# taz.de -- Buch über Reichstagsbrand: Brandstifter und Brandbeschleuniger
       
       > Benjamin Carter Hetts hat den Reichstagsbrand untersucht. Er zeigt, wie
       > sich einseitige Ermittlungen nach dem Krieg fortsetzten.
       
 (IMG) Bild: Das Parlament ist zurück. Die Fragen bleiben
       
       Am 27. Februar 1933 zwischen 20.55 und 22 Uhr war der Reichstag
       menschenleer. Der Postbote sollte um zehn vor neun das Gebäude verlassen,
       die erste Runde des Nachtwächters war für zehn Uhr abends vorgesehen.
       
       Zwischen 21.05 und 21.10 Uhr, so die Erinnerung des zuständigen Polizisten,
       sei ein Zivilist aufgeregt auf ihn zugekommen und habe das Klirren einer
       Scheibe sowie einen Lichtschein gemeldet. Bald darauf drang Feuerschein aus
       dem Innern des Gebäudes. Gegen 21.18 Uhr traf die Feuerwehr ein. Doch der
       Brand breitete sich weiter aus. Keine zehn Minuten später wurde im Innern
       des Gebäudes der Niederländer Marinus van der Lubbe entdeckt und
       festgenommen.
       
       So weit die Fakten. Wer aber war wirklich verantwortlich für diesen
       Großbrand, und warum wurde die Tat begangen? War van der Lubbe ein
       Einzeltäter, wie das die bundesdeutsche Geschichtsschreibung nahelegt? Oder
       hatten in Wahrheit die Nazis den Brand selbst entfacht, wie es das
       „Braunbuch“ schon 1933 anregte?
       
       Diese Fragen sind keineswegs akademischer Natur. Denn der Reichstagsbrand,
       geschehen einen Monat nachdem Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden
       war, markiert das Ende der Weimarer Demokratie. Bis dahin hatten die
       Nationalsozialisten in einer Koalition regiert, bei der die Nazis nur den
       kleineren Teil der Kabinettsmitglieder stellten. Bis dahin konnten die
       Parteien noch legal arbeiten, wenn auch unter den vielfältigen Drohungen
       des neuen Regimes. Reichspräsident Hindenburg hatte für den 5. März
       Neuwahlen festgelegt.
       
       Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand aber gab es keinen Rechtsstaat mehr.
       Die verfassungsgemäßen Grundrechte wurden außer Kraft gesetzt. Tausende
       angebliche und tatsächliche Kommunisten gerieten in Haft. Die ersten
       Konzentrationslager entstanden. Presse- und Meinungsfreiheit, die
       Unverletzlichkeit der Wohnung, die Unabhängigkeit der
       Strafverfolgungsorgane – all dies verschwand über Nacht. Die Wahl vom 5.
       März war nur mehr eine Farce.
       
       Deshalb ist die Frage nach den Tätern des Reichstagsbrands von
       entscheidender Bedeutung. Folgt man dem einen Narrativ, nach dem Lubbe
       allein die Verantwortung trug, dann war Deutschland quasi in die Diktatur
       hineingestolpert. Dann waren die Nazis zumindest in diesem Punkt
       unschuldig. Hängt man der gegenteiligen These an, nach der es die Nazis
       selbst waren, die das Fanal zur Zerstörung der Demokratie gelegt hatten,
       dann hätten die Nationalsozialisten selbst von Beginn an planvoll diesen
       Untergang herbeigeführt.
       
       ## Spannend wie ein Krimi
       
       Die Debatte um die Deutungshoheit über diesen Brand, ausgetragen in den
       frühen Jahren der Bundesrepublik, zählt inzwischen selbst zur Geschichte.
       Es ist ein Thema voller Lügen und Intrigen, Fälschungen und Erpressung –
       verhandelt lange Jahre nach 1945. Benjamin Carter Hett hat eine voluminöse
       Studie vorgelegt, die jetzt in deutscher Sprache erschienen ist. Es
       bedurfte angesichts eines erbitterten Streits offenbar eines
       US-amerikanischen Historikers, um diese Debatte in sachlicher Form
       wiederaufzunehmen. Das Zeugnis, das Hett dabei der bundesdeutschen
       Geschichtsschreibung ausstellt, fällt vernichtend aus.
       
       Hetts spannend wie ein Krimi geschriebenes Buch besticht durch akribische
       Recherchen, nach denen vieles gegen die Einzeltäterthese spricht,
       angefangen mit den brandtechnischen Gutachten, die eine so rasche
       Ausbreitung des Feuers ohne den Einsatz von Brandbeschleunigern als nicht
       möglich erachten. Der Autor sucht nach Methoden der Nazis vor deren
       Machtübernahme, wie sie ihre politischen Gegner mittels geschickter
       Propaganda angriffen – und findet den Berliner Gauleiter Joseph Goebbels.
       
