# taz.de -- Terrorangriffe gegen das Leben: Paris, Brüssel, Bagdad, Nizza
       
       > Die Anschläge trafen Orte, an denen junge Leute und Familien das Leben
       > feiern. Der Wahhabismus sollte auf die Terrorliste der UN gesetzt werden.
       
 (IMG) Bild: Die Botschaft des Terrors ist angekommen: Das Leben soll keinen Platz in unserer Welt haben
       
       Eine weitere blutige Samstagnacht. Fast könnte man meinen, die Attentäter
       von Anfang Juli im Irak hätten zwei Hauptstädte vereinen wollen: Paris und
       Bagdad, zwei Hauptstädte, die Tausende von Kilometern trennen und die jetzt
       in Unglück und Blut vereint sind. 130 Tote und 383 Verletzte, so die
       Schreckensbilanz der Angriffe von Paris, 250 Tote und mehr als 220
       Verletzte, dies das fürchterliche Ergebnis des Anschlags von Bagdad. Und
       das, bevor die Terroristen 12 Tage später einen weiteren blutigen Anschlag
       ausübten. Diesmal in Nizza, Bilanz: 85 Tote, zahlreiche Verletzen, Tendenz
       steigend.
       
       Terror, Tod und Morde sind schwer miteinander zu vergleichen. Aber was sich
       in der Samstagnacht des 2. Juli in Bagdad ereignet hat, zwei Tage vor Ende
       des Fastenmonats Ramadan, quasi als Feiertagsgeschenk an die Iraker, muss
       uns andere blutige Ereignisse in Erinnerung rufen, die andere Städte auf
       der Welt heimgesucht haben, an erster Stelle Paris. Noch bevor der Anschlag
       in Nizza erfolgte, oder der Anschlag von Brüssel zuvor.
       
       Und das nicht nur, weil der Anschlag von Bagdad der bislang schwerste in
       diesem Jahr war, und nicht nur aufgrund der Vielzahl von Opfern, die
       zumeist sehr jung und in ihren Zwanzigern waren, oder der Läden und
       Fahrzeuge, die in der Nähe des Explosionsortes in Flammen aufgingen,
       sondern vor allem wegen des von den Tätern gewählten Ziels: das
       Stadtviertel Karrada mit seiner von Einkaufspassagen gesäumten Hauptstraße.
       
       Hier befindet sich eine der größten Shoppingmalls von Bagdad, das
       Al-Laith-Center, eine dreigeschossige Passage nach europäischem oder
       amerikanischem Vorbild. Sie war immer gut besucht und beherbergte ein
       internationales Angebot an Markenartikeln, ausgefallene Boutiquen,
       Parfümerien, Geschäfte für Haushaltsartikel, Taschen, Schuhe – einfach
       alles, wonach das Herz begehrt, Spielmöglichkeiten für Kinder und eine
       Vielzahl moderner Restaurants und Cafés inbegriffen.
       
       ## Plastiksprengstoff des „IS“
       
       Die verheerend große Zahl von Opfern in Bagdad nimmt von daher nicht
       Wunder. Sie fielen dem sogenannten C4-Sprengstoff zum Opfer, ein
       Plastiksprengstoff, von dem die Terroristen bei ihrer Schreckenstat
       mutmaßlich eine halbe Tonne verwendeten.
       
       Die Straße vor dem Einkaufszentrum war bis vor einiger Zeit noch für
       Fahrzeuge gesperrt, gehörte aber zuletzt zu denen, die seit der
       Regierungsübernahme durch Premierminister Haider al-Abadi für den Verkehr
       geöffnet wurden.
       
       C4 ist ein formbarer Plastiksprengstoff von hellgrauer Farbe. Er kann nicht
       einfach durch Feuer, Elektrizität oder starke mechanische Einwirkungen zur
       Explosion gebracht werden, es bedarf einer eigenen, direkten Zündladung. C4
       ist ein sehr effektiver, leicht zu handhabender und häufig militärisch
       verwendeter Plastiksprengstoff. In der aktuellen Strategie des sogenannten
       „Islamischen Staates“ spielt er eine wichtige Rolle, um Menschenmengen an
       ökonomischen Ballungszentren wie in Karrada anzugreifen.
       
