# taz.de -- 25 Jahre Putsch in Moskau: Kaviar als Notration
       
       > 1991 verteidigten die Moskauer ihre neuen Freiheiten gegen Hardliner des
       > Sowjetsystems. Der imperiale Erbe der Putschisten ist heute Präsident.
       
 (IMG) Bild: 19. August 1991 vor dem „Weißen Haus“ in Moskau
       
       MOSKAU taz | Gegen halb sieben in der Früh klingelt das Telefon. „Hast du
       schon gehört? Gorbatschow krank, abgesetzt, ein Komitee will die Macht
       übernommen haben . . .?“, fragt die Freundin, die mit Politik nie viel am
       Hut hatte. Ungläubig schalte ich das Radio an. Tatsächlich, auf dem Sender,
       den ich meist höre: Funkstille.
       
       Auf den anderen drei russischen Wellen ist eine monotone Stimme zu
       vernehmen: „Landsleute, Bürger der Sowjetunion. Eine tödliche Gefahr
       schwebt über unserem großen Heimatland [. . .] dieses sind erzwungene
       Maßnahmen, die das lebenswichtige Bedürfnis diktiert, die Wirtschaft vor
       dem Ruin zu retten, Hunger abzuwenden und die Eskalation der sich
       ausbreitenden Bürgerkriegszustände zu verhindern . . .“
       
       Im Fernsehen, auf allen Kanälen, setzen die Ansager die professionelle
       Trauermine der Partei auf. Als gelte es den Tod des Generalsekretärs der
       sowjetischen Kommunistischen Partei zu beklagen oder einen Machtwechsel
       würdevoll einzuleiten. Dreimal hatten die Sowjetbürger in 1980er Jahren das
       erlebt. Breschnew, Andropow, Tschernenko. Und nun auch der aktuelle
       Parteichef und Reformer Michail Gorbatschow?
       
       25 Jahre ist das nun her. Und doch ist es gerade jetzt hochaktuell und
       nützlich, noch einmal auf den gescheiterten Putsch zurückzublicken. Denn
       die Hardliner, die sich damals gegen die neue Zeit, gegen eine Öffnung zur
       Welt und gegen den Aufbruch der Gesellschaft sträubten, haben am Ende wohl
       doch noch einen Sieg davongetragen.
       
       ## Arbeiter und Bauern sollen für alles geradestehen
       
       Heute, ein Vierteljahrhundert später, ist ihr ressentimentgeladenes
       Beleidigtsein Staatsdoktrin geworden. Seither ist die russische
       Dolchstoßlegende gereift, die den Niedergang und Zerfall von Kommunismus
       und Sowjetimperium der Hinterlist des Westens zuschreibt. Kühle Analysen
       kommen dagegen nicht an. Wer Putins Russland verstehen will, muss sich auf
       diese Pathologie einlassen.
       
       Am Morgen des 19. August 1991 schlugen sie zu. Das „Staatliche Komitee des
       Ausnahmezustands“ – „G.K.Tsch.P.“ hieß diese Ansammlung von Konsonanten im
       Russischen – erklärte, es habe „in Beantwortung der Wünsche der
       Werktätigen“ die Macht übernommen. Wieder einmal sollten Arbeiter und
       Bauern für alles geradestehen.
       
       Sprachlich erinnerte das GKTschP an andere Institutionen des sowjetischen
       Herrschaftsapparats – von der Tscheka über den NKWD bis zum KGB, wie die
       sowjetische Geheimdienste in historischer Abfolge hießen. Ansonsten – und
       das war auffällig – vermied das Komitee die Floskeln des sowjetischen
       Vulgär-Marxismus-Leninismus.
       
       Stattdessen gab es sich populistisch mit einem Schuss Autoritarismus. Die
       Putschisten, eine Gruppe konservativer Parteikader, die sich an ihren
       Posten, Privilegien und der Kommandowirtschaft festklammerten, bauten auf
       Vorurteile in der Bevölkerung. Deren Gefühl, Bürger einer Großmacht zu
       sein, war schon damals angeschlagen.
       
       ## Wir haben sie nicht ernst genommen
       
       Nun warnte man ausdrücklich vor westlichen Einflüssen. Wer sich etwa auf
       Hilfe „von außen“ verlasse, sei ein „unverantwortlicher Mensch“. Als einzig
       gangbarer Weg erschien der des russischen Isolationismus. Marktwirtschaft
       und Egoismus waren Synonyme moralischen Verfalls.
       
       Seit Gorbatschows Reformprogramm waren solche Töne nur noch in Zirkeln
       Ewiggestriger zu hören. So schien es damals jedenfalls. Nach dem Putsch
       formierten sich diese Kreise zu rotbraunen Kräften von ungeahnter
       Pluralität. Das demokratische Spektrum belächelte sie. Auch wir westliche
       Journalisten nahmen sie nicht wirklich ernst.
       
       Ein Jahrzehnt nach dem Scheitern des Putsches zog mit dem Geheimdienst
       diese Sicht der Welt in den Kreml ein. Anfangs fehlte die Selbstsicherheit,
       mit der sich der Kreml heute zur moralischen Instanz eines „Dritten Roms“
       aufschwingt. Wer hinhörte, konnte es jedoch hören.
       
