# taz.de -- Graphic Novel „Jäger und Sammler“: Dem Leben abgezeichnet
       
       > Cyril Pedrosas „Jäger und Sammler“ findet auf sensible Art die richtigen
       > Worte für das Unspektakuläre – und erinnert an Robert Altman.
       
 (IMG) Bild: Ein Zahnarzt steckt in der Midlife-Crisis
       
       Ein junger Indianer entdeckt eine Höhle, die voller Wandmalereien ist.
       Langsam scheint sich der Junge der Zivilisation zu nähern, nachdem er lange
       ganz auf sich allein gestellt war, einem Tiger entkommen ist und einen
       harten Winter überlebt hat.
       
       Die Kapitel von Cyril Pedrosas Graphic Novel „Jäger und Sammler“ werden
       jeweils mit einer – durchweg ohne Dialoge auskommenden – Episode um diesen
       Jungen eingeleitet, und unterteilen das Buch zugleich nach Jahreszeiten. Es
       ist eine Initiationsreise, die der junge Indigene durchlebt. Auf den ersten
       Blick erscheinen diese Abenteuer wie ein Fremdkörper in der ansonsten oft
       sehr realistisch anmutenden Szenerie der Graphic Novel. Zeichnerisch heben
       sie sich auch dadurch ab, dass sie auf Konturen verzichten und stilistisch
       – vor allem in puncto Dynamik – ihre Verwandtschaft zum Animationsfilm
       verraten. Comicautor Cyril Pedrosa wirkte nämlich in den 1990er Jahren als
       Animator an einigen Disney-Filmproduktionen mit.
       
       Pedrosa ist hierzulande ein Geheimtipp. Das liegt wohl daran, dass sich der
       1972 geborene Franzose mit sehr unterschiedlichen, dabei oft tiefsinnigen
       Werken wie der Todesparabel „Drei Schatten“ (2008) jeder Festlegung zu
       entziehen scheint. Dabei hat er es anfangs auch mit trivialeren Stoffen
       versucht, etwa mit der Serie „Ring Circus“ (erschienen bei Salleck
       Publications). In den „Auto-Bio“-Strips (2009, auf deutsch wie alle
       weiteren Titel bei Reprodukt) beschäftigte er sich selbstironisch mit
       seiner eigenen Öko-Obsession.
       
       In der Graphic Novel „Portugal“ (2011) erzählte er wiederum von der
       Schaffenskrise eines Comiczeichners, die ihn zu seinen (und Pedrosas
       eigenen) Wurzeln zurück nach Portugal treibt. Schon hier hat Pedrosa in
       bezaubernd eleganten und zugleich locker gezeichneten Bildern alltägliche
       Situationen beschrieben und ganz auf die dramatische Zuspitzung einer
       Handlung verzichtet. „Jäger und Sammler“ erinnert jetzt an den Film „Short
       Cuts“ von Robert Altman und die ihm zugrunde liegenden Erzählungen von
       Raymond Carver.
       
       Auch Pedrosa erzählt von diversen Schicksalen, die zunächst wenig
       miteinander verbindet. Ein Zahnarzt, geschieden, reich, steckt in der
       Midlife-Crisis und überwindet sie langsam durch Erlebnisse mit seiner
       Tochter und seinem Bruder. Ein alter Mann begreift, dass er nicht mehr an
       die linken Ideale glaubt, für die er einst politisch kämpfte. Und eine
       junge Frau, Camille, steckt nach dem Tode eines guten Freundes in der
       Sinnkrise. Von ihrem hart in der Hühnerfabrik verdienten Geld kauft sie
       sich eine Fotokamera, die sie inspiriert.
       
       Über Camille wird die Erzählung durch ihre Fotos zeichnerisch
       zusammengehalten. Sie wird ihren Apparat auf diejenigen Menschen richten,
       die nicht im Rampenlicht stehen, sondern einfach nur leben und ihre kleinen
       Geschichten zu erzählen haben. Immer, wenn Camille sie „einfängt“ (meist
       Passanten in der U-Bahn oder auf der Straße), blitzt auch deren innere
       Stimme auf. In einem ausführlichen inneren Monolog erzählen sie offen von
       dem, was sie gerade bewegt oder was ihnen Leid bereitet.
       
       Cyril Pedrosa gelingt so auf sensible Art, die richtigen Worte für das
       Unspektakuläre zu finden, sodass die Schicksale echt wirken und bewegen.
       Zeichnerisch erschafft er oft über mehrere Seiten gehende faszinierende und
       doch alltägliche Licht- oder Wetterstimmungen. Die differenzierten
       Farbkompositionen, meist Pastelltöne, passen sich genau den feinen,
       detailreichen Strichzeichnungen an. In den Momenten des Fotografierens wird
       Pedrosa besonders experimentell, spielt mit Positiv-Negativ-Effekten und
       den Möglichkeiten der Abstraktion. Das macht die Graphic Novel zu einem
       aufregenden visuellen Erlebnis – was fast im Kontrast zu den
       unspektakulären Begebenheiten steht, von denen sie handelt.
       
       Im Zusammenspiel von Bildern und Textpassagen entwickelt sich eine
       erstaunliche erzählerische Tiefe, auch, weil die zentralen Figuren durch
       das Durchleben persönlicher Krisen verbunden werden und subtile Wandlungen
       angedeutet werden, die sie aus ihren inneren Sackgassen zieht. Es scheint,
       als ob Cyril Pedrosa dem Leben selbst die Geschichten abgezeichnet hat. Auf
       336 Seiten treffen hier stimmungs- und gefühlsgeladene Bilder auf
       literarische Kraft, und das ist selten.
       
       10 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralph Trommer
       
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