Aus den Problemlagen Kernkraft, globale Erwärmung, CO2-Ausstoß ergibt sich
       nicht nur der Wunsch, es ergibt sich die Notwendigkeit, möglichst VIELE
       (sowohl Einzelmenschen wie Staaten) an den erstrebten Lösungen zu
       beteiligen; einfach weil sonst nichts passiert. Keine einzelne Gruppierung,
       kein einzelner Staat, kein noch so genialer Einzeldenker ist in der Lage,
       diese Dinge zu lösen; selbst eine generelle „Richtung“ der Lösungen
       anzugeben, überfordert jede Einzelkraft.
       
       Und hätte ein Einzelner tatsächlich die Lösung – was würde geschehen? Sie
       oder er würden nicht einmal ausgelacht, sie würden gar nicht gehört, wenn
       nicht eine große Anzahl von Kräften, Bedingungen, Organisationen, Medien,
       Ländern sie oder ihn unterstützten und den wissenden Wörtern die
       notwendigen Bühnen und Entscheidungsebenen verschafften. Dieser Umstand
       läßt sich aktuell besonders im Umgang mit den diversen
       Flüchtlingsbewegungen auf der Welt studieren: Die alte „Lösung“, Länder in
       den Rang von Schurkenstaaten zu versetzen – die Lagerlösung also – ist
       prinzipiell passé.
       
       Es wird noch viel schlimmerer Deals als die momentanen mit Erdogan und den
       Saudis geben, bevor solche mehr oder weniger despotisch regierten Länder
       sich bereitfinden werden, den CO2-Ausstoß und die globale Erwärmung
       überhaupt als Problem anzuerkennen. (Das Verhalten der AfDler und von
       Pegida ist reine Vogel-Strauß-Politik: Kopf in den Sand vor dem, was kommt
       und sich selbst betäuben mit wissentlich beknackten Parolen). Es gibt
       allerdings eine neue politische (nicht: ökonomische) Tendenz zurück zur
       Lagerbildung. Das amerikanische Militär, Putin und östliche Teile der EU
       arbeiten massiv daran. (Daß man den amerikanischen Imperialismus ablehnt,
       ist noch lange kein Grund, zum „Putinversteher“ zu mutieren. An der Spitze
       aller weltpolitischen Großsysteme agieren Großverbrecher, was glaubt ihr
       denn?)
       
       Fukushima potenziert Tschernobyl 
       
       Aber: man kann sie mildern. Man kann sie sogar einspannen für Dinge, die
       ganz und gar deren Absichten und Plänen zuwiderlaufen. Nach Tschernobyl ist
       Fukushima der entscheidende Einschnitt. Fukushima hat Tschernobyl nicht nur
       in Erinnerung gerufen; es hat die Auswirkungen von Tschernobyl potenziert;
       jedenfalls in Deutschland. Ob Kanzlerin Merkel tatsächlich zur
       Kernkraft-Gegnerin mutierte oder nicht, ist dafür belanglos.2 Sie kann
       lesen, unter anderem Umfragen unter Wählern. Diese sagten nach Fukushima,
       dass die deutsche Wählermenschheit auf dem Weg war, „den Grünen“ bundesweit
       20 Prozent oder mehr der Stimmen zu geben; woraufhin eine
       Politikprofessionelle handelt: Abwahl oder sich an die Spitze „der
       Bewegung“ setzen; sie tat, wie wir wissen, zweites; erfolgreich. Um später
       (mit Hilfe des sozialdemokratischen Handlangers Gabriel) die Versprechen
       wieder zurückzubauen. Prinzipiell aber waren politische Prozesse im Sinne
       der Protestkultur aus den Machtzentren heraus zu bewegen.
       
