# taz.de -- Räumung des „Dschungels“ steht bevor: Warten auf Tag X
       
       > Seit Jahren sammeln sich hier Migranten und Flüchtlinge, die nach
       > Großbritannien wollen. Jetzt soll das Lager bei Calais geräumt werden.
       
 (IMG) Bild: Container, Hütten, Zelte – der „Dschungel“ von Calais
       
       CALAIS taz | Eine seltsame Stille liegt über den Dünen. Das liegt nicht nur
       an dem planierten Streifen Brachland, der den Anfang des „Dschungels“
       markiert, des großen Container- und Hüttencamps am Stadtrand von Calais.
       Auch dahinter erscheint alles verlangsamt und leiser als gewöhnlich:
       Weniger Generatoren rattern, kein Geruch von Hühnchen und Curry liegt in
       der Luft, einige der selbst gezimmerten Restaurants sind bereits
       geschlossen.
       
       Es ist diesig, der Abend hängt voller Tröpfchen und voller Fragezeichen.
       Jungle finished, diese beiden Worte hört man allenthalben. Nur: Wann? Und
       was tun?
       
       Rund neun- bis zehntausend Männer, Frauen und Kinder aus vielen Ländern der
       Welt haben hier – in kurzer Entfernung vom Ärmelkanal, vom Hafen von Calais
       und von der Einfahrt in den Eisenbahntunnel – in den letzten Wochen und
       Monaten Unterschlupf gesucht, in der Hoffnung, irgendwie nach England zu
       gelangen.
       
       Nachdem die französischen Behörden bereits Ende Februar einen Teil des
       Camps niederreißen ließen, steht nun die große Räumung bevor.
       
       Ein Sudanese sagt, er werde wohl in eines der Aufnahmezentren gehen, auf
       die die Regierung die Menschen aus dem Dschungel verteilen will. Vielleicht
       wird er einen Asylantrag stellen, jedenfalls erst mal weg von hier, von der
       Kälte und Feuchtigkeit des Kanals, dessen Überquerung nahezu unmöglich
       geworden ist.
       
       ## „U.K.“ bleibt das Ziel
       
       Vor einem Bretterverschlag stehen zwei junge Afghanen in der Dämmerung.
       Eine Ahnung, wann die Bagger kommen, haben sie auch nicht. Sie kennen die
       Gerüchte, dass in diesen Tagen etwas passieren soll. Auf ihr Ziel aber hat
       all dies keinen Einfluss. Ihre Antwort: ein Schulterzucken, zwei
       Buchstaben: „U. K.“
       
       Die Unsicherheit hat im Lauf des letzten Freitags noch zugenommen.
       Angekündigt war ein Urteil des Verwaltungsgerichts im nahen Lille über den
       Eilantrag von Hilfsorganisationen. Die Räumung, die laut Präsident François
       Hollande vor dem Jahresende abgeschlossen sein soll, verletze demnach
       Grundrechte der Bewohner. Vor allem das Schicksal der vielen Minderjährigen
       im Dschungel müsse zuvor geklärt werden. Das Gericht nahm sich Zeit.
       Schließlich beschied man die Wartenden, eine Entscheidung werde erst nach
       dem Wochenende getroffen.
       
       Am Samstagmorgen sitzt Philippe Wannesson in einem Café an der
       Placed’Armes, wo gerade der Wochenmarkt stattfindet, und versucht Licht ins
       Dunkel zu bringen. Seit Jahren ist er in der Unterstützerszene von Calais
       aktiv. In dieser Zeit hat er einige provisorische Flüchtlingscamps kommen
       und gehen gesehen. „Klar ist nur, dass der Dschungel geräumt wird. 1.000
       Bereitschaftspolizisten aus ganz Frankreich sind für nächste Woche nach
       Calais beordert, dazu kommt Gendarmerie und lokale Polizei. Außerdem wissen
       wir von einer NGO, die in Abschiebezentren aktiv ist, dass man sich überall
       im Land auf die Ankunft von Migranten aus Calais vorbereitet hat.“ Auch die
       Helfer auf beiden Seiten des Kanals bereiten sich in diesen Tagen vor. Sie
       rufen zu Spenden auf und sammeln Rucksäcke, Schlafsäcke und Koffer ein.
       