       Am Mittag des 19. August kletterte Russlands Präsident Boris Jelzin auf
       einen der Panzer, die vorm Parlament in Moskau in Stellung gegangen waren.
       Jelzin war ein Volkstribun. Das Volk liebte ihn damals noch – anders als
       den Zauderer Gorbatschow, der die Welt radikal veränderte, aber auch die
       KPdSU und Russlands imperiale Zukunft retten wollte. Die Menschen standen
       in den Geschäften vor leeren Regalen. Sie waren enttäuscht und wütend und
       zogen sich wieder aus der Politik zurück.
       
       ## Ein Blutbad war nicht auszuschließen
       
       Wir Valutabesitzer hatten Glück. Ich hatte zuvor günstig einen großen
       Bottich mit schwarzem Kaviar erstanden. Brot gab es noch. Der Kaviar als
       Notration ersetzte meinem Sohn über die Putsch-Tage die Babynahrung.
       
       Jelzin verlas vom Panzer herunter das Dekret gegen die Junta – so wie Lenin
       1917 sich vom Eisenbahnwaggon mit der revolutionären Botschaft an die
       Massen wandte. Vorher streckte Jelzin dem jungen Soldaten aus der
       Panzerluke noch die Hand entgegen. Er nahm sie und lachte. Erleichterung.
       Jelzin beherrschte die Symbolik. Dass er den Häschern des Regimes am Morgen
       entkommen war, verstärkte den Mythos des Meuterers aus den Reihen der KP.
       
       Dennoch blieb die Lage ernst. Ein Blutbad war nicht auszuschließen. Am
       Nachmittag stellten sich fünf der acht Mitglieder des
       GKTschP-Notstandskomitees der Presse. Die handverlesenen Journalisten
       stammten zumeist von parteinahen Medien. Der Saal bebte vor Lachen, als der
       neue Interimschef Gennadi Janajew sich bei den Fragen nach dem Verbleib
       Präsident Gorbatschows wand, bis er selbst lachen musste. Oder wenn der
       Verteidiger der Kolchoswirtschaft, Wassili Starodubzew, seine Teilnahme
       damit begründete, dass er einfach nicht ablehnen konnte. Die Hände des
       Interimschefs zitterten. All das passierte die Zensur des Staatsfernsehens
       unredigiert.
       
       Als der Spuk zwei Tage später zu Ende war, fand man Janajew betrunken im
       Büro. Starodubzew versteckte sich in den Feldern einer Kolchose.
       
       ## Sie waren die freiesten Menschen
       
       Zu Tausenden strömten Verteidiger am 19. August vor das Weiße Haus. Die
       Stimmung war verhalten. Viele junge Menschen waren darunter, die sich
       vorher aus dem öffentlichen Leben ausgeklinkt hatten. Sie kamen, um sich
       nicht wieder die Freiheit nehmen zu lassen, über das eigene Leben selbst zu
       entscheiden. In den drei Tagen des Widerstands waren sie die freiesten
       Menschen, die die russische Geschichte jemals gesehen und zugelassen hatte
       – das Traumbild russischer Literatur.
       
       Die Verteidiger und Demokraten gewannen diesen Konflikt, ohne dass sich
       dadurch jedoch die Demokratie gefestigt hätte. Die Schöpfung eines neuen
       Systems kam nicht richtig in Gang. Die Institutionen blieben schwach.
       Autoritäre Systeme schwinden nicht über Nacht. Häufiger wechseln sie nur
       das Erscheinungsbild. Seltener wird Demokratie zur Alternative. Was wir für
       Aus- und Nachwirkungen des kommunistischen Systems hielten, fußt auf viel
       älteren Traditionen, nicht zuletzt an einem anderen Verständnis von Staat
       und Gesellschaft.
       
       Für den Untergang benötigte die Sowjetunion nicht mehr Zeit als das
       Zarenreich 1917 – drei Tage. Vom Rest des Landes fast unbemerkt. Seither
       gedeiht Russlands Dolchstoßlegende. Der Zusammenbruch der UdSSR ist in der
       Lesart des Kreml ein Werk des Westens und seiner russischen Handlanger –
       der demokratischen Opposition. Moskau zelebriert sich als Opfer. Unter
       Präsident Wladimir Putin mauserte sich dies zum Leitmotiv der Kremlpolitik.
       
       Damals ging Russland mit den Putschisten schonend um. Nach kurzer Haft
       wurden alle amnestiert. Auch darin blieb die Nomenklatura dem Prinzip treu,
       gegen eigene Leute nicht vorzugehen. Viele Verschwörer machten wieder
       Karriere: Schwindelerregend war der Erfolg Wladimir Krjutschkows. Der
       ehemalige Kopf des Notstandskomitees und Leiter des KGB stieg in den
       1990ern zum Berater des damaligen Geheimdienstchefs Wladimir Putin auf.
       
       Die Erinnerung schwindet. Umfragen zufolge kann nur die Hälfte der Bürger
       das Geschehen noch zuordnen. Vergessen ist der Siegestaumel. Viele wollten
       damals den 22. August neben dem 9. Mai, dem Sieg über Hitlerdeutschland, zu
       einem zweiten Feiertag erklären – zum Gedenken an den Triumph der
       Zivilgesellschaft über die Machthaber des alten Systems. Daran möchte der
       Kreml nicht erinnert werden.
       
       19 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus-Helge Donath
       
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       Jahres 1991. Auch die Putschisten kommen zu Wort und haben sich dafür in
       Schale geschmissen.