       Das war vorher nicht so. Selbstverständlich wussten wir, daß unsere Demos
       den Vietnamkrieg nicht beenden würden. Ziel der Demos war, Leute zu
       mobilisieren; sie auf die Straße zu bringen für die gerechte Sache
       Antikolonialismus. Durch die massenhafte Anwesenheit auf der Straße den
       Leuten zu zeigen, dass die „radikale Minderheit“ (= die stehende Formel der
       Presse, nicht nur der Bild) für demonstrierende Studenten, ganz so klein
       nicht war und dass sie – die Leute – die Chance hätten, sich anzuschließen.
       Sprechchor: „Bürger runter vom Balkon/unterstützt den Vietcong“. Primäres
       Ziel: uns selbst zu stärken. Uns dabei zu vermehren. Und klar zu machen:
       die BRD unterstützt den US-Imperialismus. Willy Brandt unterstützt den
       Vietnamkrieg. Die Antwort, die wir in der Regel erhielten: „Geht doch nach
       drüben!“
       
       Der alte Protest und die Herrschaften 
       
       Keinen Moment auch dachten wir 1968, wir könnten die Notstandsgesetze
       verhindern. Wir konnten 80.000 Leute auf die Beine und nach Bonn bringen;
       und waren stolz, dass Heinrich Böll und Erich Fried mitgingen bzw.
       mithinkten. Aber die Gesetze verhindern? Es war allen absolut klar, dass
       allein die Tatsache, dass die studentischen „Radikalinskis“ gegen etwas
       waren, mit absoluter Sicherheit bedeutete, dass die Bonner
       Herrschaftscliquen es nun erst recht durchsetzen wollen würden.
       „Diskutiert“ mit denen wurde nichts davon. Die Herrschaften sprachen nicht
       mit uns. Ein liberaler FDPler, Ralf Dahrendorf, ließ sich einmal herab zu
       einer Diskussion mit Rudi Dutschke per Megafon auf der Kühlerhaube eines
       Autos vor der Freiburger Stadthalle bei einem FDP-Kongress.
       
       Das Ziel unserer Aktionen war „Bewusstsein schaffen. Und nicht, das
       genannte „Ziel“ auch durchzusetzen. Aber: Augen öffnen. Blicke auf die
       Nazigeschichte eröffnen. Ist die BRD eine Fortsetzung des NS-Staats? Diese
       ernsten – aber doch (eigentlich!) sehr bescheidenen Fragen und Ansprüche –
       brachten das herrschende Bonn zur Weißglut. SPD eingeschlossen.
       
       Unser Gefühl: die würden uns alle – wenn sie nur könnten – auf der Stelle
       ins KZ stecken. Nächtliche Kneipenparanoia? Die Ansicht, die sog.
       „Paranoiker“ seien einerseits zwar krank, andererseits würden sie (oft)
       tatsächlich verfolgt, gewann an Anhängern. Für mich persönlich war nur
       Herbert Wehner, der Altkommunist mit Anti-Nazi-Geschichte, der Garant im
       Bonner Bundestag, dass das schließlich nicht geschehen würde. Solange der
       grantige Straußfeind Wehner da herumknarzte, kämen wir nicht ins Lager.
       
       ## Überrante Schranken
       
       Das Leben aber läuft – wenn es läuft – auf mehreren Schienen. Gleichzeitig
       mit der Proklamation von Zielen wie „Räterepublik“ wurde das Leben, wie es
       in Deutschland gelebt wurde, verändert. Wenn Studenten um 1970 nach 10 bis
       12 Semestern ihre Abschlussarbeit ablieferten, hatten sie etliche Jahre
       weitgehend unkontrollierten Lebens hinter sich. Zwischenprüfungen? Waren
       nicht vorhanden oder Formsache. Jedenfalls in den sog.
       Geisteswissenschaften. Der Ablauf des Studiums war in der Tat vollkommen
       frei. Eine unglaubliche Freiheit, die Studenten der 60er Jahre offen stand.
       Drei, vier ordentliche Seminararbeiten in zwei Fächern abliefern und dann
       zum Examen. Die übrige Zeit stand für Unsinn zur Verfügung, also Kino,
       Liebe, politische Aktion. Flippern, Fußball, Musik und jede Nacht Kneipe.
       Regelstudienzeit 10 bis 12 Semester, für viele länger. Aus alldem
       resultierte die vielleicht bedeutendste Erfindung der 68er: die WG.
       