       Der 17. Oktober – dieser Tag gilt als Tag X. Bis eine andere Nachricht
       auftaucht und in sozialen Medien die Runde macht: eine interne
       Urlaubssperre der Polizei für die kommende Woche soll aufgehoben worden
       sein. Nun wird der 24. als neuer Termin genannt. Bestätigt ist nichts.
       Welchem Duft also folgen in dieser verwirrenden Gerüchteküche?
       
       Philippe Wannesson ruft die Logik der Logistik zu Hilfe: „Sie wollen 2.000
       Menschen am Tag wegfahren, zu Aufnahmezentren oder Abschiebegefängnissen.
       Dafür brauchen sie 50 oder 60 Busse. Die stehen aber nur zur Verfügung,
       wenn Schulferien sind – also Ende Oktober.“
       
       Draußen im Dschungel, hinter dem Industriegebiet sieht es derweil nach dem
       üblichen Wochenendbetrieb aus. Zahlreiche Unterstützer sind aus England
       herübergekommen, an jeder Ecke parken Autos mit GB-Kennzeichen, und im
       Brachland am Eingang haben mobile Küchen und Erste-Hilfe-Stationen Stellung
       bezogen.
       
       ## Eine Gitarre ertönt
       
       Die Dschungel-Bewohner stehen in Schlangen davor, andere haben sich um
       provisorische Tische geschart, an denen Brettspiele aufgebaut sind. Jemand
       spielt Gitarre. Es ist einer dieser Momente, die gelegentlich die harten
       Kanten der Dschungel-Realität ein wenig abschleifen.
       
       Auch in seinen letzten Tagen offenbart dieses Camp seinen Mosaikcharakter.
       Es gibt Elemente, die schon immer zur Szenerie der Transitmigranten von
       Calais gehören: die weißen, mittelgroßen Plastiktüten, in denen die
       Hilfsorganisationen der ersten Stunde schon Essen ausgaben, als sich noch
       kaum jemals ein Volunteer aus den Nachbarländern hierher verirrte.
       
       Auch an diesem Mittag sieht man die Tüten mit Plastikschalen voll Reis und
       Gemüse in den Händen derer, die von der Ausgabestelle kommen. Zugleich sind
       da noch immer, auch kurz vor dem Ende, neue Ideen: ein Wassertank etwa, der
       die Aufschrift FIRE trägt und von Bewohnern und Helfern nun mit Kanistern
       gefüllt wird, nachdem eine Suppenküche in der Nähe unlängst in Brand
       geriet. Oben auf einem steilen Hügel wird unterdessen eifrig an einem
       hölzernen Turm gebaut, dem Jungle Belfry, der über die Dünen ragt wie der
       bekannte Glockenturm des Rathauses über das Stadtzentrum. Eine Flagge ist
       auch schon gehisst. Die trotzige Aufschrift: I Love Humanity.
       
       ## „Sie hat einen Onkel in England. Wer kann ihr helfen?“
       
       Wer näher hinsieht, dem fallen freilich die Helfer auf, die mit ihren
       Listen überall herumlaufen, um die Minderjährigen zu registrieren. Deren
       Schicksal ist zu einem heiklen Problem geworden zwischen Frankreich und
       Großbritannien, das gelöst werden soll, bevor der Dschungel dem Erdboden
       gleichgemacht wird.
       