       Der Historiker erinnert daran, dass die SA vor 1933 eine Truppe unterhielt,
       die auf Brandstiftungen spezialisiert war. Er führt der Tat verdächtige
       SA-Männer an, die zum größten Teil schon bald nach 1933 nicht mehr unter
       dem Lebenden weilten. Detailliert folgt Hett den polizeilichen Ermittlungen
       und dem Prozess gegen van der Lubbe, den KP-Mann Ernst Torgler und drei
       bulgarische Kommunisten, der mit dem für die Nazis peinlichen Freispruch
       für die Kommunisten endete, Lubbe aber den Tod durch die Guillotine
       brachte.
       
       Auch wenn Hett als Skeptiker den Hinweisen auf die Ungereimtheiten der
       Argumentation über die Alleintäterschaft Lubbes breiteren Raum gibt, so ist
       er doch weit davon entfernt, einseitig – und wie für die deutsche
       Geschichtsschreibung typisch – nur im Sinne seiner These zu argumentieren.
       Das beginnt schon bei der Untersuchung des „Braunbuchs“ des nach Paris
       geflohenen kommunistischen Pressezaren Willi Münzenberg, dessen Thesen zum
       Reichstagsbrand er misstraut.
       
       ## Unangenehme Wahrheiten
       
       Vor allem aber ist Hetts Buch eine Auseinandersetzung mit der
       Nachkriegsgeschichtsschreibung in der Bundesrepublik. Da geraten
       unangenehme Dinge wieder ans Tageslicht, angefangen mit der Rolle des
       Spiegels, der sich Ende der 1950er Jahre willfährig zum Organ eines
       dubiosen niedersächsischen Verfassungsschützers machen ließ. Diesem Fritz
       Tobias gelang es in der Folge, die Deutungshoheit über die Hintergründe des
       Reichstagsbrands auf Basis von Gestapo-Zeugen zu erlangen. Und diese
       lautete: Van der Lubbe war ein Einzeltäter. Ein Betriebsunfall also. Hett
       schreibt: „Das Verdrehen von Tatsachen, das Entstellen der Wahrheit, das
       erinnert durchaus an einen seiner [Tobias’] Freunde, an den notorischen
       Holocaust-Leugner David Irving.“
       
       Das ganze Gebräu aber passte perfekt in die Weltsicht der Adenauer-Jahre,
       in der ehemalige Gestapo-Beamte ihre Sicht der Dinge, die
       selbstverständlich deren vollkommene Unschuld nicht nur beim Brand des
       Reichstags zum Kern hatte, ohne Probleme unters Volk bringen konnten.
       Währenddessen wurde den überlebenden Opfern unterstellt, sie seien aufgrund
       der erlittenen Verfolgungen nicht zu einem objektiven Urteil fähig.
       
       Fairness ist ein Begriff, den die bisherigen Debatten zum Reichstagsbrand
       vermissen ließen. Hett ist fair, kann es wohl auch sein, weil er nicht Teil
       der bundesdeutschen Historikerzunft ist – anders als der kürzlich
       verstorbene Hans Mommsen vom Institut für Zeitgeschichte, dessen Aufsatz
       von 1964 Tobias’ Darstellung vertraute und diese so zum gültigen Narrativ
       in der Bundesrepublik gemacht hat. Hett verzichtet auf jegliche Polemik
       gegen Mommsen und unterstreicht dessen große Verdienste, bleibt aber dabei,
       dass sich Mommsen hier nicht nur geirrt hat. Denn zugleich deckt er eine
       schier unglaubliche Erpressungsgeschichte gegen das Institut durch Tobias
       auf, der damit gedroht hatte, die NSDAP-Mitgliedschaft des Institutsleiters
       öffentlich zu machen.
       
       Die Schlussfolgerungen in diesem Buch sind eines großen Historikers würdig.
       Wo andere mit dem Thema befasste Autoren zu gusseisernen Wahrheiten neigen,
       da belässt es Benjamin Carter Hett bei begründeten Vermutungen. Er hegt
       größte Zweifel an der Einzeltäterthese.
       
       Hett vermutet eine Mittäterschaft in der SA und verweist auf einen engen
       Personenkreis innerhalb der Berliner Braunhemden, hütet sich aber davor,
       innerhalb der NS-Hierarchie konkrete Personen als Verantwortliche zu
       benennen – weil es an Indizien mangelt. Zugleich gesteht Hett ein, dass
       auch er letztlich nicht schlüssig klären kann, wieso die Nazis ausgerechnet
       auf den labilen und sehbehinderten Niederländer van der Lubbe als
       vorgeschobenen kommunistischen Brandstifter verfallen sein sollten.
       
       Damit sollte eine neue Debatte eröffnet sein.
       
       27 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Hillenbrand
       
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