       Stand es bis Mitte der 60er noch unter Strafe, einen Körper des „anderen“
       Geschlechts in das eigene Studentenzimmer nächtlichs mitzunehmen – selbst
       die Studentenwohnheime hatten streng nach Geschlecht getrennte Stockwerke –
       waren bis 1968 alle Schranken dieser Art aus dem Weg geräumt: durch
       einfaches Überrennen. Ab 1968 wohnten Studenten, wo immer es ihnen gelang,
       entsprechenden Wohnraum zu ergattern, gemischt in WG’s. Und veränderten vor
       allem eins: Lebensformen.
       
       Aus dieser – staatlicherseits völlig unregulierbaren Verhaltensrevolution –
       resultierte die bedeutendste politische Bewegung der 70er, die
       Frauenbewegung. Die alte Protestkultur wurde von ihr besonders in jenem
       Punkt verändert, der auf eine reale Durchsetzung im Bundesparlament zielte:
       die Abschaffung des Paragraph 218. Dafür plädierte nicht nur die neue
       „Emma“, auch etablierte Massenmagazine wie der Stern konnten eingespannt
       werden. Der Beschluss aber musste im Bundestag fallen, per Gesetz. Die
       Parlamentspräsidentin Rita Süßmuth wechselte das Lager (von der CDU zur
       Frauenbewegung) und befürwortete die Abtreibungsfreigabe. Mein Körper
       gehört mir – die allererfolgreichste Parole dieser Jahre.
       
       Sie ergriff nicht nur „Feministinnen“; erstmals war ein Problem auf der
       Tagesordnung politischen Protests, das nicht mehr eine so oder so gelagerte
       Minderheit betraf, sondern im Prinzip alle Frauen; die Hälfte der
       Bevölkerung des eigenen Lands wie der ganzen Welt. Dazu mit der (für
       bestimmte Länder) realen Durchsetzung eines konkreten Ziels. Hier: Erstes
       Ende des APO-Denkens. Während Hausbesetzer immer wussten, eines Tages
       würden sie vertrieben werden aus dem, was sie sich erobert hatten; so wie
       die RAFler wussten, eines Tages werden sie vor Polizeikugeln enden oder in
       einem Hochsicherheitstrakt.
       
       ## Der Häuserkampf
       
       Die 70er und frühen 80er waren bestimmt von Häuserkampf, Hausbesetzungen
       und Schaffen linksalternativer Szenarien – betrieben in Aktionen, die im
       Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuchs meist illegal waren oder an Illegalität
       grenzten. Auch der Haschrebell residierte im Illegalen (mit Vergnügen).
       Zerstörung bzw. „Überwindung“ bürgerlicher Lebensformen dominierte die
       Denk- und Gefühlsvorgänge. Übertretungen, Gesetzesverletzungen,
       Herausforderung der sog. Ordnungsmächte als Selbstverständlichkeit.
       Richtung, immer: von der Peripherie gegens Zentrum, gegen die Machtzentren.
       Besetzungen, Blockaden, Institutseroberungen: Schaffung befreiter Zonen mit
       eigener Verhaltensregelung. Ideelle Grundpfeiler: Internationalismus,
       Anti-Kolonialismus, Anti-Imperialismus; Gleichheit der beteiligten
       Einzelnen. Keine Macht für Niemand. Handlungsvorgaben: global denken, lokal
       handeln. Weitgehende Unabhängigkeit jeweiliger lokaler Gruppen. Keine
       Zentralen mit direktiven Kompetenzen. Gegenüber den Ansprüchen herrschender
       Zentralmächte: Verweigerung. Nicht einsteigen in das gesellschaftliche
       Hamsterrad der Etablierten. Nicht mitsingen im rat race choir, wie das bei
       Bob Dylan hieß.
       
       ## Der lange Marsch zur Pensionsberechtigung
       
       Den anderen möglichen Weg, Dutschkes „Langen Marsch durch die
       Institutionen“ konterte die Brandt-Regierung durch die Berufsverbote.
       Dennoch fand sich ein Großteil der Protestler im Schuldienst wieder. Auf
       dem langen Marsch zur Pensionsberechtigung wurde gewiss eine Menge
       rebellischen Gedankenguts unter die SchülerInnenmenschheit gebracht; in
       beamtenmöglicher Form, versteht sich. Prinzipielle Gleichheit lässt sich
       allerdings auch von da gut lehren. Und auch vom Parlament aus: erste Grüne
       im Bundestag 1983.
       