       Der Stadtteil Karrada ist das pulsierende Herz Bagdads. Und das nicht erst
       in jüngster Vergangenheit, sondern schon früher. Insbesondere das auf einer
       durch den Tigris gebildeten Halbinsel gelegene innere Karrada ist Shopping-
       und Ausgehzentrum der Stadt, das äußere Karrada oder Karrada Maryam wird
       dominiert durch den Palast der Republik und weitläufige Grünanlagen. Ein
       Konkurrent ist vielleicht noch der im Westen Bagdads gelegene Stadtteil
       Al-Mansur mit seiner sunnitischen Bevölkerungsmehrheit, ebenfalls berühmt
       für seine Einkaufszentren und Vergnügungsstätten, weshalb auch einige
       ausländische Botschaften (unter anderem die deutsche) sich dort angesiedelt
       haben.
       
       ## Die ersten Clubs der Stadt
       
       Aber die unmittelbare Nachbarschaft Karradas zum Stadtzentrum von Bagdad
       und zur Corniche des Tigris haben dem Viertel von alters her eine
       Sonderstellung beschert. Hier gründeten die Engländer ihre ersten Clubs in
       der Stadt, den Alwiyah-Club zum Beispiel, am Al-Andalus Square gelegen, ein
       ebenso altehrwürdiger Club wie der benachbarte Hindiyah-Nachtclub. Beide
       wurden von den Briten ins Leben gerufen, als sie in den zwanziger Jahren
       ihre Clubtradition nach Bagdad brachten. Zutritt und Mitgliedschaft in
       diesen Clubs waren allerdings an strenge Auflagen geknüpft: Zum einen
       musste man der Oberschicht angehören und zum anderen Christ sein. Einige
       diplomatische Vertretungen befinden sich auch heute in Karrada, darunter
       die französische Botschaft.
       
       In den siebziger Jahren, während meiner Studienzeit an der Universität von
       Bagdad, war Karrada Ziel unserer Ausflüge und Abendgesellschaften. Mit
       seinen Restaurants und Bars und den Literaten- und Künstlerclubs, dem
       Schriftstellerclub im Unionspark etwa oder dem Garten der
       Musikervereinigung. Auch die Hotels, in denen ich auf meinen letzten Reisen
       logierte, befinden sich sämtlich in Karrada. Und wenn ich bei diesen
       Gelegenheiten abends mit Freunden ausging, dann zumeist in den Apotheker-,
       Ingenieurs- oder Ärzteclub (alle drei liegen direkt am Ufer des Tigris).
       
       Junge Leute kommen aus allen Ecken und Enden Bagdads, um den Abend und die
       Nacht in Karrada zu verbringen. Als bei meinem letzten Besuch in Bagdad im
       vergangen Jahr ab Mitternacht die Ausgangssperre galt, feierten in
       Nachtclubs, Kaffeehäusern und Bars die (zumeist jungen) Gäste bis fünf Uhr
       in der Früh einfach weiter, bis die Ausgangssperre am Morgen nicht mehr
       galt. Wohl leben in Karrada mehrheitlich Schiiten und Christen, aber das
       Viertel wird nach wie vor auch von einer ganzen Reihe sunnitischer Familien
       bewohnt.
       
       Die jungen Besucher dieses pulsierenden Stadtteils stellen eine bunte
       Mischung aller Schichten und Konfessionen dar. In den Restaurants und Clubs
       arbeiten vermehrt auch junge Frauen als Servicekräfte – ein Phänomen, das
       ungeachtet des Widerstands konservativer Glaubensvertreter in Bagdad und
       Städten wie Basra zugenommen hat. Mit einem Wort: Karrada und insbesondere
       seine Amüsiermeile sind ein Paradies, wo junge Leute gerne ihre Zeit
       verbringen.
       