       Kinder und Jugendliche mit Verwandten drüben haben Chancen, nach England zu
       gelangen – das hat auch ein Eritreer mittleren Alters gehört, der aufgeregt
       mit einem 16-jährigen Mädchen durch das Camp läuft. „Sie hat einen Onkel in
       England“, sagt der Mann. „Gibt es jemanden der ihr helfen kann?“
       
       Orsane Broisin kann das. Gemeinsam mit etwa 40 Kollegen ist die Anwältin,
       Mitbegründerin der Legal-Shelter-Rechtsberatung im Dschungel, schon seit
       dem Morgen unterwegs. Sie tragen schwarze T-Shirts mit der Aufschrift
       „Refugees Lawyer“ und haben zwei Blätter, die sie verteilen: eins mit
       rechtlichen Informationen für Menschen, die in einem Aufnahmezentrum
       landen, das andere für die, die bei der Räumung verhaftet werden. „Daneben
       sind wir aber vor allem mit Minderjährigen beschäftigt und
       Familienzusammenführung in Großbritannien“, sagt Orsane Broisin, nachdem
       sie dem Eritreer eingeschärft hat, das Mädchen am Montag zur Sprechstunde
       zu bringen.
       
       Die Zeit drängt. Am Montag, sagt Orane Broisin während einer schnellen
       Mahlzeit in einem afghanischen Restaurant, sollen 16 Jugendliche nach
       England gebracht werden. Im ganzen Camp aber sind es ungefähr 1.200, die
       bei einer Räumung besonders verletzlich seien. Einige Hundert sollen
       aufgrund von Familienbeziehungen legal nach England einreisen können. Um
       die anderen sorgen sich Anwälte und Kinderschutzorganisationen, zumal bei
       der Teilräumung im Februar mehr als 120 Kinder aus dem Dschungel spurlos
       verschwanden.
       
       ## Ein Ticket für die Fahrt nach London
       
       Einer, der nun auf legalem Weg nach England gelangen wird, ist der Afghane
       Milah Ahmad, der mit einem Bekannten am Nachbartisch sitzt. Dass er einen
       Onkel in London hat, wusste er. Was das bedeutet, fand er erst nach vier
       Monaten heraus, in denen er „jede Nacht“ vergeblich versuchte, auf die
       andere Seite des Kanals zu kommen. „Der Tunnel, Parkplätze, Tankstellen,
       ich habe alles probiert“, erzählt der 16-Jährige.
       
       Milad Ahmad kommt aus Kundus, er hat eine ruhige, leise Stimme und einen
       flauschigen Bart. In Afghanistan war er ein ambitionierter Boxer, und
       „boxen und studieren“ ist auch sein Plan für das Leben in England, das nun
       vor ihm liegt. Zwei Monate lang hat die gerichtliche Prozedur gedauert.
       Zurzeit ist sein Anwalt dabei, sein Ticket zu organisieren. Seine Freunde
       im Dschungel, erzählt er, versuchen dagegen weiterhin auf anderem Weg, ihr
       Ziel zu erreichen.
       
       Die Dschungel-Restaurants sind nicht nur sozial und kulinarisch wichtig,
       sondern auch ein Indikator für den Stand der Dinge. Wenn nun, wie vor
       einigen Tagen geschehen, das oberste Verwaltungsgericht Frankreichs
       beschließt, dass diese als brandgefährliche und unhygienische
       Sicherheitsrisiken geschlossen werden müssen, steht das Ende zweifellos vor
       der Tür.
       
       Wie es weitergeht? Restaurantinhaber Abdallah ist hin-und hergerissen. Mal
       tut er die Räumung als „Blabla“ ab, dann fragt er unvermittelt: „Was
       glaubst du, wann werden sie kommen?“ Nur um wenig später die Hoffnung
       wiederzuentdecken, zwischen zwei Bissen sozusagen. „Dann werde ich es halt
       von anderswo probieren. Es gibt doch so viele Häfen nach England! Nicht nur
       in Frankreich.“
       
       Darüber allerdings sind sich die Nachbarländer auch im Klaren. Und wie
       schon im Februar, als in Calais der erste Teil des Dschungels abgerissen
       wurde, wird Belgien nach dem Wochenende wieder Kontrollen an der Grenze zu
       Frankreich einführen.
       
       17 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tobias Müller
       
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