       Außer durch die Frauenbewegung hatte sich das Protestwesen in den 70ern
       auch mit der Ausbreitung von Bürgerinitiativen (BI’s) zu verändern
       begonnen. Nicht zufällig entstanden diese zuerst im Zusammenhang mit der
       Anti-Kernkraft-Bewegung. Bürgerinitiativen verlangen reale Einflussnahme,
       nicht unbedingt Systemveränderungen. Sie arbeiten innerhalb bestehender
       Herrschaftssysteme. Sie postulieren klar erreichbare Ziele: KKW Wyhl nicht
       bauen! (Und Wyhl wurde nicht gebaut, weil nicht nur linke Studenten da
       agierten, sondern große Teile der Kaiserstühler Weinbauern – traditionelle
       CDU-Wähler – mitmachten). Brokdorf nicht bauen! Atomabfall nicht in
       Gorleben lagern. 100.000 Bürger finden sich ein in Gorleben im März 1979.
       Proklamation der „Republik Freies Wendland“. Sie sind Vorläufer dessen, was
       im großen Maßstab erst nach Tschernobyl passiert.
       
       ## Relikte der alten Protestkultur
       
       Was machen die alten Protestformen heute? Verschwunden sind sie nicht. Die
       Ostermarschierer (Gott hab sie selig) summierten sich 2016 bundesweit
       jedoch nur zu ca. 15.000 Leutchen. Etwa die gleiche Anzahl
       Junggesellen-Abschieds-BegeherInnen dürften am selben Wochenende mit ihren
       etwas anderen Anliegen auf deutschen Straßen unterwegs gewesen sein. Ihnen
       stellt sich eine andere Frage; eine, die sich jedoch auch allen andern
       stellt: was konsumieren wir (beim Feiern) und auch sonst.
       
       Selbstverständlich sind auch vegane und andere Bio-Menschen unter denen,
       die sich oder ihre FreundInnen feiernd vom Single-Zustand verabschieden;
       Raucher- und Nichtqualmer; Radfahrer und Luftverpester; Schwein- und
       Anti-Schwein-Verzehrer. Solche Auseinandersetzungen um alltägliche
       Verhaltensdifferenzen sind, denke ich, ebenso unter „Wandel der
       Protestkultur“ zu verbuchen.
       
       Denn der politische Protest ist nicht nur, einerseits, von der Peripherie
       auf Regierungsebenen gewandert. Er drängt nicht nur nach oben, von der
       Marginalität hinein in die Machtzentren, um von dort „den Weltzustand“
       wirksam zu verändern. Die Haltung des politischen Protests hat sich auch
       „nach unten“ verändert und erweitert, nämlich zu Fragen des Konsums und des
       alltäglichen Verhaltens in allen Lebenslagen.
       
       Freund Daniel Fetzner, der vor ein paar Tagen im ICE zufällig in meinem
       Abteil landet, sagt schlicht: „Jeder Einkaufsakt ist heute tendenziell ein
       Akt des Protests“, und zwar durch alle Altersklassen und
       Gesellschaftsschichten hindurch. Nämlich: „Kaufe ich Bio, verzichte ich auf
       Fleisch, aufs Auto und auf Flugreisen, kaufe ich Hanf statt Polyester,
       nutze ich Wind- und Solarenergie etc. etc.“; sind massenhaft verbreitete
       Fragen und Verhaltenskorrektive. Sie äußern sich nicht in Sit-Ins vor dem
       Supermarkt, dem städtischen Energieversorger oder dem Reisebüro, sondern in
       der Stimmabgabe des eigenen Geldausgebens. These: „Jeder Konsumakt ist ein
       potentieller Protestakt“. In den 70ern war Konsum des Teufels; hieß: dem
       Bestechungsangebot des Kapitals erliegen.
       