       ## Sie lassen es sich gut gehen
       
       Und natürlich ist während des Ramadan die Zahl der Besucher noch größer,
       insbesondere während der Stunden nach dem Fastenbrechen, wenn ganze Familie
       nach Verkündigung des Fastenendes in die Malls strömen, um in den
       Restaurants zu speisen und bis spät in die Nacht zu bleiben. Denn dies ist
       Tradition im Fastenmonat Ramadan, vor allem bei Familien aus der
       Mittelschicht: Man bleibt die ganze Nacht auf bis zum Morgengrauen, um
       zusammen die Morgenmahlzeit einzunehmen, bis mit Sonnenaufgang das Fasten
       von Neuem beginnt.
       
       In der Nacht von Samstag auf Sonntag vor jetzt drei Wochen, am 2. Juli,
       haben diese Familien nichts anderes getan, als es sich gut gehen zu lassen
       und ihre Bräuche zu leben, die sie seit Generationen pflegen. Sie haben
       sich nicht um die Bedrohung durch den Terror geschert und Autobomben und
       Morden den Rücken gekehrt. Woher auch hätten sie wissen sollen, dass ein
       vom wahhabitischen Islam indoktrinierter Killer einen Tanklaster mit C4
       präpariert hatte, mit dem er den ganzen Tag darauf wartete, dass die Sonne
       unterging und die Menschen mit der feierlichen Einnahme der ersten Mahlzeit
       nach dem Fastenbrechen beginnen würden, um dann – gefangen in seinem Hass –
       seine Ladung vor dem großen Einkaufszentrum in die Luft zu jagen.
       
       Er wollte damit nicht nur eine möglichst große Zahl von Schiiten in den Tod
       reißen, sondern auch diesem Vergnügungs- und Ausflugszentrum einen
       tödlichen Schlag verpassen. Dem Ort, an dem das Leben und alles Schöne
       gefeiert wurde, einem Treffpunkt, der Frauen und Männer, Menschen
       verschiedenster Glaubensrichtungen und Altersgruppen verband.
       
       ## Gegen das Leben
       
       Vorgestern Paris und das Theater Bataclan, gestern das Viertel Karrada in
       Bagdad und heute Nizza. Die Botschaft des Terrors ist angekommen: Das Leben
       soll keinen Platz in unserer Welt haben, egal ob wir in Europa oder dem
       Irak sind, egal ob in Nizza, Paris oder Bagdad. Als die Attentäter von
       Paris das Bataclan stürmten, eröffneten sie das Feuer wahllos auf junge
       Konzertbesucher und nahmen diese im Angesicht des Todes stundenlang als
       Geiseln. Als vor dem Al-Laith Center der Tanklaster explodierte, schlossen
       die Flammen die Menschen darin fünf geschlagene Stunden ein. Die nicht
       gleich von der Bombe zerrissen wurden, verbrannten in der Hölle des C4.
       
       Das Böse ist wie das Morden letztlich ein Instinkt, ein soziologisch schwer
       zu beschreibender innerer Trieb. Das Gute hingegen ist genau wie der
       Frieden Idee und Überzeugung, ist eine durch Sensibilität gewonnene
       Haltung. Man muss, wenn man den Terror in Europa verurteilt, auch die
       Stimme gegen Terror an jedem anderen Ort auf der Welt erheben. Und man
       sollte jene Staaten beim Namen nennen, die es Terrororganisationen
       gestatten, das Blut unschuldiger Menschen zu vergießen, wie es die
       saudi-arabische Staatsideologie des Wahhabismus tut. Wäre es nicht endlich
       an der Zeit, auch nach dem Anschlag von Nizza, dass die Vereinten Nationen
       die saudisch-wahhabitische Entstellung des Islam auf ihre Terrorliste
       setzen?
       
       Wir blicken auf den Tod und wissen: Es bleibt uns keine andere Hoffnung im
       Leben als der Frieden.
       
       Aus dem Arabischen von Markus Lemke
       
       20 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Najem Wali
       
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