       ## Unterstützender Protest „von unten“
       
       Heute heißt es: konsumieren durchaus, aber nachhaltig, ökologisch. Nur
       „Verzicht“ zu predigen, schwächt die Ökonomien. Der Biobauer soll gut
       verdienen. Das ist unterstützender „Protest unten“, aber nicht nur „von
       unten“, sondern praktiziert durch alle sozialen Schichten hindurch.3 Heißt:
       Protest heute zielt auf Bereiche und geschieht vielfach in Aktionen, die
       nicht durch Polizeieinsätze zu beenden sind; solche, die nicht einmal
       wahrnehmbar sind für Polizeien; parallel zur Erfindung der WG’s Ende der
       60er.
       
       Vor Allem: dies sind letztlich klare Folgen von Tschernobyl, da
       zusammenfassbar unter den Etiketten: „Sauberer“ (=unvergiftet) und
       „Gesünder“. Diese Label liefern 2016 im weinfreundlich naturverbundenen
       Baden-Württemberg die 30 Prozent Wählerstimmen für Grüne; die nicht möglich
       wären ohne einen gehörigen Anteil abgewanderter CDU-Wähler sowie frisch
       aktivierter notorischer Nichtwähler. Der politische „Protest“ hat sich
       gedreht ins Allgemeine auf Entgiftung, Gesundheit und Nachhaltigkeit,
       praktizierbar von Allen, politisch abgeschöpft von einem geschickten grünen
       Leader; das beschert ihm eine 30 Prozent-Basis im „Ländle“. Nicht nur das
       Essen, auch die Luft und die Arzneimittel sollen pflanzlicher, ungiftiger,
       kurz gesünder sein. Rechtzeitig protestieren gegen ein Leben als
       verstrahlte(r) Alte(r); als Pflegedienstopfer. Breiter Konsens.
       
       Konnten „wir“ alten Protestler kaum ein Leben jenseits der 30 imaginieren,
       projiziert sich die heutige Population aller Altersklassen als gesund mit
       90 (aktiver Freizeitfußball jenseits der 70). Vorausgesetzt die
       Totalkatastrophe kann abgewendet werden!
       
       ## Vom Protest in die Zentren der Macht
       
       Die „Protestschicht oben“ sieht sich zwar heute als wirksam vor allem da,
       wo sie aus den Zentren der politischen Macht heraus agieren kann (Habeck
       u.a.). Aber sie nutzt die „Basis unten“ dafür. Grüne Vordenker aller Art
       wollen in die Regierungen, auf Teufel komm raus. Das geht so weit, dass
       z.B. prominente Autoren der taz nichts dabei finden, in Wahlkampfzeiten die
       Zeitung offen als Propagandablättchen für bevorzugte Kandidaten in Stellung
       zu bringen. Bei manchen Artikeln fragt man sich, ob man sie nicht gleich
       als Bewerbungsschreiben für das Amt von Regierungssprechern lesen sollte.
       (Die Zukunft wird’s erweisen). Aber ich bewerte das (hier) ausdrücklich
       nicht. Die alte Protestkultur würde sagen: „Auf den Hund gekommen, die
       Leute. Verräter!“
       
       Die politische Bewegungsrichtung von „Protest“ in die Zentren gibt es aber
       nicht nur hier und nicht nur in diesen Punkten. In Uruguay hat es ein
       Ex-Tupamaro zum Staatschef gebracht. Länder, die vor einigen Jahren noch
       Marihuanabesitz mit Gefängnis bestraften, geben es mittlerweile frei.
       Zentrale Inhalte der alten Protestkultur werden zu akzeptierten Teilen der
       Allgemeinkultur; und nicht nur der „progressiven“. Auch Pegida schluckt
       Drogen, nicht nur flüssige.
       
       ## Fortschreitende Sozialdemokratisierung
       
       Zitat: Das Land hat sich sozialdemokratisiert. Vom Arbeitsrecht über die
       Staatsbürgerschaftsdinge bis zum Partnerschaftsverständnis, der Bildung und
       dem Verbraucherschutz gelten heute Normen, Werte und Verhaltensweisen als
       weitgehend akzeptiert, die noch in den Achtzigerjahren typisch für das
       leicht linksbürgerliche Milieu waren, aus denen sich die SPD speiste,
       nachdem sie den Charakter als Arbeiterpartei schon deutlich vorher verloren
       hatte. Das sozialdemokratische Gefühl hat sich so sehr ausgebreitet, dass
       es eben nicht mehr einer Partei zugeschrieben wird. Selbst die CSU hat
       ihren Widerstand gegen die Schwulenehe oder den Mindestlohn aufgegeben. Und
       niemand macht eine sozialdemokratischere Flüchtlingspolitik als Angela
       Merkel (Kurt Kister in der SZ vom 12. April 16)
       
       Das heißt, die Leute wählen SPD, indem sie SPD nicht mehr wählen. Sie
       wählen sozialdemokratisch, indem sie andere Parteien wählen, CDU, Grüne,
       FDP, Linkspartei (die sich besonders viel darauf zu Gute hält, die besseren
       Sozialdemokraten in ihren Reihen zu haben). Die Linkspartei betrifft dabei,
       was den Verlust von Wählerstimmen angeht, ein ähnlich bitteres Schicksal
       wie die Partei-SPDler. Wahlanalysen ergeben, dass ein gehöriger Anteil
       Linksparteiwähler aus sog. Protestwählern bestand.
       
       Indem die Linkspartei auf der Schiene der allgemeinen
       Sozialdemokratisierung den Ruch der „Anti-Partei“ mehr und mehr loswird,
       wird sie für Protestwähler unattraktiv; die gingen jetzt – überwiegend –
       zur AfD; der neuen Schmutzpartei, die nun das Spektrum „Protest“ von rechts
       her besetzt. „Protestformen von rechts“ sind eine neue Entwicklung. Je mehr
       Grüne und Linksliberale sich in Regierungsgefilden bewegen, desto stärker
       wächst (sozusagen naturwüchsig) eine rechte Protestkultur.
       
       ## Die rechte Protestkultur
       
       Das hat nichts mit „Fehlern“ etwa zu tun, die SPD oder Linkspartei in den
       Wahlkämpfen gemacht hätten; und auch nichts mit deren Parteiprogrammen. Die
       SPD geht zugrunde am Erfolg ihres politischen Denkens. Bitter, vielleicht
       sogar „tragisch“ (vor allem für Parteifunktionäre; wie sehr müssen sie
       drunter leiden, keine attraktivere Figur an ihre Spitze hieven zu können,
       als den Erzengel Gabriel.)
       
       Ein anderer neuer Umstand kommt ins Spiel beim Terminus „rechte
       Protestkultur“. Sie tritt auf in einigen Städten mit großem rechtem
       Potential, wie (aus welchen Gründen immer) Dresden. Für den Rest des Landes
       ist sie wahrnehmbar und präsent vor allem über die neuen elektronischen
       Technologien; übers „Netz“. Die Möglichkeit propagandistischer
       Selbstvervielfältigung übers Internet ist generell massiv unterschätzt
       worden; auch von denen, die sie jetzt massiv nutzen. Unterschätzt wurde die
       Macht des medialen Worts.
       
       Was auf dem Monitor zu Hause oder auf dem eigenen Smartphone erscheint, hat
       keine geringere Autorität wie die Rede von Nachrichtensprechern im TV oder
       das gedruckte Wort überregionaler Tageszeitungen. Im Gegenteil: die Rede
       von der „Lügenpresse“ bezieht ihre Glaubwürdigkeit vor allem aus dem dieser
       Presse entgegengehaltenen Wort oder Bild aus den selbstbestückten
       elektronischen Medien der rechten „Gegenkultur“. Sie ist im Moment dabei,
       diesen Zentralbegriff der linken Kultur der 70er zu kapern und für sich zu
       aktivieren.
       
       ## Protest aus Verantwortung
       
       Andererseits: Die deutsche Gesellschaft tickt viel offener, sozialer und
       ökologischer, als es sich die CDU und mancher Grüne vorstellen, sagt Herr
       Kretschmann (laut taz) und setzt auf „ökologische Modernisierung sowie
       Prosperität“; ersteres von beiden war auch ein Ziel des alten politischen
       Protests; jetzt Programm in einer Landesregierung. „Auch auf Umwegen kommt
       man ans Ziel“ (Kretschmann); das war nicht der Weg der alten Protestkultur:
       We want the world and we want it now!
       
       Die Stimmung der Protagonisten in Armin Petras Inszenierung von Frank
       Witzels RAF-Roman an der Berliner Schaubühne beschreibt Peter Laudenbach
       mit den Worten: Funktionstüchtig für die Erwachsenenwelt zu werden, ist so
       ziemlich das Letzte, was sie sich wünschen. „Wachsen heißt sterben, und vor
       dem Sterben gibt es Nachsitzen und Strafarbeiten. (SZ, 12.4.16) Der ‚obere‘
       Teil der neuen Protestkultur hat genau das bzw. das Gegenteil im Sinn:
       „Erwachsenwerden“, „Verantwortung übernehmen“, „Konzepte entwickeln“, sie
       durchsetzen. Die Protestkultur von oben will die Welt verändern, nachhaltig
       (=retten), ohne Nachsitzen und Strafarbeiten. Die Gesellschaft,
       mehrheitlich sozialdemokratisch geworden, schließt sich, scheint es, zu
       großen Teilen, an. Lagerdenken? Nein, danke.
       
       ## Todesstoß für die sexuelle Revolution
       
       Ach ja: Die Sexualität hatte auch mit dabei sein sollen bei den
       allmenschlichen Bewegungen zur kommenden Befreiung. „In den 60ern glaubte
       man an die befreiende Kraft der Sexualität“, hatte ironisch Harun Farocki
       in den 90ern angemerkt. Zwar nicht jeder, aber doch viele sexuelle Akte
       jener (märchenhaften) Zeit waren (auch) Übertretungsakte; Protestakte gegen
       Verbote, gegen Formen gesellschaftlichen Zwangsverhaltens.
       
       Die „„sexuelle Revolution“ war durchaus eine; jedoch mit weitaus geringerer
       Halbwertzeit als die radioaktive Strahlung. Sie nutzte sich schneller ab.
       Und erhielt – jedenfalls in ihrer Postulationsform als „freie Liebe“ – eine
       Art Todesstoß durch eine hinterhältige Attacke aus dem Reich des ganz und
       gar Unerwarteten. Neben vielen anderen Überraschungen des Liebeslebens half
       endgültig AIDS dabei, sich von Sex-Pol-Befreiungsträumen zu verabschieden.
       
       Wie auf so vielen anderen Feldern wurde Lagerbildung auch hier unmöglich.
       Die Krankheit Aids schließt Lagerbildung – hier „gute“, dort „schlechte“
       Sexualität“ – aus. Auch ist „Sexualitätsfeindlichkeit“ als Grundlage allen
       faschistischen Verhaltens heute kein allgemein geteiltes Theorem mehr. Zu
       groß ist die Zahl der real existierenden, bei uns erlaubten und glückhaft
       praktizierten Sexualitäten geworden.
       
       ## Akzeptierte Vielfalt
       
       Und die „Befreiungskraft“ des Sexuellen? Befreiende Kräfte aus der
       Sexualität können sich nur entwickeln, wo die Partner in etwa ebenbürtig
       und rechtlich gleichgestellt sind. In den meisten Weltkulturen und in so
       gut wie allen Weltreligionen haben Frauen keine Rechte über den eigenen
       Körper und auch sonst keine Stimme im öffentlichen Leben; dafür müssen sie
       ungeschützten Beischlaf über sich ergehen lassen. Befreiung durch
       Sexualität war/ist das Privileg bevorzugter kleiner Bevölkerungsgruppen in
       reichen Ländern.
       
       Die Sexualitäten sind nicht entlassen aus dem Katalog der Wege in ein
       lustvolleres, freieres Leben; aber ein Weg unter vielen. Der Abbau
       verbindlicher Normen hilft und öffnet neue Wege; Wege neuer
       Körpererfahrungen, die bei uns – primär – nicht (mehr) beschritten werden
       müssen unterm Hauptgesichtspunkt „Protest“. Akzeptierte Vielfalt
       „normalisiert“; womit nicht neue Normsetzung angepeilt ist. „Normal“ in
       einem zivilen Sinn müßte heißen, entspannt. Der Schülerzeitung Q-rage!
       entnehme ich allerdings, daß das Coming Out in puncto abweichender
       Sexualitäten im Klassenverband des Schulalltags immer noch beinah
       ausgeschlossen ist; ein, zwei FreundInnen werden „eingeweiht“, wenns hoch
       kommt. Die Generallinie heißt weiter: Verheimlichung. Günter Amendts
       „Sexfront“ ist, vor allem bei den Teens, immer noch eine Hauptkampflinie.
       
       ## Die Gewaltfrage
       
       Selbstverständlich ersetzen nicht einfach „neue“ Protestformen die „alten“.
       Das Alte geht (wie meistens) im Neuen weiter, aber mit verändertem
       Stellenwert. Blockupy, Attac, Greenpeace u.a. arbeiten weitgehend mit
       Formen der „alten“ Protestkultur; Blockaden, Massendemonstrationen oder
       gezielten, gut durchdachten Einzelaktionen mit großer
       Öffentlichkeitswirkung.
       
       Die Sprecherin der „Refugee-Bewegung“ in Deutschland, Napuli Paul: „Wir
       treffen uns jeden Sonntag und organisieren Proteste, machen Bustouren zu
       den Lagern und vernetzen uns mit anderen Gruppen. Wir arbeiten am
       Empowerment der Geflüchteten“. In dieser wie in vielen anderen sind alte
       und neue Formen des Protests miteinander verquickt.
       
       Die „Gewalt-Diskussion“ („gegen Sachen, ja“; „gegen Menschen, nein“ bzw.
       „gar keine Gewalt“), wird dabei nicht viel anders geführt als um 1969. Die
       Staaten schützen ihre Politiker mit Polizeiaufgeboten – bei der letzten G7
       in Elmau waren es knapp 20.000 Polizisten – oder sie schicken 30.000 zum
       Schutz ihrer Castor-Transporte.
       
       Selbstredend kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und
       Polizeien, es gibt Verhaftungen; es gibt, wie in Genua beim G8 kriminelle
       Übergriffe der Polizeien und/oder Geheimdienstler und einen erschossenen
       Demonstranten. Ein paar wenige Polizisten wurden verurteilt zu geringen
       Gefängnisstrafen. Die größeren Teile der Protestierenden bei solchen
       Anlässen versuchen heute aber eher, die direkte Gewaltauseinandersetzung zu
       vermeiden:
       
       ## Großarschlöcher aller Länder einigt euch!
       
       Besser, man wählt einen Herrn Teufel ab, als den Teufel an der Macht zu
       erschießen. Nicht mehr Guerilla, auch nicht Spaßguerilla. Die anstehenden
       Probleme sind zu ernst. Keine Witze mit abschmelzenden Polkappen! Sondern
       Pariser Konferenzen mit ernsthaftestem Kulissen-Ringen: „der Versuch, ohne
       eine Weltregierung die Welt zu regieren. 195 Länder sollen einen Konsens
       finden, die sich sonst nicht über den Weg trauen“ ([1][Bernhard Pötter]).
       
       Die heutige Protestkultur will vor allem eins: dass die Großarschlöcher
       aller Länder sich endlich einigen auf einige Erd-Erhaltungsbeschlüsse, die
       Allen nützen. Sogar die Religionen (in den 70ern totgeglaubt und totgesagt)
       dürfen helfen; wenn sie es (endlich!) fertigbringen, die Großarschlöcher an
       ihren Spitzen von ihren gottlosen Überzeugungen zu heilen. Doch benutzen
       sie dabei andere Wörter zur Bezeichnung dieser „Spitzen“, als ich hier. Zu
       Recht. Hallelujah. Amen.
       
       23 Apr 2016
       
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